Anmerkungen zur Organisations- und Strategiedebatte
Dieser Beitrag ist Teil der laufenden Debatte über Organisation und Strategie.
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Vorbemerkung
Wenn die hier begonnene Diskussion über Organisation und Strategie in erster Linie darum geführt wird, wie die Geschichte zu interpretieren ist, dürfte am Ende kaum eine Verständigung stehen. Notwendig ist eine Verständigung darüber, wie die aktuelle Situation hier und heute einzuschätzen ist – speziell in Deutschland. Als „Historiker:innen-Streit“ läuft die Org- und Strategie-Debatte aus meiner Sicht Gefahr, zu einem der bekannten Richtungsstreits zu werden, in der sich dann vielleicht Organisations- und Bewegungsfetischist:innen, Kautskyaner:innen und Anti-Kautskyaner:innen usw. gegenüberstehen und zum x-ten Mal die Schlachten der Vergangenheit geschlagen werden. Es geht also aus meiner Sicht weniger um die Suche nach irgendwelchen historischen Vorbildern, als vielmehr darum, uns Rechenschaft abzulegen über die weitreichenden Veränderungen der kapitalistischen Produktionsweise und entsprechender Ausprägungen der bürgerlichen Klassengesellschaft. Nur wenn das gelingt, lassen sich erfolgversprechende Ansätze für Organisation und Strategie von Kommunist:innen heute finden. Dabei sollte eigentlich allen Beteiligten klar sein, dass wir heutigen Kommunist:innen kein Produkt einer sich rasch ausbreitenden und in bedeutenden Teilen sich radikalisierenden „proletarischen Bewegung“ sind, wie etwa in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts oder in den 1920iger Jahren. (Heute sind die Lohnarbeiter:innen hierzulande in Industriebetrieben beispielsweise weitgehend „befreit“ von jedem kommunistischen Denken und Handeln!) Es ist fast ausschließlich eine gewisse Kontinuität der theoretischen Kritik am „Kapitalismus“ – und keinesfalls der praktischen „proletarischen Bewegung“ – durch die sich bestimmte kommunistische Sekten halten und immer wieder auch neue Gruppierungen entstehen. Die Frage der Organisation und Politik von Kommunist:innen ist heute nicht durch die sich entwickelnden und radikalisierenden Kämpfe der Lohnarbeiter:innen aufgeworfen! Sie stellt sich zunächst nur als eine Aufgabe der Überwindung eines versteinerten Sektierertums, dass jede Entwicklung ausschließt.
I
Da nun aber Katja, Marco und Lukas in ihrem Text für die Orientierung auf bestimmte Formen der Organisation sehr stark historisch argumentieren, will ich auch dazu kurz Stellung nehmen: Wie immer man über Parteien, Gewerkschaften, Genossenschaften und Räte denkt, sie alle waren historisch eindeutig ein Produkt der internationalen proletarischen Bewegung. Die Ergebnisse dieser Entwicklung, mit denen wir es heute zu tun haben, sind ernüchternd. Die Parteien, Gewerkschaften und Genossenschaften sind weitgehend integriert und „staatstragend“. Die Räte bestanden immer nur kurze Zeit bzw. wurden in der Sowjetunion oder auch in Jugoslawien selbst zu einem Zerrbild der „endlich entdeckten politischen Form, unter der die ökonomische Befreiung der Arbeit sich vollziehen kann “ (Marx) und kommunistischer Produktionsverhältnisse.
Vor diesem Hintergrund die Organisation in einer politischen Partei oder in einer Gewerkschaft grundsätzlich zu verwerfen und sich umstandslos positiv auf Räte als Garant für erfolgreiche soziale Emanzipation zu beziehen, geht jedenfalls aus meiner Sicht gar nicht. Die Räte sind durch die Praxis in der Sowjetunion und in Jugoslawien nicht weniger in Frage gestellt als die anderen Formen der Organisation von Lohnarbeiter:innen. Die Organisationsform der Räte bietet, wie jede andere Organisationsform auch, keine Gewähr für erfolgreiche soziale Emanzipation. Räte können sich gegenüber der Bewegung der Lohnarbeiter:innen genauso verselbständigen, wie politische Parteien und Gewerkschaften. Daraus aber zu schlussfolgern, dass jede formale Organisation des Teufels Werk ist, halte ich für fatal.
