Vorwärts und (nicht) vergessen?

05. Februar 2022

Dieser Beitrag ist Teil der laufenden Debatte über Organisation und Strategie.

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Um den Horizont der Debatte zu erweitern, müssen wir uns erneut durch die geschichtlichen Erfahrungen hindurcharbeiten. Die historische Aufarbeitung hat der Gegenwartsanalyse voranzugehen, weil der Blick sonst durch einen verdinglichten Zugriff auf die Geschichte unserer Bewegung beschränkt bleibt. Ein solche Auseinandersetzung sollte nicht auf einen weiteren Mythos (der Partei, der Bewegung, der Räte), sondern auf ein wirkliches Verständnis der Vergangenheit zielen.

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“But once this history has been recovered, we are at liberty to offer judgement upon it.”

(E.P. Thompson)

Wie zu erwarten hat unser Beitrag Was tun in Zeiten der Schwäche? für einige Verwunderung und Widerspruch gesorgt, stellt er doch eine Revision zentraler, wenn auch wenig theoretisierter Vorstellungen innerhalb unseres Milieus dar. Die kritischen Repliken von Felix Klopotek sowie Aaron, Ruth und Stefan (fortan ARS) haben neben grundlegenden Differenzen auch einige Unklarheiten in unserem Text zu Tage befördert. Wir werden zunächst versuchen diese auszuräumen, insbesondere auch die Intention unseres Textes noch einmal zu verdeutlichen, um uns dann den Differenzen zuzuwenden. Dabei lässt es sich nicht vermeiden, auch den historischen Faden unserer Argumentation erneut aufzunehmen und unsere Reflexion auf Erfolg und Scheitern der revolutionären Sozialdemokratie genauer herauszuarbeiten. Darauf konzentrieren wir uns in diesem ersten Teil unserer Replik. In einem zweiten Teil, der in Kürze hier erscheinen wird, werden wir auf die allgemeineren theoretischen Fragen bezüglich des Parteibegriffs, des Programms und der Strategie eingehen. Daran anschließend wollen wir noch ein paar Überlegungen zur Gegenwart und den Fragen von Organisation und Strategie formulieren.

Garantieformeln und Beweislastumkehr

Ein interessantes Detail der Kritiken an unserem Text besteht darin, dass uns geradezu konträre Vorwürfe gemacht wurden. Felix Klopotek wittert als hintergründige Motivation unseres Textes die Suche nach einer „Garantieformel“, wie die episodenhaften revolutionären Kampfzyklen, die der Kapitalismus immer wieder aus sich hervortreibt, auf Dauer gestellt werden könnten.1 Während er die uns unterstellte Suche nach einer solchen Garantie für schwerste Ketzerei hält, fordern ARS von uns allerdings eine solche ein. Sie sehen die „Beweislast, dass die Partei (langfristig) eine positive Rolle im Prozess sozialer Revolution spielen kann“2 auf unserer Seite und wollen unseren Thesen scheinbar erst dann einen positiven Gegenvorschlag entgegenstellen, wenn wir die „historischen Erfahrungen und … staatstheoretischen Einsichten“ unseres Milieus zu ihrer Zufriedenheit erschüttert haben. Intention unseres Textes war es allerdings gerade, „einige revolutionstheoretische Grundannahmen, die in unserem Milieu vorherrschen“, herauszufordern. Der Trick der Beweislastumkehr führt nun allerdings dazu, dass eine Seite in der Debatte glaubt, die eigenen, positiven Vorstellungen erst gar nicht ausformulieren zu müssen.

Der gleiche Trick ermöglicht es auch, unseren Text an einem anderen Maß als die eigenen Argumente messen zu können. Während uns von allen Seiten der Vorwurf gemacht wurde, unsere Vorschläge seien vage, ungenau und mystisch, und beispielsweise von ARS immer wieder historische Konkretion von uns verlangt wurde, schweben die eigenen Bestimmungen von Organisation und Strategie in einer schwer greifbaren Abstraktionshöhe. Exemplarisch sei dafür eine Stelle von ARS zitiert:

„Gerade weil es bei der sozialen Revolution um einen gesellschaftlich umfassenden Prozess geht, scheint uns bereits die Vorstellung, eine bestimmte Organisation oder Organisationsform könne ihn entscheidend voranbringen, problematisch. Das heißt nicht, dass wir Organisationen ablehnen oder jegliche Programmatik für überflüssig oder gar gefährlich halten – keine Organisation kommt ohne eine gewisse Programmatik aus –, sondern vielmehr, von der Notwendigkeit unterschiedlicher Organisationsformen auszugehen, die jeweiligen Zwänge und Widersprüche zu reflektieren, in die sie verstrickt sind, und die Fallstricke mitzudenken, die mit der praktischen Umsetzung der jeweiligen Forderungen zusammenhängen.“

Diese Passage stellt noch den konkretesten positiven Gegenentwurf zu unserem dar. Irgendwie Organisation, aber nicht eine, sondern viele. Irgendwie Programmatik, aber nur eine gewisse. Irgendwie Forderungen (an wen eigentlich?), aber auf jeden Fall immer die Fallstricke reflektieren. Demgegenüber erscheint uns die fragmentierte Vielheit von Organisationsformen gerade als Ausweis der Schwäche der Klasse: Hier ein Sportclub, dort ein Mieterverein, eine Bürgerinitiative oder ein Blogprojekt. Überall hilflose Versuche im Kleinen einzelne Aspekte der proletarischen Existenz zu politisieren, die als solche gerade als umfassender Zusammenhang aufeinander bezogen werden müssten.

Einzig Fredo Corvo konnte mit seiner Verteidigung der KAPD-Parteikonzeption einen Gegenvorschlag in die Diskussion werfen. Was sich an der kritisch fragenden Replik der Genoss:innen zeigt, ist, wie sehr die eigenen Vorstellungen lediglich als kritische Negation der sozialdemokratischen und leninistischen Theorie und Praxis existieren, der gegenüber man sich offenbar überlegen fühlt. Mit unserem Text wollten wir genau diese Selbstgewissheit erschüttern, die in der Vorstellung der „Beweislast“ zum Ausdruck kommt. Eine Selbstgewissheit, die wohl nur die eigene Ratlosigkeit kaschieren soll und die sich in Anbetracht der Revolutionsgeschichte des 20. Jahrhunderts bemerkenswert ausnimmt.

Ziel unserer Intervention, das wir auch unserem Text vorangestellt haben, war es also eine „grundlegende Debatte über Fragen der politischen Strategie und Organisation anzuregen“. Damit wollten wir nicht, wie Felix Klopotek meint, „Garantieformeln“ finden, sondern vermeintliche Garantieformeln, die in unserem Milieu zirkulieren, in Zweifel ziehen. Unsere Hinwendung zur frühen Sozialdemokratie frönt auch keinem „Organisationsfetisch“ (Klopotek), der „das Positive der Organisation, der Partei, beibehalten [will], ohne das Negative mitschleppen zu müssen“ (ARS). Im Gegenteil gehen wir von der Möglichkeit des Scheiterns der von uns vorgeschlagenen Politik explizit aus und schrieben, dass es „selbstverständlich nicht verbürgt [ist], in welche Richtung sich diese Organisationen politisch entwickel[n].“ Von Garantieformeln kann im Bereich des Politischen unserer Auffassung nach generell keine Rede sein und wenn uns Klopotek die Suche nach solchen unterstellt, scheint eher Projektion im Spiel zu sein.

Wenn man immer nur kritisch-kommentierender Zirkel ist, wenn die historische Aufgabe der Überwindung der kapitalistischen Produktionsweise einzig der spontanen Bewegung der Klasse aufgebürdet wird, wenn diese Kommunist:innen nicht in relevanten Organisationen der Klasse überhaupt nur versuchen Einfluss zu erlangen, dann können sie natürlich politisch auch nie scheitern. Wer gewinnen will, kann allerdings nun mal auch verlieren. Diese Gefahr hat unser Milieu erfolgreich gebannt, da es diesen Anspruch gar nicht stellt. Effektive Irrelevanz scheint hier gegenüber dem potentiellen Scheitern bevorzugt zu werden. 

Schließlich ein letzter methodischer Punkt, der noch einmal die Absicht berührt, in der wir den Ausgangstext geschrieben haben. Robert Schlosser warnt in seinem ansonsten wenig Dissens hervorrufenden Text davor, einen Richtungsstreit ausgehend von der Bewertung historischer Vorgänge vom Zaun zu brechen. Dazu so viel: Uns geht es sicherlich nicht darum, ein Zerwürfnis über historische Fragen herbeizuführen. Dies widerspricht unserer Überzeugung, dass wir eine Einheit auf Basis geteilter politischer Ziele anstreben, nicht auf Basis einer geteilten Theorie oder Geschichtsinterpretation. Unserer Ansicht nach sollen unterschiedliche Auffassungen über historische und theoretische Fragen Gegenstand lebendiger Debatten sein. Eine Spaltung beispielsweise über die Einschätzung der historischen Rolle der Bolschewiki scheint uns wenig zielführend.

