Ungenau und Dogmatisch
Dieser Beitrag ist Teil der laufenden Debatte über Organisation und Strategie.
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Das sozialrevolutionäre Milieu stehe strategisch planlos da, weil es falschen Annahmen über Spontaneität und Organisation aufsitze, hieß es kürzlich in dem Beitrag »Was tun in Zeiten der Schwäche?« auf diesem Blog; an der Form der Partei komme man nicht vorbei, wenn man die Bildung des Proletariats zur politisch selbstständigen Klasse fördern will. Diesen Überlegungen widerspricht der folgende Debattenbeitrag.
Vorweg: Ich habe weder an den Debatten und Organisierungsversuchen, auf die sich Katja Wagner, Lukas Egger und Marco Hamann (im Folgenden: WEH) beziehen, teilgenommen noch bin ich Mitglied der Freundinnen der klassenlosen Gesellschaft. Die Anstrengungen, einen antiautoritären kommunistischen, theoretisch beschlagenen Pol innerhalb der Linken zu bilden, halte ich aber für unbedingt unterstützenswert. Umso erfreulicher, dass mit dem Blog Communaut ein flexibleres, offeneres Medium, als es Kosmoprolet sein kann, ins Leben gerufen wurde – und umso irritierender, dass bereits wenige Wochen nach dem Start des Blogs mit »Was tun in Zeiten der Schwäche?« ein Beitrag erscheint, der eine Absage an das Projekt einer »Polbildung« ist und von Wortwahl und Gestus her viel besser in analyse & kritik oder auf die Debattenseiten des Neuen Deutschland gepasst hätte. Nun kennt die Geschichte der Linken schon die kuriosesten Vorgänge; 1986 vereinigten sich die Reste der maostalinistischen KPD/ML mit den (in früheren Jahren von ihnen auch physisch bedrohten) Trotzkisten der GIM zur Vereinigten Sozialistischen Partei, ein paar Jahre zuvor wechselten ansatzlos ganze Kohorten von K-Grupplerinnen und Frankfurter Spontis zu den Grünen, um sich dort ebenso ansatzlos den Realos anzuschließen. Alles ist möglich, und wundersamerweise lässt sich – zumindest aus Sicht der Beteiligten – auch alles gut begründen.
Das ist das Problem mit »Was tun in Zeiten der Schwäche?«: Die Analyse ist zu ungenau und auf der anderen Seite zu selbstgewiss, ja selbstgefällig, als dass sie die strategische Debatte unter Kommunisten voranbringen könnte. Deshalb möchte ich mich im Folgenden auf einige Zwischenrufe beschränken, um auf die meiner Meinung nach gröbsten Ungenauigkeiten hinzuweisen. Vielleicht ist ihr Text nur zu verstehen, wenn man weiß, wo er sich indirekt und unausgesprochen auf eine interne Debatte bezieht. Deshalb ist seine Veröffentlichung erst recht ärgerlich, denn wer weiß schon von dieser Debatte?1