So wenig wie eine bestimmte Organisationsform den Erfolg im Klassenkampf und die erfolgreiche soziale Emanzipation garantieren kann, so wenig kann die Kritik bestimmter Organisationsformen den erbärmlichen Zustand der heutigen „Arbeiter:innenbewegung“ erklären. Zumindest in Deutschland ist das ja mehr Stillstand als Bewegung. Die Ursachen für den heutigen Zustand sind aus meiner Sicht sehr komplex: die Folge von Verrat, von verheerenden Niederlagen, von Zugeständnissen der herrschenden Klasse, der enormen Entwicklung der Produktivkraft der Arbeit, dem nicht zuletzt darauf basierenden ebenso beeindruckenden Wachstum des Kapitals nach dem zweiten Weltkrieg. Hinzu kommen speziell in Deutschland die nachhaltigen ideologischen Wirkungen des Nationalsozialismus und des Realsozialismus – etwa die vorherrschende Ideologie des Antikommunismus auch unter den Lohnarbeiter:innen.
Das Klassenbewusstsein von Lohnarbeiter:innen in Deutschland ist heute jedenfalls auf ein denkbar niedriges Niveau abgesunken. Entsprechend wenig entwickelt sind die Klassenkämpfe, in denen es speziell um die konkrete Gestaltung der Lohnarbeit geht (Lohn, Arbeitszeit, Rente usw.). Angriffe wie etwa die Agenda 2010 blieben im Grunde ohne Antwort durch die Klasse der Lohnarbeiter:innen. Es existiert insofern de facto keine Bewegung von Lohnarbeiter:innen, die nach selbständiger Organisation verlangt und diese auch erzeugt. Es existiert schon gar keine Bewegung unter Lohnarbeiter:innen, die nach revolutionärer Organisation verlangt.
Was es heute an kommunistischer Organisation in entwickelten kapitalistischen Ländern wie Deutschland gibt, ist auch das Produkt von Bewegungen, aber eben nicht Produkt einer selbständigen Bewegungen unter Lohnarbeiter:innen. Letztlich geht das, was es heute an kommunistischer Organisation gibt, zurück auf die Student:innen- und Jugendbewegung Ende der 1960er Jahre. Vorher war im Nachkriegsdeutschland-West überhaupt kaum kommunistische Literatur zugänglich. Diese Bewegung hat die Bresche geschlagen, von der die kommunistischen Sekten noch heute zehren. (Erinnert sei hier zum Beispiel an die Durchbrechung des KPD-Verbots und der damit verbundenen Verfolgung kommunistischer Agitation etc. Dieses Verbot richtete sich nicht speziell gegen marxistisch-leninistische Agitation, sondern gegen jede Agitation, die die Errichtung einer „Diktatur des Proletariats“ anstrebte und das Privateigentum an Produktionsmitteln beseitigen wollte. Wie stark diese Verfolgung nach dem zweiten Weltkrieg in der BRD war, ist beispielsweise eindrucksvoll beschrieben durch Heinrich Hannover, einem Rechtsanwalt, der damals Aktivist:innen der stalinistischen KP verteidigt hat.)
II
Im Kommunistischen Manifest heißt es:
„Die Arbeiter beginnen damit, Koalitionen gegen die Bourgeois zu bilden; sie treten zusammen zur Behauptung ihres Arbeitslohns. Sie stiften selbst dauernde Assoziationen, um sich für die gelegentlichen Empörungen zu verproviantieren. Stellenweis bricht der Kampf in Erneuten aus. Von Zeit zu Zeit siegen die Arbeiter, aber nur vorübergebend. Das eigentliche Resultat ihrer Kämpfe ist nicht der unmittelbare Erfolg, sondern die immer weiter um sich greifende Vereinigung der Arbeiter.“1
Das wurde 1848 geschrieben, als die moderne, internationale Arbeiter:innenbewegung sich noch kaum entwickelt hatte. Eindrucksvoll bestätigt wurde das durch die Entwicklung bis zum 1. Weltkrieg. Weniger die Erfolge, als die „um sich greifende Vereinigung der Arbeiter“ war das Resultat der Bewegung. Das Klassenbewusstsein, dass Lohnarbeiter:innen unter dem Einfluss der immer stärker werdenden Sozialdemokratie entwickelten (etwa mittels Zeitungen, Reden, Flugblättern und Bildungsarbeit), war nicht einheitlich und durchgehend revolutionär, aber es war auch revolutionär. Es hat nicht das Mitmachen im ersten imperialistischen Weltkrieg verhindert. Aber ohne dieses „im Schoße der Sozialdemokratie“ entwickelte auch revolutionäre Klassenbewusstsein hätte es die Revolutionen mit kommunistischer Tendenz in Russland und Deutschland nicht gegeben.2 Die Sozialdemokratie vor dem ersten Weltkrieg war gerade dadurch politische Organisation der Klasse, dass sie die wichtigsten Strömungen in der Arbeiter:innenbewegung in einer Organisation verband.