Wir denken aber, dass das Verständnis der Geschichte unserer Bewegung auch eine Brille darstellt, durch die wir die Gegenwart und die an uns gestellten Aufgaben betrachten. Anhand der jeweiligen Brille kommen nur bestimmte Lösungen überhaupt in Frage. Deshalb geht Klopoteks für sich genommen sinnvoller Vorschlag, wir hätten doch die Parteibildungsversuche der letzten Jahre einmal untersuchen sollen, insofern ins Leere, als dass diese Frage nur diejenigen überhaupt umtreibt, die bereit sind, von diesen Erfahrungen zu lernen (und Klopotek ist schnell bei der Hand, sein Schema an diesen Versuchen zu exerzieren). Wenn die Partei als Organisationsform von vornherein abgelehnt wird, dann erscheint natürlich auch die Beschäftigung mit diesen Vorgängen wenig sinnvoll und entsprechend mangelt es innerhalb des Milieus an entsprechenden Analysen.

Um den Horizont der Debatte zu erweitern, müssen wir uns notgedrungen durch die geschichtlichen Erfahrungen hindurcharbeiten. Die historische Aufarbeitung muss der Gegenwartsanalyse vorangehen, weil der Blick sonst durch einen verdinglichten Zugriff auf die Geschichte unserer Bewegung beschränkt bleibt. Greifbar wird dieser Umstand nicht zuletzt an der Replik von ARS, die die Organisationsfrage im Kontext der „konkreten Analyse einer konkreten Situation” behandelt wissen wollen. Gleichzeitig meinen sie, die Form der Partei noch vor der Untersuchung der Gegenwart – nicht zuletzt aufgrund ihrer Einschätzung der historischen Erfahrung – als unzulänglich zurückweisen zu können. Deshalb können wir uns nicht auf die Gegenwartsanalyse beschränken (auf die es letztlich aber natürlich ankommen wird), sondern wollen mit unseren Beiträgen auch eine historische Diskussion anstoßen. Diese hätte aus unserer Sicht den Sinn, uns die Geschichte unserer Bewegung für die Gegenwart anzueignen. Denn letztlich können wir auch nur aus den gemachten Erfahrungen lernen. Das bedeutet nicht, irgendwelche reinen (Traditions-)Linien zu konstruieren, bestehend aus einem Kanon an Texten und Vorbildern, den wir als Rezeptkasten umstandslos übernehmen können. Vielmehr sollten wir versuchen, vergangene Organisationsansätze, Strategien und Taktiken auszuwerten. Nicht abstrakt, sondern konkret in Bezug auf die jeweilige historische Situation, um aus einer solchen kritischen Aneignung Anhaltspunkte für die Bewertung von Organisationsweisen, Strategie und Taktiken heute zu erhalten, wobei diese Ansätze auf ihre Relevanz für die heutigen Verhältnisse zu prüfen sind. Dazu benötigen wir ein wirkliches Verständnis der Vergangenheit und keinen Mythos (der Partei, der Bewegung, der Räte). In diesem Sinne wenden wir uns zunächst den historischen Einwänden zu, die gegen unseren Text vorgebracht wurden.3

Historisches

Wesentliches Moment unserer strategischen Überlegungen war es, gegen die im Milieu vorherrschende Zurückweisung von Massenorganisationen als reformistischer und konterrevolutionärer Institutionen deren Bedeutung für die Entwicklung der revolutionären Bewegungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts herauszustellen. Während wir laut ARS dabei zu einseitig verfahren, verwirft Klopotek unsere diesbezüglichen Thesen in Bausch und Bogen. Seine Gegenthese – die er durch alle nennenswerten sozialgeschichtlichen Studien gedeckt wähnt – lautet: „Diese Massenstreiks waren der Ausgangspunkt für eine Neubegründung des Marxismus als revolutionäre Theorie gegen Revisionismus und Zentrismus (Kautsky). Es stimmt, dass die sozialistischen und sozialdemokratischen Parteien den Rahmen abgaben, innerhalb dessen die Aufarbeitung der Massenstreiks und ersten Revolutionsversuche stattfand – ein Rahmen, der sich spätestens nach der zweiten, deprimierenden Massenstreikdebatte in der deutschen Sozialdemokratie nach 1911 als zu eng erwies.“4 Seine vermeintliche Gegenthese verfehlt den Sinn unserer Überlegungen und bleibt einseitig und gleichzeitig widersprüchlich. Erstaunlich ist die Gewissheit, mit der Klopotek nicht nur unsere These verwirft, sondern im selben Atemzug bedeutsame geschichtswissenschaftliche Untersuchungen (insbesondere offenbar die gesamte Forschung der der letzten 30 Jahre) als nicht „nennenswert” abkanzelt. Bemerkenswert ist diese Selbstgewissheit zudem, weil selbst die von ihm angeführten Kronzeugen nicht halten, was sie versprechen.

Marxismus, Klassenbewegung und Strategie

Klopotek zielt an unseren Überlegungen vorbei, da wir an keiner Stelle die irrige Idee aufgestellt haben, dass die sozialdemokratischen Parteien irgendwo eine revolutionäre Bewegung vom Zaun gebrochen hätten. Vielmehr haben wir die spontanen Bewegungen der Klasse explizit als „Innovationen im Klassenkampf“ bezeichnet und wir sehen überhaupt kein Problem damit Lenin (und insofern auch Klopotek) zu folgen, wenn er schreibt: „Der Marxismus lernt in dieser Beziehung, wenn man sich so ausdrücken darf, aus der Massenpraxis und ist weit davon entfernt, darauf Anspruch zu erheben, die Massen Kampfformen zu lehren, die von Stuben’systematikern‘ ertüftelt werden. Wir wissen, sagte zum Beispiel Kautsky, als er die Formen der sozialen Revolution untersuchte, daß die kommende Krise uns neue Kampfformen bringen wird, die wir jetzt nicht voraussehen können.”5 Richtig scheint uns an Klopoteks These, dass die Revolution von 1905 und die europäischen Massenstreiks zu einer Neubewertung der spontanen Fähigkeiten der Arbeiter:innenklasse durch die Marxist:innen führten.6 Das Problem ist aber Klopoteks Einseitigkeit oder besser vielleicht: sein Versuch, die Rolle der sozialdemokratischen Parteien zum Verschwinden zu bringen. Er sieht sich genötigt zuzugestehen, dass diese den Rahmen für die Reflexion der Massenpraxis abgaben, versucht ihren Beitrag aber durch Verweis auf die Entwicklung der deutschen Sozialdemokratie als einen rein negativ-beschränkenden darzustellen. Kurioserweise schweigt er sich über die russische Sozialdemokratie in Gestalt der Bolschewiki aus, die dem von Klopotek gescholtenen „Zentrismus” verhaftet blieben, denen zugleich aber kaum vorgeworfen werden kann, in einer revolutionären Situation lediglich beschränkend agiert zu haben.

Die Bolschewiki sahen sich auch nach der Februarrevolution und der Massenstreikbewegung in der Tradition des orthodoxen Marxismus der Zweiten Internationale. Im Juli 1910, auf dem Höhepunkt der Massenstreikdebatte, schrieb Trotzki – auch er von Klopotek für seine Gegenthese aufgeführt – an Kautsky, dass niemand in der russischen Partei, nichtmal unter den Bolschewiki”7, darin die Seite Luxemburgs ergriffen hätte. Es war vielmehr der Kriegsausbruch und das Einschwenken der meisten sozialdemokratischen Führer auf eine Politik der Kriegsunterstützung, die zum Bruch mit der Rechten und dem Zentrum führte. Als überzeugter „Erfurter“ und revolutionärer Sozialdemokrat pochte Lenin im Angesicht des Zusammenbruchs der Internationale auf die Anwendung der von ihr verabschiedeten Resolutionen: „Die Opportunisten haben sich hinweggesetzt über die Beschlüsse des Stuttgarter, des Kopenhagener und des Basler Kongresses, die die Sozialisten aller Länder verpflichteten, den Chauvinismus unter allen Umständen zu bekämpfen, die die Sozialisten verpflichteten, jeden von der Bourgeoisie und den Regierungen begonnenen Krieg mit verstärkter Propagierung des Bürgerkriegs und der sozialen Revolution zu beantworten.“8 Weit entfernt davon, die „zentristische“ Strategie der Internationale über Bord zu werfen, versuchte er sie in dieser neuen, aber seit langem antizipierten Situation zur Geltung zu bringen.