Mein grundlegendes Unverständnis besteht in Folgendem: Der Beitrag erscheint zu einem Zeitpunkt, an dem die parteiförmig organisierte Linke in Deutschland eine, gemessen an den letzten zwanzig Jahren, historische Niederlage hinnehmen musste. Gemeint sind die horrenden Stimmenverluste der Linkspartei bei den letzten Bundestagswahlen (und ist man bereit, den Kreis noch größer zu ziehen, kann man beobachten, dass die Linken in SPD und bei den Grünen, deren Engagement für den jeweiligen Wahlerfolg ihrer Partei maßgeblich war, in den Koalitionsverhandlungen keine Rolle spielen bzw. ihnen wieder mal nur die der nützlichen Idioten geblieben ist). Warum hebt der Text nicht damit an? Man kann diese Wahlniederlage durchaus als Endpunkt eines internationalen Zyklus begreifen, der 2002 mit dem Erfolg von zwei trotzkistischen Kandidaten bei den französischen Präsidentschaftswahlen (fast drei Millionen Stimmen und knapp zehn Prozent Stimmanteil) begann. Über den Erfolg des Partito della Rifondazione Comunista bei den italienischen Parlamentswahlen 2006 – die Partei wurde damals als »Bewegung der Bewegungen« verklärt –, die Erfolge der hiesigen Linkspartei nach 2005 aufgrund der Einführung der Hartz-Gesetze, die Triumphe von Podemos in Spanien und Syriza in Griechenland nach 2010, die Wahl des unabhängigen Sozialisten Jeremy Corbyn zum Vorsitzenden der Labour-Party (2015), die Sammlungsbewegung von Jean-Luc Mélenchon 2016 bis zu Bernie Sanders, dem US-Präsidenten der Herzen (ebenfalls 2016), spannt sich der Bogen sozialistischer Versuche der Organisierung und Umgruppierung. Linksradikale haben diese Erfolge kritisch, aber letztlich doch affirmativ begleitet, häufig agierten sie sogar in Schlüsselpositionen der Bewegungen. Von diesem Reigen sozialistischer Politik ist mindestens in Europa nichts geblieben – außer paradoxerweise der Dominanz des eigentlich totgeglaubten Linksliberalismus über die Reste der sozialistischen Militanten in den Bewegungen. Heute sind diese Parteien verschwunden (Partito della Rifondazione Comunista), die Hoffnungsträger von einst wieder unbekannt (Olivier Besancenot), verhinderte Volkstribunen wie Sahra Wagenknecht oder Mélenchon handeln längst nur noch auf eigene Rechnung, das Verhalten von Sanders, der 2016 in seine intrigant herbeigeführte Niederlage beim Nominierungsmarathon der Demokraten aus freien Stücken einwilligte, oder auch von Corbyn war schlicht erratisch. So groß die nationalen Unterschiede zwischen den Parteien, Bewegungen und Kandidaten auch waren, sie alle eint ein neuer Typ der Organisierung: die Verbindung von sozialer Bewegung, von antiautoritärem und spontanem Massenprotest, und einem institutionalisierten Apparat, der – strategisch, manchmal aber auch aus voller Überzeugung – systemkonform agiert, an Wahlen teilnimmt und die Massen mit der Aussicht auf Regierungsbeteiligungen regelrecht ködert. Diese Kreuzung aus Spontaneität und Institutionalisierung – aber dies nur als These – hat nicht nur nicht den Schwung der Massenbewegungen aufrechterhalten können, sondern dürfte auch viele Militante neutralisiert und in die Politikapparate integriert, haben – was der eigentliche Schaden ist. Diese Bewegungen haben keine Avantgarde hervorgebracht, sondern eine (zukünftige) Partei- und Politik-, also Staatselite.