III
Die zitierte Aussage von Marx und Engels im Kommunistischen Manifest ist nicht nur für die revolutionäre Perspektive von Bedeutung sondern auch für jede größere oder kleinere Auseinandersetzung zwischen Lohnarbeit und Kapital in einzelnen Betrieben. Das habe ich jedenfalls in meinen beschränkten aber im Verhältnis doch recht zahlreichen Erfahrungen gelernt. Die meisten dieser Auseinandersetzungen erreichen nicht, was die Lohnarbeiter:innen wollen. Sie enden in Niederlagen oder Kompromissen. Und weil das so ist, finden sich Leute zusammen, die den Kampf weiter führen wollen, auch um vergleichsweise „popelige“ Forderungen, durch die Lohnarbeiter:innen ihren Bedürfnissen Geltung verschaffen wollen. Sie organisieren sich über den unmittelbaren Kampf hinaus. Sobald aber solche Auseinandersetzungen auch nur einigermaßen Fahrt aufnehmen und eine größere Zahl an Leuten sich daran beteiligt, stellt sich auch die Frage nach der Nutzung bestehender Organisationen, wie etwa des Vertrauensleutekörpers einer Gewerkschaft oder des Betriebsrates. Wenn sie auch nur einigermaßen intensiv geführt werden, schlagen sich die Auseinandersetzungen in einer veränderten Zusammensetzung des Vertrauensleutekörpers oder des Betriebsrates nieder. Dabei schert sich jede Bewegung, wenn sie denn eine wenigstens in Ansätzen selbständige Bewegung von Lohnarbeiter:innen ist, nicht die Bohne darum, was Revolutionäre über Gewerkschaften und Betriebsräte denken, ob sie diese grundsätzlich ablehnen oder nicht.
Auf Grund meiner Kenntnisse der Geschichte und auf Grund meiner Erfahrungen gehe ich also davon aus, dass es durch und in den Kämpfen von Lohnarbeiter:innen entschieden wird, welche bestehenden Organisation sie nutzen und welche neuen, eigenen sie entwickeln. Wenn die Lohnarbeiter:innen nicht aktiv für ihre Interessen kämpfen, stellen sich solche Fragen der Organisation auch nicht. Wenn Lohnarbeiter:innen nicht für ihre Interessen kämpfen, dann liegt das an objektiv bestehenden Arbeits- und Lebensumständen und subjektiv am Mangel von Klassenbewusstsein und nicht kurzschlüssig einfach am bürgerlichen Charakter der Organisationen, die geschaffen wurden. So, als hielten nur diese Organisationen die eigentlich zum Kampf bereiten Lohnarbeiter:innen von Kämpfen gegen das Kapital ab.
Das schließt im Umkehrschluss natürlich nicht aus, dass der „sozialpartnerschaftliche“ Charakter der gebildeten Organisationen sich negativ auf die Entwicklung von Klassenbewusstsein auswirkt. Gerade wenn man sich positiv auf die Selbstaufklärung der Massen bezieht, sollte man umgekehrt in Rechnung stellen, dass das Versagen dieser Selbstaufklärung den Charakter der Organisationen prägt. Eine Selbstaufklärung der Massen beginnt nicht erst mit der Revolution. Diese Revolution und ihre Aussicht auf Erfolg hängt entscheidend davon ab, inwieweit die Selbstaufklärung der Massen schon vor der Revolution zu bestimmten Bewusstseinsänderungen geführt hat. Die Perspektive sozialer Emanzipation, die Umwälzung der Produktionsverhältnisse wird sich in der Revolution nur durchsetzen, wenn im „friedlichen“ Vorfeld sozusagen unterschwellig eine sozialrevolutionäre Strömung einen entscheidenden Einfluss auf das Denken der Massen bekommt. Ohne feste Organisation der Kommunist:innen und eine gute, kontinuierliche Praxis dieser Organisation wird das nix. Eine soziale Revolution muss nicht nur objektiv sondern auch subjektiv vorbereitet sein. Ist sie das nicht, dann endet die Revolution in einer Niederlage … und bis jetzt sind nur die Niederlagen geblieben.