Überhaupt folgten Lenin und die Bolschewiki in ihrer Politik der Kriegsjahre einer bereits vor dem Krieg entwickelten Strategie, die von Kautskys Überlegungen zur russischen Situation gestützt wurde.9  Um als Führerin der demokratischen Revolution auftreten zu können, durften sich die russischen Sozialdemokrat:innen nicht durch eine Koalition mit den bürgerlichen Kräften kompromittieren – auch darin folgten die Bolschewiki Kautskys Überlegungen zur Notwendigkeit der politischen Unabhängigkeit des Proletariats.10 Nach dem Verrat der sozialdemokratischen Führer hielten die Bolschewiki an den zentralen programmatisch-strategischen Richtlinien der Internationale fest und versuchten diese unter den Bedingungen des prognostizierten Krieges in die Tat umzusetzen. Die wesentlichen Koordinaten waren gerade nicht bestimmte Kampfformen (wie der von Klopotek hervorgehobene Massenstreik), sondern die strategische Orientierung auf politischer Unabhängigkeit von der Bourgeoisie und proletarischer Hegemonie in der demokratischen Revolution in Russland. Klopoteks These von der revolutionären Neubegründung des Marxismus in Folge der Massenstreiks verfehlt also die Entwicklung des bedeutsamsten Teils der historischen Sozialdemokratie und ihrer strategischen Orientierung.

Aber widerspricht die von Klopotek ins Feld geführte sozialgeschichtliche Forschung unserer Ausgangsthese, wie er behauptet?

Die alte Lehre der Sozialdemokratie

Nach unserer Auffassung bestand die unabdingbare Vorarbeit der sozialdemokratischen Bewegung und insbesondere ihrer Partei darin, dass sie in relevanten Teilen der Klasse ein Klassenbewusstsein vermittelt hat. Auf dieser Grundlage orientierten sich die Arbeiter:innen gegenüber den anderen Klassen und dem bürgerlichen oder absolutistischen Staat und mit diesem Bewusstsein führten sie auch ihre mithin spontanen Kämpfe.

Klopotek stützt sich in seiner Ablehnung unserer Argumentation auf die Einsichten einiger sozialgeschichtlicher Historiker, deren Verdienst darin besteht, die vormals in der Geschichtswissenschaft dominierende Auffassung überwunden zu haben, nach der die arbeitenden Massen immer nur als Objekt der Politik, nie aber als ihr Subjekt vorkommen. In dieser überkommenen Richtung der Geschichtswissenschaft entstanden die Standardinterpretationen der Oktoberrevolution als eines Putsches der Bolschewiki, die die unbewussten Massen manipuliert und für ihre eigene Machteroberung missbraucht hätten. Der kleinteiligen Untersuchung und Würdigung der eigenständigen Bewegung der Arbeiter:innen und Soldaten in der Revolution durch Historiker wie den von Klopotek ins Feld geführten Steve Smith mit seiner detaillierten Studie über die „Revolution in den Fabriken“ Petrograds ist es zu verdanken, dass diese Vorstellung heute der Vergangenheit angehört. Das Problem mit diesen Studien ist jedoch, dass sie den Bogen in die andere Richtung überspannen und die Rolle der Parteien in den revolutionären Bewegungen zu gering veranschlagen. Aber selbst Smith, den Klopotek meint gegen uns ins Feld führen zu können, weiß in Übereinstimmung mit anderen Historikern zu berichten, dass die meisten der führenden Kader der von ihm untersuchten Fabrik-Komitees Mitglieder der Bolschewiki waren.11 Er erklärt zudem, dass die Entwicklung eines revolutionären Bewusstseins unter den Arbeiter:innen keineswegs ein spontanes Produkt der Bewegung war. Vielmehr spielte die bolschewistische Agitation „eine entscheidende Rolle bei der Artikulation dieses Bewusstseins.“12 David Mandel kommt in seiner Untersuchung über die Arbeiter:innen von Petrograd13 zu einer ganz ähnlichen Einschätzung hinsichtlich der Bedeutung der bolschewistischen Parteiorganisation in der und für die Bewegung. Er schreibt, die von uns betonte Vorarbeit der sozialdemokratischen Partei – in diesem Falle der Bolschewiki – unterstreichend: „Die Initiative in der Oktoberrevolution lag bei dem entschlossensten Teil der Arbeiterklasse, den Mitgliedern der bolschewistischen Partei oder den ihr nahestehenden Arbeitern. Es handelte sich um eine Schicht von Arbeitern, deren Klassenbewusstsein, deren Sinn für persönliche und Klassenwürde und deren Streben nach Unabhängigkeit von den besitzenden Klassen in jahrelangen, intensiven Kämpfen gegen die Autokratie und die Industriellen geschmiedet worden war.”14 Für Deutschland lässt sich Analoges feststellen: hier waren es ebenfalls die in der SPD politisch sozialisierten, klassenbewussten Arbeiter:innen, die in den spontanen Streikbewegungen die führende Rolle einnahmen.15 Exemplarisch sei hier auf die Gruppe der ‚revolutionären Obleute‘ verwiesen, die sich aus der Berliner Metallarbeiterschaft rekrutierten. Einer ihrer führenden Köpfe, Richard Müller, beschreibt die Konstitution des Zusammenschlusses wie folgt: „Sofort nach Ausbruch des Krieges ergab sich ein Meinungsaustausch unter denjenigen Gewerkschaftsfunktionären, die getreu der alten Lehre der Sozialdemokratie ihre Aufgabe darin erblickten, die Arbeitermassen aufzuklären und für eine schnelle Beendigung des Weltkrieges zu mobilisieren. (...) Es war keine Massenorganisation (...), sondern ein ausgewählter Kreis von Personen, die eine gewisse Schulung und Erfahrung im politischen und gewerkschaftlichen Tageskampf genossen hatten und im Betrieb unter den Arbeitern einen Einfluß haben mußten. Es war im wahren Sinne des Wortes ein ‘Vortrupp des Proletariats’.”16 Wir sehen auf Grundlage der uns bekannten Literatur keine Anhaltspunkte dafür, unsere Ausgangsthese von der Bedeutung, die die revolutionäre Sozialdemokratie für die Bildung und Verallgemeinerung eines handlungsorientierenden Klassenbewusstseins spielte, zu revidieren. Auf unsere gegenwärtige Situation übertragen wäre zunächst einmal der Mangel zu begreifen, den die Abwesenheit relevanter politischer Klassenorganisationen und militanter Kerne von kommunistischen Arbeiter:innen für die aufbrechenden spontanen Bewegungen bedeutet.

Klassenhandeln, Organisation und Partei

Damit wenden wir uns nun Klopoteks zweiter Gegenthese zu: „Sozialistische Organisationen konnten nur dann an Handlungsmacht gewinnen, wenn sie sich auf die Klasse bezogen.” Der Satz enthält ein wahres Moment, das aber ins richtige Licht gerückt werden muss. Wir sprechen an der Stelle, auf die sich Klopotek bezieht, überhaupt nicht von sozialistischen Organisationen, sondern allgemein von Organisationen der Klasse. In der revolutionären Bewegung waren es die Gewerkschaften, Fabrik-Komitees oder die Räte, die der Klasse als Organisationen dienten, durch die sie ihren unmittelbaren Kampf organisierten. Die sozialdemokratischen Parteien wiederum konnten ihre führende (und leider auch konterrevolutionäre) Rolle spielen, weil sie tatsächlich ebenso Organisationen der Klasse waren. Sie „bezogen“ sich nicht „auf die Klasse“ wie es bei Klopotek heißt, der damit das überholte Bild der von außen in die Klassenkämpfe hineinwirkenden Parteien evoziert. Vielmehr waren die sozialdemokratischen Parteien Massenorganisationen der Arbeiter:innenklasse. Sie stellten dar, was Karl Kautsky in Anlehnung an Engels als „Vereinigung von Arbeiterbewegung und Sozialismus“17 bezeichnet hat. Das gleiche gilt auch für die russische Sozialdemokratie und insbesondere auch für die als Putschisten geschmähten Bolschewiki. Wie Lars T. Lih kleinteilig nachgewiesen hat,18 war die Parteikonzeption der deutschen Sozialdemokratie Vorbild für Lenin und seine bolschewistischen Genoss:innen.19 Es war genau diese Orientierung und die Fähigkeit, im Verlauf der Revolution von 190520 und dann nach der Februarrevolution von 191721 auf Basis der entstandenen politischen Freiheiten die Ränge der Partei zu öffnen und zu einer zumindest kleinen Massenpartei von revolutionären Arbeiter:innen zu werden, die es den Bolschewiki ermöglichte, eine vorwärtstreibende Rolle in der Bewegung zu spielen. Entgegen der „leninistischen“ wie anti-leninistischen Zerrbilder hatte die Partei im Revolutionsjahr 1917 eine „relativ demokratische, tolerante und dezentralisierte innere Struktur und Arbeitsweise” und zeichnete sich durch „ihre grundsätzliche Offenheit und ihren Massencharakter”22 aus.

Dadurch waren die Bolschewiki am Vorabend der Revolution in Russland eine revolutionäre Arbeiter:innenpartei (sowohl hinsichtlich ihrer Zusammensetzung als auch ihres Programms) mit bedeutendem Einfluss innerhalb der Gesamtklasse.23 Sobald es der Sturz der Autokratie zuließ, wuchsen die Ränge der Partei stark an, die Mitgliedszahlen gingen während des Revolutionsjahres in die Hunderttausende.24 Hätten die revolutionären Sozialist:innen nicht bereits unter dem Zarismus einen solchen Masseneinfluss gewonnen, so wäre es überaus unwahrscheinlich gewesen, dass sie nach dessen Sturz eine derart bedeutsame Rolle in der Revolution gespielt hätten.