Es wäre doch viel sinnvoller, mehr noch: redlicher gewesen, hätten WEH diese Partei-Bewegungs-Hybride einer Analyse unterzogen, sie hätten meinetwegen ins Kleinteilige gehen und die letztlich fruchtlosen hiesigen Debatten um eine »Neue Antikapitalistische Partei« oder die Gründung der Strömung »Bewegungslinke« innerhalb der Linkspartei rekapitulieren können. Die sinnvolle Ausgangsfrage wäre gewesen, wie Machthierarchien, sozialer Konformismus und Staatsaffirmation gerade auch die Kreise durchdringen, die für sich in Anspruch nehmen, den Sozialismus des 21. Jahrhunderts zu formulieren, gar zu verkörpern. Die klare Trennung zwischen einem nicht- oder gar anti-parlamentarischen Flügel und einer staatsnahen Linken hat sich im Zuge des (Schein-)Erfolgs dieser Hybride immer mehr verwischt – persönlich, moralisch, weltanschaulich und strukturell –, umso dringender wäre eine Aufarbeitung der letzten zwanzig Jahre Organisations- und Bewegungsgeschichte angebracht.2
Nichts davon bei WEH. Vielmehr gewinnt man den Eindruck, als gälte ihnen die marginalisierte, nein: längst historisierte Strömung des Rätekommunismus als Standard, den man vatermörderisch umzustürzen hätte (man schlage im Katalog der Nationalbibliothek nach, wie viele Bücher von Autoren aus dem rätekommunistischen Milieu in den letzten zwanzig Jahre auf Deutsch erschienen sind, man kommt, wenn ich richtig gezählt habe, immer noch mit einer Hand aus), und als wartete eine vom Spontaneitätswirrwarr noch ganz benommene Linke darauf, dass ihr schon wieder ein neuer Organisierungsansatz schmackhaft gemacht würde. Wenn WEH konstatieren
»Auf die strategischen Fragen, welche Rolle man als Kommunist:in in sozialen Kämpfen und politischen Auseinandersetzungen spielen sollte, welche Vermittlungsschritte zwischen unserem Endziel einer kommunistischen Gesellschaft und den gegenwärtigen Kämpfen nötig sind und in welchem Verhältnis die theoretische Auseinandersetzung in kleinen Theoriezirkeln zum politischen Geschehen steht, hat unser Milieu bei Lichte betrachtet wenig zu sagen.«3,
kann man eigentlich nur mit den Schultern zucken: Wer hätte denn viel zu sagen? Und warum sagen sie darüber selber so wenig? Beziehungsweise warum sagen sie es, der Ausdruck fiel bereits, so ungenau?
Zum Beispiel ist die Rede vom »Endziel einer kommunistischen Gesellschaft«. Kommunismus ist aber nicht nur eine Gesellschaftsform (und als solche kann sie gar kein Endziel sein), sondern auch und vor allem die Bewegung, die zu dieser Gesellschaftsform hinführt. Und zwar Bewegung in jeder Hinsicht: als Tendenz zunehmender Vergesellschaftung im Kapitalismus selbst (Herausbildung des general intellect; Tendenz zur Selbstaufhebung des Werts); als Programm der historischen Partei seit Marx und Engels (und Hess, Weitling, Proudhon, Cabet, Bakunin, Fourier, Stirner …); als spontane Massenbewegung gegen alle Formen der Kapitalherrschaft; als diffuser Untergrund des gemeinen Lebens (die Momente der Solidarität im Alltag, die Subversionen am Arbeitsplatz …), um überhaupt den Wahnsinn, der um uns herum und durch uns hindurch tobt, aushalten zu können. Den Kommunismus als Bewegung und nicht so sehr als Gesellschaftsform zu verstehen, impliziert bereits eine Analyse der Schritte, die über eine lokale und historische Beschränkung von Kämpfen und Selbstverständigungen hinausführen – also eine Analyse der Vermittlungen, die nichts anderes sind als unsere Praxis.
Die Ungenauigkeiten ziehen sich durch den ganzen Text: Etwa wenn WEH von »Phasen der Ruhe« sprechen, die in Wirklichkeit Phasen der Konterrevolution sind, in denen es gilt, zumindest den Faden der Theorie nicht abreißen zu lassen, was angesichts grassierender Enttäuschung und Niedergeschlagenheit höllisch anstrengend ist; wenn sie vom »Versagen« der »reformistischen und staatsloyalen Sozialdemokratie« und des Stalinismus sprechen – worin haben die denn versagt?!; wenn sie vom »selbstdestruktive(n) Klassenbündnis der Sozialdemokrat:innen mit den nationalen, bürgerlichen Kräften« sprechen, wo doch erst jenes Klassenbündnis nach 1914 und dann noch mal nach 1916, das nur ins Offensichtliche wendete, was sich seit Gründung der Partei abzeichnete und nicht nur im Revisionismus Bernsteinscher Prägung manifest wurde, den Weg der Sozialdemokratie zur Staatspartei schlechthin ebnete (was ihr bis heute, bis zu Olaf Scholz, die Existenz sichert); wenn sie schließlich davon sprechen, »eine Alternative zur herrschenden Ordnung zu entwickeln«, dabei ist der Kommunismus kein weiteres Angebot aus der Warenwelt politischer Moral, sondern eine Bewegung, die sich dialektisch, also über Widersprüche und Rückschläge, aus ihren Verstrickungen im kapitalistischen System der Bedürfnisse löst – jede Arbeiterbewegung beginnt als kapitalimmanente.