IV
Paul Mattik hatte eine klare Position zur Frage der Organisation im Kontext sozialer Revolution. Er schrieb:
„Es ist in der Tat nicht möglich, im Kapitalismus revolutionäre Massenorganisationen aufzubauen, da es der organisatorische Erfolg selbst ist, der die ursprüngliche revolutionäre Ideologie zerstört. Revolutionäre Organisationen müssen sich, um solche zu bleiben, von der ordinären Tagespolitik frei halten, was jedoch wiederum ihre eigene Entwicklung hindert. Das Dilemma der Arbeiterbewegung scheint demnach unlösbar, da beides, die aktive Anteilnahme an der gegebenen gesellschaftlichen Praxis und deren prinzipielle Verneinung, zur revolutionären Entmachtung führt. Diesem Dilemma kann man nur durch die spontane Bildung revolutionärer Organisationen entgehen, die innerhalb des Kapitalismus nicht von Dauer sein können. Mit anderen Worten: es ist die spontane Organisation der Revolution selbst, die das Dilemma der revolutionären Bewegung im Kapitalismus zu lösen vermag.“3
Und an anderer Stelle heißt es bei ihm, noch grundsätzlicher:
„Entwickelt sich und lebt der Kapitalismus „blind“, so kann auch die Revolution gegen den Kapitalismus sich nur „blind“ vollziehen. Eine andere Auffassung durchbricht den historischen Materialismus.“
So sehr ich Paul Mattick als Kritiker der Politischen Ökonomie schätze, so wenig halte ich von seinen politischen Positionen.4 Deshalb und weil in den 28 Thesen zur klassenlosen Klassengesellschaft in der ersten Ausgabe des Kosmoprolet Formulierungen stehen, die in die gleiche Richtung gehen, habe ich bei Eiszeit in Zürich vor längerer Zeit ein Referat gehalten, in dem ich das kritisiere. Das führte zu einer entsprechenden Kontroverse.
In den Thesen heißt es beispielsweise:
„Für die versprengten Unzufriedenen, die sich in tristen Zeiten in kommunistischen Zirkeln zusammenfinden und gelegentlich lange Thesen verfassen, bedeutet dies […], dass sie es ablehnen zu taktieren, um ‚Glaubwürdigkeit‘ zu buhlen und sich bei irgendwem mittels ‚realistischer‘ Programme anzubiedern, um ihre Trennung von der Masse der Lohnabhängigen zu überwinden…“.
Solche Sätze haben mich lange zögern lassen, ob es überhaupt einen Sinn macht, eine Kritik an diesen Thesen zu formulieren. Schließlich war meine ganze organisierte und unorganisierte Praxis davon geprägt, um „Glaubwürdigkeit“ zu buhlen, indem ich „realistische“ Programme mit entwickelte und für sie warb. „Realistisch“ hieß für mich klassenkämpferisch, aber nicht zwingend revolutionär. Das ermöglichte mir, aktuelle Kämpfe zu unterstützen und die „Trennung von der Masse der Lohnabhängigen“, dort wo ich aktiv war, wenigstens teilweise zu überwinden. Wenn ein „wahrnehmbarer“ Pol von Sozialrevolutionären geschaffen werden soll, dann geht es jedenfalls gar nicht, dass man sich aus der „ordinären Tagespolitik“ heraushält. Seit den Initiativen aus Leipzig und Zürich in der Corona-Pandemie, ist das wohl auch Schnee von gestern. Als ich meine Verwunderung darüber in einem Mail-Verteiler des Milieus zum Ausdruck brachte, antwortete mir ein Genosse aus Zürich u. a. wie folgt:
„1. Die Kiste, dass man als Revolutionär nicht an den Staat Forderungen stellen dürfte, die ist längst gegessen bei uns. Die Frage stellt sich nur, in welcher Form man sich an den Moloch richtet, also ob man eine Petition macht und die formell einreicht, oder Demos organisiert auf denen natürlich auch gefordert wird, dass man gefälligst möglichst viel Kohle vom Staat erhalten soll, wenn man den Job verliert.