Worin bestand nun die entscheidende Rolle der Partei(en) in der Revolution? Parteien bieten Arbeiter:innen mittels der von ihnen vertretenen Ideen und Programme unterschiedliche Möglichkeiten ihre Erfahrungen zu interpretieren, auf diese zu reagieren und ihr Handeln in den Zusammenhang weiterreichender politischer Entscheidungen zu stellen. Krisenerfahrungen oder Massenstreiks produzieren aus sich heraus nicht ihre eigene politische Interpretation. Mit anderen Worten: Welche Lösungen für die Krise den Arbeiter:innen als sinnvoll erscheinen, liegt nicht in der Krisenerfahrung selbst und auch nicht in eskalierenden Massenkämpfen. In Deutschland konnte die SPD ihre Führung über die Rätebewegung bis zum Schluss behaupten und das Ziel der Bewegung auf die Errichtung einer bürgerlichen Republik beschränken. Analoges gilt für Österreich, wo der „erfolgreiche ‚Abwehrkampf gegen den Kommunismus auf dem Boden der Arbeiterräte geführt’ wurde”25. Die historischen Erfahrungen der Arbeiter:innenbewegung in Deutschland und Österreich führen deutlich vor Augen, dass eskalierende Klassenkämpfe auch inmitten einer tiefgreifenden sozialen und politischen Krise nicht aus sich heraus die revolutionäre Lösung produzieren. Denn „der beste Weg, den materiellen Interessen der Arbeiterklasse gerecht zu werden, wird immer auf konkurrierende Weise erarbeitet und transformiert – vermittelt –, durch konkurrierende politische Parteien, konkurrierende Programme der sozialen Veränderung und konkurrierende Strategien der politischen Aktion."26 Zum selben Schluss gelangt Eric Blanc in seiner vergleichenden Studie der revolutionären Bewegungen im russischen Zarenreich, in welcher er resümierend festhält: „[D]ie kumulative Wirkung der Massenaktionen [machte] den Oktober möglich, nicht unvermeidlich. Selbst angesichts einer relativ schwachen herrschenden Klasse erwies sich das bewusste Eingreifen der organisierten Marxisten als notwendig, um den Arbeitern zu helfen, die verschiedenen Hindernisse auf ihrem Weg zur Macht zu überwinden. (…) Militante Massenkämpfe führten nicht in allen Gebieten zu den gleichen Ergebnissen. In wichtigen Regionen wie Georgien und der Ukraine gelang es den Radikalen nicht, die Führung der Revolution zu gewinnen, und die Sowjets konnten die Macht nicht übernehmen.“27 Auch in Russland vertrugen sich die Massenstreiks der russischen Arbeiter:innen für die ersten Monate der Revolution gut mit der politischen Hegemonie der Menschewiki, die die demokratische Revolution im Bündnis mit der Bourgeoisie vollenden wollten. Die Wendung kam durch die politische Intervention der Bolschewiki, die ein Programm der proletarischen Autonomie verfochten und dafür in den Räten im Verlauf des Jahres 1917 eine Mehrheit gewannen.28 Sie erklärten, dass die Erfolge des Februars einzig durch die Übernahme der Macht durch die Arbeiter:innenklasse im Bündnis mit den Bauern und Bäuerinnen zu verteidigen seien. Den Bolschewiki gelang es jedoch nur deshalb, diese Mehrheit zu gewinnen, weil sie eine Massenpartei der Arbeiter:innenklasse waren und ihre Mitglieder in den Betrieben, Fabrik-Komitees und unter den Soldaten für das bolschewistische Programm agitierten und über den Charakter der provisorischen Regierung Aufklärung leisten konnten. Ohne die vorwärtstreibende Initiative der bolschewistischen Arbeiter:innen „hätte die Wirtschaftskrise und die politische Stagnation sehr wahrscheinlich zu einer Demoralisierung geführt und den Weg für die Konterrevolution geebnet. Die Rolle der Partei war daher im Oktober entscheidend. Aber sie hätte diese Rolle nicht spielen können, wenn sie nicht eine demokratische Organisation, ‚Fleisch vom Fleisch‘ der Arbeiterklasse, gewesen wäre."29

Dies war die notwendige organisationspraktische Voraussetzung dafür, dass das russische Proletariat die Macht auf Basis einer politischen Mehrheit und im Bündnis mit den Bauern und Bäuerinnen ergreifen konnte. Diese Voraussetzung wird von Vertreter:innen der KAPD-Elite-Parteikonzeption30 oder denjenigen, die ihre Hoffnung auf das Wirken radikaler Zirkel setzen, übergangen. In den Worten Alexander Rabinowichs: „Man kann kaum genug betonen, dass während der Oktoberrevolution, auf dem Höhepunkt des Kampfs um die Macht, die große Stärke der Bolschewiki in Petrograd im repräsentativen Charakter ihrer Partei, in ihren engen Beziehungen und ihrem ständigen Kontakt zu Fabrikarbeitern, einfachen Soldaten und unzähligen Massenorganisationen bestand.”31 In diesem Sinne können wir Klopoteks These mit gewissen Konkretisierungen zustimmen. Nur indem Kommunist:innen als Teil relevanter Klassenorganisationen arbeiten, können sie entscheidenden Einfluss auf die Klassenkämpfe nehmen. Sie werden keine Handlungsmacht entwickeln können, wenn sie versuchen als äußerliche Zirkel oder festgefügte Sekten auf die Klassenbewegung einzuwirken.

Zur Bewertung der Revolutionsgeschichte

Im Unterschied zu Klopotek setzen ARS ihre Kritik an zwei Leerstellen in unserer Argumentation an. Einerseits hätten wir den Aufstieg der revolutionären Sozialdemokratie nicht historisch erklärt (und drohten dadurch deren strategische Konzeption abstrakt auf unsere Gegenwart übertragen zu wollen). Andererseits werfen sie uns vor, das letztliche Scheitern der revolutionären Bewegung und die Rolle der Sozialdemokratie darin nicht erklärt zu haben (und deshalb die negativen Lehren aus der Geschichte nicht zu ziehen, uns einseitig auf die vermeintlich positiven Aspekte zu beziehen).

Die von ihnen eingeforderte Untersuchung bzw. Darstellung der Arbeits- und Reproduktionsbedingungen der Arbeiter:innenklassen um die Jahrhundertwende ist sicherlich ein sinnvolles Unterfangen, sprengt aber den Rahmen einer Debatte, wie wir sie hier anstoßen wollten. Wir verweisen an dieser Stelle auf die Beiträge zur Geschichte der Arbeiter:innenbewegung, wo der historische Hintergrund des Aufstiegs der revolutionären Sozialdemokratie entwickelt wird32.

Hinsichtlich des Scheiterns der revolutionären Sozialdemokratie wollen wir uns hier auf einige Stichpunkte beschränken. Für Deutschland scheint uns folgender Zusammenhang entscheidend:

Der Revisionismus ist – entgegen der durch den „Revisionismus-Streit“ nahegelegten Überlieferung – zunächst weniger ein Produkt der Parteitheoretiker:innen und Parteiführer:innen als eines der Basis. Der Reformismus gedieh insbesondere in den ländlichen Regionen und den politisch liberaleren Staaten Süddeutschlands, wo mehr Spielraum für sozialdemokratische Politik gegeben war und wo die Klassenzusammensetzung eine opportunistische Orientierung auf kleinbürgerliche Schichten beförderte. Hier versprach die Aufgabe von Prinzipien kurzfristige Agitations- und Wahlerfolge.

Die derart gewonnenen Stimmen und Parlamentssitze zeigen einen Funktionswandel der parlamentarischen Taktik an. Sie dient immer weniger als „Gradmesser der Reife der Arbeiterklasse“ (Engels), sondern etabliert eine instabile, klassenübergreifende Koalition, die durch die Verwässerung der Parteiziele erkauft wird. Dies hat zwei wichtige Konsequenzen: Da die Erfolge mit einer Preisgabe der revolutionären Programmatik in der Agitation einhergehen, kann die Partei schlechterdings auch kein legitimes „Mandat“ für revolutionäre Maßnahmen durch einen Wahlerfolg erhalten, da sie bei deren Durchführung nicht auf die Wähler:innenbasis rechnen kann. Diese Stimmengewinne sind für eine revolutionäre Partei also weitgehend nutzlos, da sie ihr Programm ohne die aktive Unterstützung und eigenständige Aktion der Massen überhaupt nicht realisieren kann. Zudem läuft eine durch solche Agitation hergestellte Koalition ständig Gefahr zu zerfallen, da die gewonnenen Kräfte mit ihren aktuellen Stimmungen und unmittelbaren Interessen angesprochen werden, jedoch in keinen umfassenden Bewusstseinsbildungs- und Organisationsprozess eintreten, der es ermöglicht eine stabile Klassenidentität zu entwickeln. Die Partei machte sich dadurch zunehmend abhängig vom vorherrschenden Massenbewusstsein und passte sich insbesondere nach der nationalistischen und pro-kolonialen Mobilmachung gegen die Sozialdemokratie 1904ff. teils auch an die vorhandenen nationalistischen Sentimente an anstatt sie herauszufordern.