Bleiben wir weiter bei den Ungenauigkeiten: »Solange die Proletarisierten kein Bewusstsein über die tatsächlichen ökonomischen und politischen Verhältnisse gewinnen, gegen die sie anrennen, solange werden ihre Hoffnungen enttäuscht, ihre Energie und ihr Mut verpufft oder wird durch die staatsloyalen Kräfte vereinnahmt.« Welches Bewusstsein meinen sie? Denn die Proletarisierten haben offensichtlich (Klassen-)Bewusstsein, sonst hätten sie keine Hoffnung, die Aussage ist in sich widersprüchlich. Müsste es nicht eher »Kenntnisse« heißen (»Solange die Proletarisierten keine Kenntnisse über die tatsächlichen ökonomischen und politischen Verhältnisse gewinnen«…)? Und müssten wir nicht als erstes über die Kenntnisse, die die Proletarisierten bereits haben, etwas herauskriegen, ehe wir sie mit unseren Kenntnissen zu beglücken hoffen?
Ärgerlich ist auch das ostentative Missverständnis, wenn WEH sich über die Annahme echauffieren, dass »die proletarischen Massen ausgerechnet in einem chaotischen, spontanen Prozess ein revolutionäres Bewusstsein und eine Klarheit über ihre politischen Interessen ausbilden sollten, die sie zur Umwälzung der Gesellschaft befähigt«. Was genau ist an einer Streikbewegung chaotisch? An einer Platzbesetzung oder einer militanten Demonstration? Festzustellen ist doch das Gegenteil: Jede weiß sich zu bewegen, in diesen Aufstandssituationen tun alle, wie von selbst, das Richtige, Menschen wachsen über sich hinaus und die Ängstlichen sind plötzlich mutig. »Chaotisch« sind diese Ereignisse nur aus einem ganz bestimmten Blickwinkel: Weil sie sich nicht verlängern lassen, weil sie nicht planbar sind. Sie sind nicht zu konservieren, das löst bei Betrachtern Angst aus: Was wird morgen sein? Diese Angst spricht aus dem ganzen Text: sublimiert zur schalen Hoffnung, eine Garantieformel zu finden, mit der man es vermag, Bewegungen auf Dauer zu stellen, ihr plötzliches Aufflackern in Politik und Programm zu verwandeln, um dadurch ihr ebenso plötzliches Zurückebben zu verhindern. Zu insinuieren, der Rätekommunismus wäre daran gescheitert (»Und doch sind auch sie überall gescheitert, wo sie aufgetreten sind«), verrät ein völlig falsches Verständnis des Rätekommunismus – er ist, wie beschränkt auch immer, die Kritik aller Garantieformeln. Die Rätekommunisten wollten deshalb weder eine Bewegung sein noch eine neue stiften, sondern verstanden ihre Arbeit als Reflexionsform des Scheiterns bisheriger Arbeiterbewegungen.