2. Ich würde das ganze ja gerne nochmals in Ruhe diskutieren, wie etwa Reformen und Revolution zusammenhängen. Wie man sich darin bewegt etc. Aber momentan ist alles wahnsinnig dringlich, gerade auch in Hinblick darauf, dass überall Nachbarschaftsinis entstehen, in denen man sich bewegen kann. Da scheint es mir angemessen, radikale Forderungen aufzustellen (die vorliegenden sind ein totaler Schnellschuss) und in diesen Initiativen populär zu machen.“
Ich spürte in der Mail des Genossen das ernsthafte Bemühen, durch Einmischung in die Tagespolitik und die Formulierung bestimmter Forderungen die leidige Trennung von Lohnarbeiter:innen, die sich bewegen, zu überwinden. Das hat mich sehr gefreut. Gewundert habe ich mich, weil ich nichts davon mitbekommen habe, wann, wie und mit welchen Argumenten man sich von der alten Argumentation verabschiedet hat. Dies gilt auch für die AutorInnen von Was tun in Zeiten der Schwäche?
Das Problem jedenfalls der Beibehaltung des revolutionären Charakters einer Organisation lässt sich aus meiner Sicht nicht dadurch lösen, dass man sich aus der Tagespolitik heraushält und keine Forderungen an den Staat stellt. Soweit ich das überblicken kann, hat sich Mattick selbst an seine Vorgaben ja auch nicht so konsequent gehalten. (Er war sehr aktiv in der Arbeitslosenbewegung der USA der 1930er Jahre und hätte diese Zeit wohl kaum so positiv in Erinnerung behalten, wenn er dort nur über Revolution und Kommunismus gesprochen hätte.) Der revolutionäre Charakter einer Organisation lässt sich nur bewahren, wenn es gelingt die Einmischung in die Tagespolitik – in Gestalt konkreter Kritik an kapitalistischen Verhältnissen und der Agitation für bestimmte Forderungen im Interesse der Lohnarbeiter:innen – mit den langfristigen Zielen sozialer Revolution so zu verbinden, dass diese kommunistischen Ziele immer oberste Leitschnur bleiben. Das sollte sich ausdrücken in einem entsprechenden Programm und einer entsprechenden Praxis der Organisation. Das hinzukriegen, ist nicht einfach und der Stein der Weisen ist bis heute nicht gefunden, aber wenn das nicht gelingt, dann gibt es keine Perspektive. Die Form der Organisation ist jedenfalls aus meiner Sicht nicht das Problem, sondern eben diese Verbindung in einer organisierten Praxis.
V
Doch zurück zur aktuellen Situation, wie ich sie sehe, und was es zu tun gibt: Heute gibt es fast nichts von alle dem, was die alte Bewegung der Lohnarbeiter:innen gekennzeichnet hat und wir sind sozusagen auf einen Punkt vor Beginn einer selbständigen Bewegung der Lohnarbeiter:innen zurückgeworfen. Dabei haben wir aber obendrein die Hypothek der schweren historischen Fehlentwicklungen auf unseren Schultern. Es gibt kaum Kämpfe und es gibt keine Zeitungen, Reden, Flugblätter und keine Bildungsarbeit unter Lohnarbeiter:innen durch eine effektiv arbeitende Organisation von Kommunist:innen, die in der Lage wäre, in der Breite Klassenbewusstsein zu wecken und zu entwickeln. Von einem überzeugenden theoretischen Auftritt, um den Kommunismus wissenschaftlich zu begründen, will ich mal gar nicht reden. Überall Flickwerk und Sektiererei.
Aus alldem ergibt sich für mich, dass im Moment selbständige Organisationen der Klasse, sei es in Form politischer Partei, klassenkämpferischer Gewerkschaft, Genossenschaften oder gar Räten, nicht aktuell sind. Ob sich die Gruppen und Einzelpersonen, die Communaut tragen, jetzt dafür entscheiden, bestimmte in der Geschichte entwickelte Organisationsformen einer kämpferischen Bewegung der Lohnarbeiter:innen zu verwerfen oder in den Himmel zu heben, ist unmittelbar praktisch belanglos. Daraus sollte jedenfalls keiner der üblichen Richtungsstreits werden, um sich empört voneinander zu verabschieden, kaum das man begonnen hat. Über die Organisationsformen wird die Bewegung der Lohnarbeiter:innen selbst entscheiden. Bleibt die Bewegung der Klasse aus, dann bleibt auch ihre politische Organisation aus, egal in welcher Form! …. und man kann diese politische Organisation der Klasse nicht durch das Handeln politischer Sekten ersetzen.