Programm und Praxis der Sozialdemokratie driften in diesem Prozess auseinander und es gelingt dem theoretisch und programmatisch dominanten Zentrum der Partei immer weniger, die theoretische Dominanz auch in eine praktische Hegemonie in der Partei umzusetzen. Gegen den wachsenden Einfluss der revisionistischen Tendenzen forcieren das Parteizentrum und die Parteilinke ab 1904 eine weitere Konkretisierung des Organisationsprinzips der Partei in Richtung dessen, was man als demokratischen Zentralismus bezeichnen kann. Im Grundsatz geht es um die Bindung der Repräsentant:innen an die Mehrheitsbeschlüsse des Parteitages einerseits und anderseits um die Weisungsbefugnis der oberen Gremien gegenüber den unteren. Dieses Zusammenspiel aus demokratischer Kontrolle, zentraler Entscheidungsbefugnis und Bindung der Repräsentant:innen an die Beschlüsse der Partei soll ein einheitliches Agieren als Partei ermöglichen. Auf dem Jenaer Parteitag 1905 wird schließlich von der Parteilinken der Ausbau des Parteiapparats forciert, wodurch die Kontrolle der Partei über die Arbeit der Reformist:innen an der Basis und in der Provinz verbessert werden soll. Im Zuge der Umsetzung des dort verabschiedeten Organisationsstatuts, welches die Exekutive der Partei durch die Anstellung von Parteibeamt:innen und Sekretär:innen vergrößerte, gelangten nun aber gerade Vertreter:innen des stillen Reformismus der Praxis – beispielsweise der spätere Reichskanzler Friedrich Ebert – in die zentralen technischen Organe der Partei. Damit dringt der Revisionismus der Basis schließlich ins Zentrum der Partei vor und setzt sich dort fest.33 Die politische Umorientierung, die der revisionistischen Praxis zugrunde lag und die durch deren Erfolg gestärkt wurde, bestand in der Abschwächung der radikalen Ziele zugunsten kurzfristiger Verbesserungen im Bündnis mit anderen politischen Kräften. Den Realismus und seine Attraktivität bezog diese Politik aus dem Umstand, dass es tatsächlich möglich, ist für bestimmte Segmente der Klasse kurz- und mittelfristige Verbesserungen innerhalb des Kapitalismus zu erzielen. Mit dieser Politik geht jedoch die Unterordnung der Klassenpolitik unter die Bedingungen der internationalen Staatenkonkurrenz und damit unter die Interessen der nationalen Bourgeoisie einher. Es ist deshalb auch nur folgerichtig, dass es die Zuspitzung der Staatenkonkurrenz zum imperialistischen Krieg war, welche die Integration der Arbeiter:innenbewegung in den Staat höchstoffiziell besiegelte.

Das marxistische Zentrum und die Linken unterschätzten die Möglichkeiten für die Ausbreitung einer opportunistischen Tendenz innerhalb der Partei und verpassten die Chance, ihre politische Hegemonie in der Partei zu verteidigen und zu konsolidieren. Getragen von einem historischen Optimismus hielt Kautsky die Ausbildung einer sich verselbständigenden Bürokratie für ausgeschlossen.34 Luxemburg verlagerte in ihrer Auseinandersetzung mit Lenin die Verantwortung für die Überwindung des Opportunismus in die Bewegung hinein, anstatt eine politische Fraktion der Linken aufzubauen.35 Beide unterschätzten die Notwendigkeit, die Einheit und Autonomie der Klasse politisch herzustellen und gegen die integrativen Tendenzen von innen und außen zu verteidigen. Im Unterschied zu Kautsky war Luxemburg eine konsistente und entschiedene Verfechterin der demokratischen Republik, deren Erringung sie mittels Massenstreiks forcieren wollte. Kautskys Haltung in dieser Frage war dagegen ambivalent. Einerseits bezog er sich stellenweise positiv auf Marx’ Commune-Schrift und sah in der Commune das Ideal einer demokratischen Republik36. In diesem Geiste erklärte er auch die Notwendigkeit, die bestehenden Staatsinstitutionen als Herrschaftsinstrumente aufzulösen: „Die Eroberung der Staatsmacht durch das Proletariat bedeutet also nicht einfach die Eroberung der Ministerien, die dann kurzerhand die bisherigen Herrschaftsmittel – eine etablierte Staatskirche, die Bürokratie und das Offizierskorps – sozialistisch verwaltet. Vielmehr bedeutet es die Auflösung dieser Institutionen. Solange das Proletariat nicht stark genug ist, diese Herrschaftsinstitutionen abzuschaffen, wird auch die Übernahme einzelner Ressorts und ganzer Regierungen nichts bringen. Ein sozialistisches Ministerium kann allenfalls vorübergehend existieren. Es wird im vergeblichen Kampf gegen diese Machtinstitutionen zermürbt werden, ohne etwas Dauerhaftes schaffen zu können.”37 Andererseits kommen solche klaren Formulierungen in seinem späteren Text Der Weg zur Macht nicht mehr vor. Hier scheint der Klassencharakter des Staates aus dem Klassencharakter der ihn regierenden Parteien zu resultieren, weshalb eine Koalitionspolitik mit bürgerlichen Parteien vehement zurückgewiesen wird.38 Keine Thematisierung erfährt hier aber der Umstand, dass der Klassencharakter in der Form des bürgerliches Staates selbst wurzelt: in seinen organisierten, bewaffneten Formationen (Polizei, Geheimdienst, Armee), seiner Gewaltenteilung, seiner Bürokratie, seiner spezifischen Rechtsstaatlichkeit, seiner Steuer- und Kreditfinanzierung und schließlich im internationalen Charakter des Staatensystems.

Diese Schrift stand bereits unter dem Zeichen der politischen Konzessionen an die immer stärker werdende Parteirechte und Kautsky unterwarf sich der Zensur der Schrift durch die Parteiführung. Insofern handelt es sich möglicherweise weniger um eine theoretische als um eine politische Kapitulation im Angesicht der sich zuspitzenden Situation und der sich nach rechts verschiebenden Kräfteverhältnisse in der Partei. In jedem Fall begann das Zentrum ab 1910ff. und insbesondere konfrontiert mit der Oktoberrevolution auf die Linie der Parteirechten einzuschwenken und die Erringung einer bürgerlichen Republik zum Endpunkt des sozialdemokratischen Strebens zu erklären. Es war dieses Schwanken im Verhältnis zum bürgerlichen Staat – das sich auch in einer theoretischen Schwäche bezüglich Nationalismus und Imperialismus ausdrückte39 – und der Mangel in der demokratischen und internationalistischen Agitation, die der Integration der Arbeiter:innenklasse in den imperialistischen Staat Vorschub leistete40

Mit ARS können wir hier also möglicherweise eine Übereinstimmung bezüglich unserer “staatstheoretischen Einsichten” konstatieren, wenn wir die Unmöglichkeit einer sozialen Emanzipation der Lohnabhängigenklasse innerhalb eines Nationalstaates feststellen und den grundlegend internationalen Charakter der Klasse und der sozialistischen Umwälzung betonen. Auch wir sehen geschichtlich den Kurs der Sozialdemokratie, sich vermittels des Parlamentarismus im Staat festzusetzen, als Preisgabe ihrer revolutionären Rolle. Insofern halten wir die Katastrophe der Sozialdemokratie um 1914 nicht für eine durch die Form Partei präformierte Notwendigkeit, sondern für einen Ausdruck politischer und theoretischer Schwächen und Fehler, aus denen spezifische und konkrete Lehren zu ziehen wären und keine abstrakte Verdammung zu folgen hätte. Eine solche Lehre wäre es, jede „verantwortungsvolle” Politik der Postenübernahme im bürgerlichen Staat und die Mitverwaltung der kapitalistischen Ausbeutung prinzipiell und nicht nur taktisch abzulehnen. Die einzige Verantwortung, die Kommunist:innen politisch übernehmen sollten, wäre die Verantwortung dafür, die bestehenden Staatsinstitutionen aufzulösen und durch Institutionen zu ersetzen, die es der Arbeiter:innenklasse erlauben, die politische Macht selbst auszuüben.