WEH evozieren ein allzu idyllisches Bild von der Arbeiterbewegung – als wäre sie eine Fußballmannschaft, die bei anhaltender Erfolglosigkeit halt ihr Spielsystem wechselt, Sozialdemokratie, Bolschewismus, jetzt mal Rätekommunismus. Antiautoritäre, »ultralinke«, Strömungen sind aber mit aller Macht von den etablierten Organisationen, ob sozialdemokratisch oder (post-)bolschewistisch, bekämpft, ausgegrenzt und stigmatisiert worden. Eine weitere dem Text implizite Hoffnung, das antiautoritäre Wissen, wie es sich in den Texten von Endnotes oder den Freundinnen angesammelt hat, in eine neue, dauerhafte Parteiform überführen zu können, dürfte sich als weiteres Trugbild erweisen: Es würde genauso ausgegrenzt und stigmatisiert werden wie das frühere Wissen.
Es wundert nun nicht mehr, dass die drei Thesen, die WEH aus ihren Analysen entwickeln, unzulänglich sind: »Die revolutionären Massenbewegungen des frühen 20. Jahrhundert wären ohne die organisatorische Vorarbeit der sozialdemokratischen Parteien überhaupt nicht möglich gewesen.« Schlicht und einfach: Nein. Diese These wird durch keine nennenswerte sozialgeschichtliche Studie, ob sie sich auf die russische Revolution, die amerikanischen Wobblies oder die westeuropäische Bewegung der Massenstreiks bezieht, gestützt4. Es verhält sich umgekehrt: Diese Massenstreiks waren der Ausgangspunkt für eine Neubegründung des Marxismus als revolutionäre Theorie gegen Revisionismus und Zentrismus (Kautsky). Es stimmt, dass die sozialistischen und sozialdemokratischen Parteien den Rahmen abgaben, innerhalb dessen die Aufarbeitung der Massenstreiks und ersten Revolutionsversuche stattfand – ein Rahmen, der sich spätestens nach der zweiten, deprimierenden Massenstreikdebatte in der deutschen Sozialdemokratie nach 1911 als zu eng erwies. Ist die erste These falsch, knicken auch die folgenden, die auf ihr fußen, ein: »Arbeiter:innen können nur durch ihre Organisationen als Klasse handeln.« Auch das ist historisch falsch. Korrekter wäre es gewesen: Sozialistische Organisationen konnten nur dann an Handlungsmacht gewinnen, wenn sie sich auf die Klasse bezogen. Schließlich die dritte These: »Die Konstituierung der Lohnabhängigen zu einer politisch selbstständigen Klasse ist unweigerlich mit der Partei als Form der politischen Organisation verbunden.« Die Klasse der Lohnabhängigen ist immer eine Variable des kapitalistischen Systems, zu seiner Negation wird sie allein im Klassenkampf und dort auch erst nach einiger Zeit und in Zuspitzung einer Krise. Die Vorstellung, die Klasse könne sich zu einer »politischen selbstständigen« konstituieren – zu welchem Zeitpunkt eigentlich: vor, während oder nach einem Klassenkampf? – ist, derart dogmatisch gesetzt, ein Fantasma: als »politisch selbstständige«, also als anerkannte und als solche auf Partizipation hoffen könnende, wäre sie immer schon in die Demokratie integriert.
Der Schluss aus diesen drei Thesen ist ein weiterer schiefer Satz: »Die Hoffnung dagegen, dass die zuvor unorganisierten Massen zur treibenden Kraft der Revolution werden, erscheint zumindest unter der Voraussetzung fragwürdig, dass jene in vorrevolutionären Zeiten noch nicht einmal rudimentäre Formen von Klassenbewusstsein ausgebildet haben.« Nun, diese Gesellschaft organisiert uns permanent in den Zwangsformen ihrer Reproduktion – und nur in diesen sind die Momente des Widerstandes zu finden: »Alle gesellschaftlich integrierte Tätigkeit, obwohl ein Mittel der Herrschaft, zieht der Herrschaft gleichzeitig Grenzen«, schreibt Paul Mattick, und: »Der von anonymen Kräften und direkten Entscheidungen abhängige Arbeitsprozess enthält in organisatorischer und technologischer Hinsicht hinreichend Ansatzpunkte, um zentralistische Manipulationen zu erschweren, ja zu verhindern. Die Manipulateure können sich aus den Formen der Arbeitsteilung, die die Macht der zentralistischen Kontrolle oft einschränken, nicht befreien; sie können bestimmte Folgen der Industrialisierung nicht auslöschen, ohne ihre eigene Herrschaft zu gefährden.«5 Die Arbeiterklassen waren – und sind – nie unorganisiert. Nur nebenbei: Wenn die »zuvor unorganisierten Massen« nicht als »treibende Kraft der Revolution« die Partei überhaupt erst hervorbringen, wo käme sie dann eigentlich her? Welcher Demiurg hätte sie erschaffen, damit sie die passiv-fremdbestimmten Massen mit Klassenbewusstsein schwängern könnte?