Auch „antiautoritäre Kommunist:innen“ sollten sich unter den besonderen Bedingungen von heute darauf konzentrieren, einen Beitrag zur Überwindung des elenden Sektierertums zu leisten. Auch kleine Organisationen müssen es nicht pflegen! Schon wenn man das ernsthaft will, stellen sich genug praktische Aufgaben voller reformistischer und anderer Fallstricke.
Mit Communaut ist ein Instrument geschaffen, mit dem diese Verbindung, von der ich sprach, gelingen könnte. Die Erklärung der Redaktion ist ein guter Anfang, aber einen Plan für eine systematische theoretische und politische Arbeit sehe ich noch nicht.
VI
Katja, Marco und Lukas haben ja vor allem die „Anbetung der Spontaneität“ durch den Rätekommunismus kritisiert. Dazu hat Felix Klopotek in seiner Replik kritisch angemerkt:
„Ärgerlich ist auch das ostentative Missverständnis, wenn WEH sich über die Annahme echauffieren, dass ‚die proletarischen Massen ausgerechnet in einem chaotischen, spontanen Prozess ein revolutionäres Bewusstsein und eine Klarheit über ihre politischen Interessen ausbilden sollten, die sie zur Umwälzung der Gesellschaft befähigt‘. Was genau ist an einer Streikbewegung chaotisch? An einer Platzbesetzung oder einer militanten Demonstration? Festzustellen ist doch das Gegenteil: Jede weiß sich zu bewegen, in diesen Aufstandssituationen tun alle, wie von selbst, das Richtige, Menschen wachsen über sich hinaus und die Ängstlichen sind plötzlich mutig. ‚Chaotisch‘ sind diese Ereignisse nur aus einem ganz bestimmten Blickwinkel: Weil sie sich nicht verlängern lassen, weil sie nicht planbar sind. Sie sind nicht zu konservieren, das löst bei Betrachtern Angst aus: Was wird morgen sein? Diese Angst spricht aus dem ganzen Text: Sublimiert zur schalen Hoffnung, eine Garantieformel zu finden, mit der man es vermag, Bewegungen auf Dauer zu stellen, ihr plötzliches Aufflackern in Politik und Programm zu verwandeln, um dadurch ihr ebenso plötzliches Zurückebben zu verhindern.“
Liest man das Buch von Richard Müller – einem der revolutionären Obleute – über die Novemberrevolution in Deutschland, dann bekommt man einen Eindruck vom chaotischen Gang dieser Revolution. Dass alle da wie von selbst das Richtige taten, wäre eine kühne Behauptung!!!
Ich selbst war nur bei drei recht unterschiedlichen Streiks dabei: als Unterstützer beim Opelstreik 1973, als beschäftigter Maschinenschlosser bei der Betriebsbesetzung bei Mönninghoff 1983 und als Student und „Streikführer“ beim Streik im Sportinstitut der Uni Bochum Mitte der 1970er Jahre. In keiner dieser Situationen taten alle wie von selbst das Richtige. In jedem Fall erforderte es große Anstrengung, den „spontanen“ Streikbruch von Kolleg:innen zu verhindern und sich der Maßnahmen der Reaktion zu erwehren. In all diesen Fällen waren selbst die besten Aktivist:innen unerfahren und wussten oft nicht, was sie als nächstes machen sollten. In all diesen Fällen waren nicht nur Ängstliche plötzlich mutig, sondern auch Mutige plötzlich ängstlich. Aus den Sätzen von Klopotek spricht eine Idealisierung des Kampfes und der Spontaneität und diese Sicht ist Grundlage seiner Kritik am Text von Marco, Katja und Lukas und Grundlage seiner Einstellung zur Organisationsfrage.
Zweifellos ist die Spontaneität ein unersetzbares Element im Klassenkampf. Aus kommunistischer Sicht zählt sie zu den objektiven Bedingungen, unter denen die Aktivität von Kommunist:innen überhaupt Sinn macht. Sie ist Reaktion auf Missstände, die als unerträglich oder nicht hinnehmbar wahrgenommen werden. Agitation durch radikalisierte Minderheiten spielt aber in aller Regel eine entscheidende Rolle für eine wachsende Empörung, die schließlich zu den Kämpfen führt.