Räte und Staat

Im Gegensatz zur SPD akzeptierten die Bolschewiki die Notwendigkeit, den existierenden Staatsapparat aufzulösen und stellten sich 1917 ganz auf die Linie der Rätelösung, sahen sie darin doch eine spezifische neue Form proletarischer Selbstregierung. Im Gegensatz zur SPD agitierten sie für die Machtübernahme der Arbeiter:innenklasse vermittels der Sowjets, bildeten dann im Bündnis mit den linken Sozialrevolutionären eine Regierung und verabschiedeten eine neue Räteverfassung. Es ist bemerkenswert, dass ARS in ihrer Kritik die vollkommen entgegengesetzte Politik der Bolschewiki und der deutschen Sozialdemokratie einfach in eins fallen lassen, wenn sie schreiben: „Das Problem dabei ist, dass auch die klassenbewussten Parteiführer, die die Ermordung, Verhaftung und Zerschlagung der Arbeiter-, Soldaten- und Matrosenräte sowohl in Russland als auch kurze Zeit später in Deutschland (Stichworte: Spartakus, Ruhrkämpfe) befahlen, ihr Bewusstsein in eben dieser sozialdemokratischen Bewegung erworben hatten.”41 Anstelle der uns gegenüber eingeforderten historischen Konkretion schlagen sie hier alles über den Leisten einer abstrakten Formkritik. Darüber hinaus wird ihnen die Rätelösung selbst überhaupt nicht zum Problem, sondern als Ideal einfach vorausgesetzt. Nach unserer Kenntnis des historischen Materials gibt es wenig Anhaltspunkte dafür, dass die Bolschewiki die Sowjets von Anfang an entmachtet wissen wollten und ohne Not eine Parteidiktatur errichteten. Dagegen spricht nicht nur, dass sie die Rätelösung explizit anstrebten und eine entsprechende Verfassung verabschiedeten, sondern auch, dass die Rolle der Partei in den ersten Monaten nach der Oktoberrevolution auf interne Partei-Angelegenheiten beschränkt war und es keineswegs das ZK der Bolschewiki war, welches die politischen Angelegenheiten des neuen Staates regelte.42 Oder in den Worten Rabinowichs: „Das verfügbare umfangreiche Quellenmaterial lässt jedoch eindeutig erkennen, dass der Mehrheit der Petrograder Bolschewiki die Notwendigkeit einer rigoros durchstrukturierten, allgewaltigen und zentralisierten Parteidiktatur in der ersten Zeit keineswegs einleuchtend erschien. 1917 hatten die Bolschewiki gefordert, alle Macht müsse auf unabhängige, repräsentative und demokratische Sowjets übergehen. Nach der Oktoberrevolution hatten die bolschewistischen Führer im Petrograder Sowjet und in den Bezirkssowjets, wenn auch anfänglich zögerlich, dieses Ideal mit Begeisterung vertreten.”43

Entscheidend für die weitere Entwicklung in Russland sind aus unserer Sicht das Ausbleiben der erhofften Revolution im Westen, der Bürgerkrieg, die ökonomischen Verheerungen und die unerwarteten Probleme, die das neue politische System mit sich brachte. Die Räte erwiesen sich unter den Bedingungen des desaströsen Bürgerkriegs und der ökonomischen Krise als unzulänglich, eine effektive politische Autorität auszuüben. Der Rätekongress traf sich zu unregelmäßig, um sein Exekutiv-Komitee tatsächlich kontrollieren zu können. Das Exekutiv-Komitee, welches wiederum die Regierung kontrollieren sollte, tagte ebenfalls zu unregelmäßig und beauftragte ein Präsidium mit dieser Aufgabe. Dann zerbrach die Koalition von Bolschewiki und linken Sozialrevolutionär:innen in Folge des Friedens von Brest-Litowsk und die ehemaligen Verbündeten wendeten sich gegen die inzwischen alleine regierenden Bolschewiki.

Diese bauten nun unter dem Druck des sich intensivierenden Bürgerkrieges die staatliche Exekutive aus und schufen im November 1918 mit dem Verteidigungsrat ein weiteres exekutives Gremium. Schließlich erwies sich das Rätesystem als unfähig, unter „den dringenden Bedingungen des Bürgerkriegs, die eine schnelle, autoritative Lösung von Fragen erforderten” effektiv auf die aufkommenden Probleme zu reagieren. Im April 1919 wurde mit dem Politbüro schließlich eine „konkurrierende Exekutive in einer den Erfordernissen besser angepassten Form”44 herausgebildet, die begann, direkten Einfluss auf Regierungsangelegenheiten zu nehmen. Die Bolschewiki lösten die Krise der politischen Autorität mittels der Militarisierung und Zentralisierung der Partei. Schließlich wurden sie durch das Ausbleiben der internationalen Revolution dazu verdammt, eine Minderheitenherrschaft in einem mehrheitlich bäuerlichen Land zu etablieren oder abzudanken und der Konterrevolution das Feld zu überlassen.

Aus diesen Umständen und nicht aus der Parteiform an sich lässt es sich nach unserer Auffassung viel eher erklären, warum sie ihre Organisation bis 1921 militarisierten, die Demokratie im Staat und in der Partei auszuschalten begannen, sich selbst an die Stelle der Arbeiter:innenklasse setzten und schließlich mit dem Staat verschmolzen: „Weder revolutionäre Ideologie noch ein vorgegebenes Muster diktatorischen Verhaltens erklären die grundlegenden Veränderungen im Charakter und der politischen Rolle der bolschewistischen Partei und der Sowjets in Petrograd zwischen November 1917 und November 1918, auch wenn beide Faktoren nicht ohne Bedeutung sind. Es waren die tatsächlichen Gegebenheiten, mit denen die Bolschewiki in ihrem oft aussichtslos erscheinenden Kampf ums Überleben konfrontiert waren, die maßgeblich die früheste Entwicklung der Partei und der Sowjetorganen (sic), ihr Verhältnis zueinander und das sowjetische politische System insgesamt prägten.”45 Korrekt und weitsichtig scheint uns deshalb Rosa Luxemburgs Position, wenn sie die extrem widrigen Bedingungen der Revolution in Russland anerkennt und gleichzeitig kritisiert, die auf diese spezifischen Umstände hin entwickelte Praxis zu einem allgemeingültigen Revolutions- und Parteimodell zu verabsolutieren,46 wie dies insbesondere vermittels der Komintern in den folgenden Jahren geschah.47

Uns liegt selbstverständlich nichts daran, uns dieses Modell zu eigen zu machen, durch das die Arbeiter:innenklasse demobilisiert und jede Möglichkeit ihrer Selbstregierung zunichte gemacht wird. Genauso wenig hilft es aber weiter, die Form der Partei aufgrund dieser Entwicklung grundlegend zu verwerfen und selbst ein allgemeingültiges Revolutionsmodell in Form der Räte zu verabsolutieren. Da wäre es an den Genoss:innen zu plausibilisieren, wie die revolutionäre Bewegung in Russland unter den skizzierten Umständen auf Grundlage eines reinen Rätesystems Erfolg hätte haben können. Worum es uns in diesem Zusammenhang geht, ist auf die Widersprüche des Rätemodells hinzuweisen und ein Nachdenken über die Formen eines möglichen sozialistischen Gemeinwesens anzuregen anstatt die Rätelösung – eine  spontan in den Kämpfen entstandene Organisationsform der Klasse – als Dogma zu setzen. Oder anders gesagt: Solche improvisierten Kampforganisationen der Klasse sind ihrer Form nach nicht unbedingt geeignet, um politische Macht auszuüben, das heißt koordinierende und bindende Entscheidungen für die Gesellschaft als Ganze zu treffen. Die Frage bleibt: Wie kann sich die Klasse der Lohnabhängigen selbst regieren, welche Mechanismen ermöglichen ihr die Ausübung politischer Macht?

Zwischenfazit

Was ist nun der Ertrag dieser historischen Diskussion? Der Grund für die zentrale Rolle, die wir der revolutionären Sozialdemokratie der Vorkriegszeit zusprechen, liegt darin, eine Partei dargestellt zu haben, die es dem Proletariat ermöglichte, eine umfassende Sicht auf die Gesellschaft als Ganze auszubilden und sich damit auch subjektiv zu einer Klasse zu formieren. Es scheint uns zudem nichts an der historischen Erfahrung vorbeizuführen, dass es Massenparteien waren, die es der Arbeiter:innenklasse erlaubten, die Hindernisse auf dem Weg zur Machtergreifung zu überwinden und zumindest kurzzeitig und in deformierter Weise die Macht über die Gesellschaft auszuüben. In den spontanen Massenbewegungen waren es organisierte SozialistInnen, die eine tragende Rolle spielten. Deshalb halten wir es für falsch, Klassenorganisationen im allgemeinen und Parteien im Besonderen nur als Schranke für die Bewegung zu betrachten. Die Bedeutung der Klassenorganisationen erweist sich auch negativ: Sie stellten zugleich jene Kräfte dar, die die spontanen Bewegungen der Klasse in einen kapital- und staatsloyalen Rahmen lenken konnten. Aus unserer Sicht wird deshalb die Hoffnung fragwürdig, wonach die existierenden Organisationen der Klasse durch eine spontane Bewegung einfach umgangen werden können.