Noch ein letzter Satz zu der »rätekommunistischen Tradition«. WEH schreiben: »Wenn wir aus der Geschichte der frühen Arbeiter:innenbewegung lernen wollen, dann sollten wir nicht nur die Schwächen und Fehler ihrer Organisationen benennen, sondern auch verstehen, dass sie zugleich die subjektiven Bedingungen für die Möglichkeit einer erfolgreichen proletarischen Revolution hergestellt haben. Dieser positive Beitrag wird in der rätekommunistischen Tradition weitgehend verleugnet und das politische Versagen der revolutionären Tendenz in der Sozialdemokratie nicht als ein solches reflektiert …« Wie geschichtsvergessen! Die Rätekommunisten waren Männer und Frauen der Partei, sie verfügten über mitunter jahrzehntelange Organisationserfahrung, es war ein schmerzhafter Prozess, ehe sie sich dazu durchringen konnten, mit ihrer eigenen Vergangenheit zu brechen. Die wussten schon, wovon sie sprachen…
Der Text von WEH steckt voller Dogmatismen: abstrakte Setzungen von vermeintlichen Sachverhalten, die sich so und nicht anders zugetragen haben sollen. Da treffen Alternativen aufeinander, finden Vorarbeiten statt (wo genau? Im Parlament? Im stillen Kämmerlein? Im Londoner Exil?), Parteien oder Strömungen versagen oder scheitern und das alles bloß, weil der Partei der richtige Kompass fehlte. Als negative Konsequenz ihres Organisationsfetischs unterstellen die Autoren dem Rätekommunismus die abstrakt radikale Verdammung der Parteiform. Nichts abwegiger als das: Arbeiterparteien sorgen (im besten Fall) für »die Verbreitung von Kenntnissen und Wissen sowie das Studium, die Diskussion und die Formulierung sozialer Ideen, um durch ihre Propaganda die Massen verstandesmäßig aufzuklären. Die Arbeiterräte sind die Organe der praktischen Aktion und des Kampfes der Arbeiterklasse; den Parteien kommt die Aufgabe zu, die geistigen Kräfte zu entwickeln. Ihre Arbeit ist ein unersetzbarer Bestandteil der Selbstbefreiung der Arbeiterklasse«, schrieb Anton Pannekoek noch 1947.6
Die »Zeiten der Schwäche«, die der Text konstatiert, bringt er an sich selbst zum Ausdruck. Über die richtige Einsicht in das Verhalten von Kommunisten geht er deshalb schnell hinweg und kanzelt sie ab: Die Intervention der kommunistischen Minderheit in soziale Kämpfe »beläuft sich (…) im Wesentlichen darauf, die Beschränktheit der Kämpfe zum Vorschein zu bringen und sie in Richtung einer radikalen Umwälzung der bestehenden Verhältnisse zu stoßen«. So ist es. So einfach, so mühsam und im Alltag kleinteilig. Aber vorsichtig, das soll »grundsätzliche Antipolitik« sein… Really? Dann her damit!