Werden aus den spontanen Kampfhandlungen keine bewussten Kampfhandlungen, in denen sich radikale Bedürfnisse artikulieren und entsprechende Ziele formuliert werden, auf die man sich verständigt, dann endet die Spontaneität im Katzenjammer und niemals in einer sozialen Revolution. In der Artikulation dieser radikalen Bedürfnisse und der Formulierung von Zielen drückt sich Bewusstheit aus, die niemals unmittelbares Resultat der Spontaneität ist, sondern Resultat von Reflexion und darauf beruhender Diskussion. Dieser Prozess hin zu bewussten Handlungen vollzieht sich im Meinungskampf unter den Lohnarbeiter:innen und den verschiedenen politischen Strömungen. All das kann man aus der Geschichte schon lernen. (Viele der von Außenstehenden als spontan bezeichnete Aktionen/Streiks sind oft wesentlich initiiert von organisierten Minderheiten. Es sind aber immer selbständige Aktionen von Lohnarbeiter:innen, mögen die Initiatoren nun Sozialrefomist:innen/Anarchist:innen/Syndikalist:innen oder Kommunist:innen sein.)
Die Frage, die sich Kommunist:innen heute ganz einfach stellt, ist, ob sie – in Anbetracht kaum entwickelter spontaner Klassenkämpfe als notwendiger Bedingung für soziale Revolution – warten wollen und gar darauf vertrauen, dass dann alle wie von selbst das Richtige tun, oder ob sie verstehen, dass der Kampf um soziale Emanzipation so nicht funktionieren kann und funktionieren wird. Wenn Kommunist:innen das verstanden haben, dann müssen sie sich zu radikaler, aber auch verständiger Kritik befähigen und radikale Bedürfnisse artikulieren, was im Kapitalismus immer auf die Formulierung bestimmter Forderungen hinausläuft. Die Organisation, die Kommunist:innen sich zu diesem Zweck geben, muss so gestaltet sein, dass sie dazu befähigt, aktiv Klassenbewusstsein zu fördern, Ziele zu formulieren und die Möglichkeit des Kommunismus aus der Kritik der Verhältnisse zu begründen. Diese Organisation muss letztlich auch befähigen, in allen gesellschaftlichen Bereichen organisiert aktiv zu sein! Letzteres ist freilich kein Anspruch, den man heute an die Gruppen und Einzelpersonen stellten kann, die Communaut tragen. Dafür ist die Zahl der Aktivist:innen viel zu klein und dazu fehlen auch die inhaltlichen Grundlagen. Davon träumen und eine solche Organisation anstreben darf man aber schon.
- 1. MEW 4, S. 470f.
- 2. Dass sich „im Schoße der internationalen Sozialdemokratie“ noch ganz andere Strömungen des Denkens entwickelten, hat Zeev Sternhell in seinem Buch „Die Entstehung der faschistischen Ideologie“ herausgearbeitet. Es handelt sich hier um Entwicklungen speziell in Frankreich und Italien und sie sind verbunden mit Namen wie Sorel, Mussolini und anderen. Die starke Entwicklung der Arbeiteiter:innenbewegung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts provozierte eben auch die Herausbildung unterschiedlicher theoretischer Strömungen innerhalb der sich entwickelnden sozialistischen Internationale. Der theoretische Streit fand zunächst innerhalb der Parteien dieser sozialistischen Internationale statt, die über viele Jahre eben Parteien waren, in denen sich ganz unterschiedliche Strömungen bildeten und gegeneinander kämpften.
- 3. Paul Mattick, Der Leninismus und die Arbeiterbewegung des Westens, in: Lenin. Revolution und Politik. Aufsätze von Paul Mattick, Bernd Rabehl, Juri Tynjavow und Ernest Mandel, Frankfurt am Main, 1970.
- 4. Was sein hier formuliertes Verständnis des historischen Materialismus angeht („blinder“ Geschichtsprozess), so geht das noch weit über den Schematismus hinaus, wie er in der 2. Internationale sein Zuhause hatte. Das hier weiter auszuführen, würde den Rahmen dieser Thesen sprengen.
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