Der Bedeutung der Partei als entscheidender politischer Kraft – im positiven wie negativen – werden wir im zweiten Teil stärker theoretisch nachgehen. Wir werden versuchen noch genauer zu begründen, warum diese Form der Organisation nicht nur von historischem, sondern von gegenwärtigem Interesse ist und Überlegungen zur Eindämmung der mit der Form verbundenen Gefahren anstellen.

  • 1. Klopoteks sichtlich verärgerte Antwort auf unseren Auftakttext lässt uns ein wenig verblüfft zurück. Er wirft uns Ungenauigkeit vor und versucht dies anhand von begrifflichen Spitzfindigkeiten zu belegen, wie der Frage, ob es legitim ist, den Kommunismus als „Endziel“ zu fassen, oder ob Zeiten wie die unsere als „Phasen der Ruhe“ oder „Phasen der Konterrevolution“ bezeichnet werden sollen. Warum er sich an solchen Wortklaubereien aufhängt, ist uns nicht ersichtlich. Wenn er schreibt, kommunistische Praxis bestehe in einer „Analyse der Vermittlungen“, wissen wir nicht was damit gemeint sein soll, denn seine Ausführung bleiben zu vage – ja, ungenau – als dass deutlich werden könnte, worauf er hinauswill. Weiter wirft uns Klopotek Selbstgefälligkeit vor, während er sich selbstgewiss auf sämtliche „nennenswerte[n] sozialgeschichtliche[n] Studie[n]“ zur Revolutionsgeschichte des frühen 20. Jahrhundert bezieht, ohne scheinbar über diese – wie diese Replik deutlich machen wird – einen guten Überblick zu haben. Schließlich sei unser Text dogmatisch, so sein Urteil, worauf er ironischerweise mit diversen dogmatischen Setzungen reagiert. Etwa wenn er deklariert, in Aufstandssituationen „tun alle, wie von selbst, das Richtige” oder die Rätekommunisten „wussten schon wovon sie sprachen…”. Seine Vorwürfe an unsere Seite – Dogmatismus, Ungenauigkeit, Selbstgefälligkeit und Geschichtsvergessenheit – können wir daher vollumfänglich zurückgeben. Wir wollen aber vor allem festhalten, dass sein Beitrag, der damit anhebt, unseren Text als „ärgerlich“ abzukanzeln, nicht gerade zu einem konstruktiven Debattenklima beiträgt. Über die psychologischen Gründe für diese Tonart wollen wir im Gegensatz zu Klopotek nicht spekulieren, der uns später in seinem Text unterstellt, von unbewussten Motivationen getrieben unsere „Angst … sublimieren“ zu wollen, indem wir danach trachteten, das „Aufflackern“ revolutionärer Spontaneität in „Politik und Programm“ zu überführen. Solcherlei Psychologisierung, die nichts mit einer Reflexion auf die affektiven Dimensionen politischer und theoretischer Widersprüche zu tun hat, finden wir wiederum ärgerlich, ist sie doch nichts Anderes als ein Mittel zur Delegitimierung der Argumente des Gegenübers.
  • 2.  https://communaut.org/de/keine-mystik-zeiten-der-schwaeche 
  • 3. Wir wollen allerdings festhalten, dass wir in unserer fragenden, historischen Auseinandersetzung mit der Geschichte der Arbeiter:innenbewegung noch keineswegs zu festen Ergebnissen gelangt sind, sondern diese Ausführungen den derzeitigen Stand eines laufenden Prozesses der Forschung und Selbstverständigung darstellen.
  • 4.  https://communaut.org/de/ungenau-und-dogmatisch 
  • 5. Lenin: Der Partisanenkrieg, unter: http://www.mlwerke.de/le/le11/le11_202.htm 
  • 6. Exemplarisch sei hier auf eine Formulierung Kautskys verwiesen, deren Gedankengang sich ganz ähnlich bei Lenin findet und die auch als eine Revision früherer, pessimistischerer Überlegungen zur Bewusstseinsentwicklung der Arbeiter:innenklasse verstanden werden kann: „Aber das Tempo des Fortschritts wird mit einem Schlage ein rapides, wenn Zeiten revolutionärer Gärung kommen. Es ist ganz unglaublich, wie rasch in solchen Zeiten die Masse der Bevölkerung lernt und zur Klarheit über ihre Klasseninteressen gelangt. Nicht nur ihr Mut und ihre Kampfeslust, sondern auch ihr politisches Interesse wird aufs mächtigste angestachelt durch das Bewusstsein, dass der Moment gekommen ist, sich endlich aus finsterster Nacht zu Heller Sonnenglorie emporzuarbeiten. Selbst der Trägste wird emsig, selbst der Feigste kühn, selbst der Beschränkteste erhält einen weiteren Blick. In solchen Zeiten vollzieht sich in Jahren eine politische Erziehung der Massen, die sonst Menschenalter gebrauchen würde.” (Karl Kautsky, Der Weg zur Macht, unter: https://www.marxists.org/deutsch/archiv/kautsky/1909/macht/6-wachstum.h…) 
  • 7. Trotzki, zit. nach Day/Gaidao, Witnesses to Permanent Revolution: 53.
  • 8. LW 21: 18.
  • 9. Siehe Kautsky, The Slavs and Revolution (1902) und ders., The Driving Forces of the Russian Revolution and Its Prospect (November 1906), in: Day/Gaido: Witnesses to Permanent Revolution. Lenin sieht in Kautskys Ausführungen die bolschewistische Taktik bestätigt: „Eine bürgerliche Revolution, die aufgrund der Schwäche der Bourgeoisie vom Proletariat und der Bauernschaft durchgeführt wird – dieses Grundprinzip der bolschewistischen Taktik – wird von Kautsky voll und ganz bestätigt.“ (zit. nach Day/Gaido: 584).
  • 10. „… je mehr [die Sozialdemokratie] in unversöhnlicher Opposition gegen die Korruption der herrschenden Klassen verharrt, desto lebhafter das Vertrauen, das ihr die großen Volksmassen inmitten der allgemeinen Fäulnis entgegenbringen (...). Je unerschütterlicher, konsequenter, unversöhnlicher die Sozialdemokratie bleibt, um so eher wird sie ihre Gegner meistern.“ (https://www.marxists.org/deutsch/archiv/kautsky/1909/macht/9-zeitalter.htm)
  • 11. Steve A. Smith, Red Petrograd. Revolution in the Factory, 1917-1918: 150, vgl. auch David Mandel, The Petrograd Workers in the Russian Revolution. February 1917 - June 1918: 63, 216, 229.
  • 12. Smith, Red Petrograd: 3. In diesem Sinne argumentiert Smith auch gegen Klopoteks anderen Gewährsmann Otto Anweiler und dessen Behauptung eines Widerspruchs zwischen den vermeintlich syndikalistischen bis anarchistischen Bestrebungen der Arbeiter:innen in den Fabriken und dem Programm der Bolschewiki (vgl. ebd.: 150).
  • 13. David Mandel: The Petrograd Workers in the Russian Revolution: February 1917-June 1918.
  • 14. Mandel: The Petrograd Workers: 5.
  • 15. Siehe bspw. die Überblicksdarstellung in Pierre Broué: The German Revolution 1917-1923: 89ff., 129ff.
  • 16. Richard Müller: Geschichte der deutschen Revolution. Band I: 161ff.
  • 17.  https://www.marxists.org/deutsch/archiv/kautsky/1892/erfurter/5-klassenkampf.htm#t12 
  • 18. Lars T. Lih: Lenin Rediscovered. What ist to be done in context; ders.: https://johnriddell.com/2019/07/04/karl-kautsky-as-architect-of-the-october-revolution-part-1/; siehe aber auch die frühere, grundlegende Studie von Neil Harding: Lenin’s Political Thought: 169ff.
  • 19. Fredo Corvo dagegen wiederholt das entstellende Bild in seiner Replik, wenn er erklärt: “Die Ansichten der Bolschewiki standen und stehen im Gegensatz zu denen der Rätekommunisten. Lenin und Trotzki gingen als Bolschewisten davon aus, dass das kommunistische Bewusstsein nicht in der Arbeiterklasse, sondern bei den „Intellektuellen“ entsteht. Letztere mussten die unbewusste Klasse durch die Partei führen, indem sie ansprechende, aber manchmal geradezu irreführende Slogans wie „Alle Macht den Räten“ verwendeten. Einmal an der Macht, wurden die Räte durch die Gewerkschaften entmachtet und einer staatskapitalistischen Konzeption nach reformistischem Muster untergeordnet.” (https://arbeiterstimmen.wordpress.com/2021/11/02/bolschewismus-als-alternative-zu-selbstgewahlte-ohnmacht/ )
  • 20. Harding: 169, 230ff.; John Eric Marot, Class-Conflict, Political Competition and Social Transformation: Critical Perspectives on the Social History of the Russian Revolution, in: ders., The October Revolution in Prospect and Retrospect. Interventions in Russian and Soviet History: 151.