- 1. Aus diesem Grund – weil ich nicht weiß, wie der tatsächliche Verlauf der Debatte war – werde ich keine »Alternativen« und Verbesserungsvorschläge vorbringen und auch keine Ratschläge erteilen, sondern mich ausschließlich auf die Thesen von WEH beziehen.
- 2. Um ein Missverständnis zu vermeiden: Damit ist nicht unterstellt, dass WEH diesem neuesten Bewegungsansatz folgen und verkappte Anhänger der Linkspartei sind, sondern es sei lediglich angeregt, mit einer Untersuchung zur Organisationsfrage dort anzusetzen, wo Linke – und Linksradikale – sich in jüngster Zeit besonders euphorisch auf Organisationen bezogen und diese auch einigen Erfolg hatten.
- 3. Alle nicht ausgewiesenen Zitate stammen aus ihrem Text »Was tun in Zeiten der Schwäche?«.
- 4. Für meine Einleitung in Geschichte und Theorie des Rätekommunismus (Schmetterling Verlag 2021) habe ich mit folgenden Studien gearbeitet: Oskar Anweiler, »Die Rätebewegung in Russland 1905–1921«, Leiden 1958; Michael Grüttner, »Arbeitswelt an der Wasserkante. Sozialgeschichte der Hamburger Hafenarbeiter 1886–1914«, Göttingen 1984; Lothar Machtan, »Streiks im frühen deutschen Kaiserreich«, Frankfurt/M. u. New York 1983; S.A. Smith, »Red Petrograd. Revolution in the Factories, 1917–1918«, Cambridge u.a. 1983; Leo Trotzky. »Russland in der Revolution«, Dresden 1909; Marcel Van der Linden, »Neue Überlegungen zum Leninismus«, in: Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung, 34. Jg., Berlin Januar 1992; Benjamin Ziemann, »Gewalt im Ersten Weltkrieg. Töten, Überleben, Verweigern«, Essen 2013.
- 5. So Mattick in seinem Schlüsselessay »Spontaneität und Organisation« (1949; zitiert nach: Ders., »Spontaneität und Organisation. Vier Versuche über praktische und theoretische Probleme der Arbeiterbewegung«, Frankfurt/M. 1975, S.63 ). WEH zitieren auch aus diesem Essay – in der Absicht, listigerweise einen Rätekommunisten zur Bestätigung ihrer Absichten anzuführen: »Die Flucht in die Spontaneität kennzeichnet [dagegen] die tatsächliche oder eingebildete Unfähigkeit, wirkungsvolle Organisationsformen auszubilden und sich ‚realistisch‘ mit bestehenden Organisationen auseinanderzusetzen.« Seht, Mattick sagt es doch selbst! Freilich, das Zitat richtet sich gegen den abstrakten Spontaneismus einer Rosa Luxemburg. Paul Mattick bezieht sich in seinem Essay unausgesprochen auf Überlegungen von Heinz Langerhans, mit dem er damals im intensiven Austausch stand. Bereits 1931 hatte Langerhans geschrieben: "Des Handelns ewige Unschuld galt ihr als das wahre Leben der revolutionären Klasse. (...) Aber mit ihrer gläubigen Ehrfurcht vor der ›Schöpferkraft der Masse‹ hat Rosa Luxemburg durch diese Gläubigkeit die traditionelle marxistische Auffassung vom Verhältnis von Theorie und Praxis aufgegeben. Es kommt ihr schon nicht mehr auf ein rationales Begreifen der irrationalen Momente der Aktion an, sondern sie begnügt sich damit, das Irrationale der Aktion phänomenologisch zu beschreiben." (HL, »Rosa Luxemburg«, 1931, in »Die Gesellschaft. Internationale Revue für Sozialismus und Politik«, 8. Jg., Heft 1, S. 22ff.)
- 6. In: »5 Thesen über den Kampf der Arbeiterklasse gegen den Kapitalismus«, These 4, zitiert nach: marxists.org/deutsch/archiv/pannekoek/1947/05/5thesen.htm