  • 21. Liebman, Leninism under Lenin: 148ff., 158ff.; Alexander Rabinowitch, Prelude to Revolution. The Petrograd Bolsheviks and the July 1917 Uprisings: 231; ders., Die Sowjetmacht. Die Revolution der Bolschewiki 1917: xxv
  • 22. Alexander Rabinowitch, Die Sowjetmacht: 456.
  • 23. Ein Einfluss, der zunächst weit über die Mitgliedschaft hinausging, wie die Erfolge in den Wahlen zu den Arbeiter-Kurien (den klassenmäßig getrennten Vorwahlen zur russischen Duma) in Petrograd und Moskau zeigten (August Nimtz, The Ballot, the Streets – or both?: 140).
  • 24. Liebman, Leninism under Lenin: 158.
  • 25. Otto Bauer, zit. nach Hans Hautmann, Die österreichische Revolution. Schriften zur Arbeiterbewegung 1917 bis 1920: 69.
  • 26. Marot, Class-Conflict, Political Competition and Social Transformation: 138.
  • 27. Eric Blanc, Revolutionary Social Democracy. Working-Class Politics Across the Russian Empire (1882-1917): 138
  • 28. Diese vorwärtstreibende Rolle der Bolschewiki zeigt auch, dass die Überlegungen von ARS ganz einseitig bleiben, wenn sie die Bedeutung von Parteien prinzipiell nur in ihrer konterrevolutionären Funktion erkennen zu können glauben. Etwa wenn sie gegen uns einwenden, dass “die Fähigkeit, sich in einer solchen Situation durchzusetzen, darauf beruhen könnte, den Bewegungen ihre revolutionäre Spitze zu nehmen.” (https://communaut.org/de/keine-mystik-zeiten-der-schwaeche) Im Gegenteil: die Bolschewiki setzen sich 1917 durch, weil sie eine radikale Lösung für die Probleme der Arbeiter:innenklasse in Russland formulierten, eine Lösung die die Arbeiter:innen als ihren Problemen angemessen erkannten und wählten. Und umgekehrt: Die Führung der Partei konnte die Aufstandsbestrebungen im Juli nicht deshalb stoppen, weil sie der Bewegung die radikale Spitze nahmen, sondern obwohl sie dies tat, indem sie ihre Autorität in dieser Situation in die Waagschale warfen, um eine verfrühte Machtprobe zu verhindern.
  • 29. David Mandel, The Petrograd Workers in the Russian Revolution. February 1917 - June 1918: 330
  • 30. …wie von unserem Kritiker Fredo Corvo: https://arbeiterstimmen.wordpress.com/2021/11/02/bolschewismus-als-alternative-zu-selbstgewahlte-ohnmacht/ .
  • 31. Alexander Rabinowitch, Die Sowjetmacht. Das erste Jahr: 529.
  • 32.  https://communaut.org/de/reihe-zur-geschichte-der-arbeiterinnenbewegung
  • 33. Georg Fülberth, 1971: Zur Genese des Revisionismus in der deutschen Sozialdemokratie. In: Das Argument.
  • 34. Siehe bspw. Karl Kautsky: Der Ursprung des Christentums, https://www.marxists.org/deutsch/archiv/kautsky/1908/christentum/4-6-sozdem.html
  • 35. Siehe bspw. Luxemburg Organisationsfragen der russischen Sozialdemokratie https://www.marxists.org/deutsch/archiv/luxemburg/1904/orgfrage/text.htm
  • 36. Karl Kautsky, The Republic and Social Democracy in France, in: Ben Lewis, Karl Kautsky on Democracy and Republicanism: 199.
  • 37. Karl Kautsky: The Republic and Social Democracy: 177.
  • 38. Wobei sich auch hier eine gewisse Ambivalenz in der Haltung zum Regierungseintritt des französischen Sozialisten Millerand 1899 zeigte. Kautsky entwarf in Reaktion auf diesen Vorgang eine Resolution für den Kongress der Internationale in Paris 1900, die den Eintritt eines Sozialisten in eine bürgerliche Regierung in Ausnahmefällen legitimierte (Mike Taber: Under the Socialist Banner. Resolutions of the Second International 1889-1912: 77).
  • 39.  https://books.google.at/books?id=OUCrBAAAQBAJ&printsec=frontcover&dq=ka…
  • 40. Mike Macnair, Revolutionary Strategy. Marxism and the Challenge of Left Unity: 62.
  • 41.  https://communaut.org/de/keine-mystik-zeiten-der-schwaeche 
  • 42. Dafür war die Partei zu diesem Zeitpunkt zunächst auch einfach zu schwach, wurde doch im Verlauf des Bürgerkriegs ihre soziale Basis in den urbanen Zentren zwischen Kriegseinsätzen, Hunger und Staatsaufgaben stark geschwächt (Rabinowich, Die Sowjetmacht. Das erste Jahr: 529ff.). In den drei Jahren nach der Revolution verloren Moskau und Petrograd 44.5% bzw. 57.5% ihrer Bevölkerung (E.H. Carr, The Bolshevik Revolution 1917-1923, Vol. 2: 195).
  • 43. Alexander Rabinowitch, Die Sowjetmacht. Das erste Jahr: 528ff.
  • 44. Lara Douds, Inside Lenins Government. Ideology, Power and Practice in the Early Soviet State: 125.
  • 45. Alexander Rabinowich, Die Sowjetmacht. Das erste Jahr: 527; vgl. auch Harding: 201ff.
  • 46. „Alles, was in Rußland vorgeht, ist begreiflich und eine unvermeidliche Kette von Ursachen und Wirkungen, deren Ausgangspunkte und Schlußsteine: das Versagen des deutschen Proletariats und die Okkupation Rußlands durch den deutschen Imperialismus. Es hieße, von Lenin und Genossen übermenschliches verlangen, wollte man ihnen auch noch zumuten, unter solchen Umständen die schönste Demokratie, die vorbildlichste Diktatur des Proletariats und eine blühende sozialistische Wirtschaft hervorzuzaubern. Sie haben durch ihre entschlossene revolutionäre Haltung, ihre vorbildliche Tatkraft und ihre unverbrüchliche Treue dem internationalen Sozialismus wahrhaftig geleistet, was unter so verteufelt schwierigen Verhältnissen zu leisten war. Das Gefährliche beginnt dort, wo sie aus der Not die Tugend machen, ihre von diesen fatalen Bedingungen aufgezwungene Taktik nunmehr theoretisch in allen Stücken fixieren und dem internationalen Proletariat als das Muster der sozialistischen Taktik zur Nachahmung empfehlen wollen. Wie sie sich damit selbst völlig unnötig im Lichte stehen und ihr wirkliches, unbestreitbares historisches Verdienst unter den Scheffel notgedrungener Fehltritte stellen, so erweisen sie dem internationalen Sozialismus, demzuliebe und um dessentwillen sie gestritten und gelitten, einen schlechten Dienst, wenn sie in seine Speicher als neue Erkenntnisse all die von Not und Zwang in Rußland eingegebenen Schiefheiten eintragen wollen, die letzten Endes nur Ausstrahlungen des Bankerotts des internationalen Sozialismus in diesem Weltkriege waren.” (Luxemburg Zur russischen Revolution, https://www.marxists.org/deutsch/archiv/luxemburg/1918/russrev/teil4.htm) Wobei Luxemburg gleichzeitig auf die unmittelbare Kollektivierung der Landwirtschaft drängte, was wohl das Bündnis mit den Bauern und Bäuerinnen sofort zerbrochen und eine noch terroristischere Herrschaft nach sich gezogen hätte.
  • 47. Das Verbot von Fraktionen wird zunächst auf dem 10. Parteitag der KPDSU verabschiedet (https://www.marxists.org/history/ussr/government/party-congress/10th/16…) und dann in der Resolution Leitsätze über den organisatorischen Aufbau der kommunistischen Parteien, über die Methoden und den Inhalt ihrer Arbeit, die 1921 beim 3. Weltkongress der Komintern angenommen: „Ebenso wenig ist innerhalb der Partei ein Machtgegensatz oder ein Kampf um die Herrschaft mit den von der Kommunistischen Internationale angenommenen Grundsätzen des demokratischen Zentralismus vereinbar.“ Die Notwendigkeit eines stetigen Säuberungsprozesses der kommunistischen Parteien, wurde zunächst auf dem 10. Parteitag der KPDSU und dann in der 13. der 21 Bedingungen der Aufnahme in die Kommunistische Internationale, die auf dem 2. Kongress der Komintern 1920 angenommen wurde, kodifziert: „Die kommunistischen Parteien aller Länder, in denen die Kommunisten legal arbeiten, müssen periodisch Reinigungen (Umregistrierungen) des Mitgliedsbestandes der Parteiorganisationen vornehmen, um die Partei planmäßig von den kleinbürgerlichen Elementen zu säubern, die sich unvermeidlich an sie anheften“ Darüber hinaus verlangt Bedingung 2, die Entfernung der Zentristen aus allen Posten, Bedingung 11, die Reinigung der Parlamentsfraktion. https://www.1000dokumente.de/index.html/index.html?c=dokument_ru&dokume…