Don‘t walk in line!

30. April 2023

Am 24. Februar 2022 griff Russland die Ukraine an. Die Linke war von dem Angriff Russlands auf die Ukraine überrumpelt und hatte dementsprechend große Schwierigkeiten, diesen Krieg analytisch wie politisch einzuordnen. Seit dem Ausbruch des Krieges hat communaut defätistische und antimilitaristische Beiträge veröffentlicht.  Der folgende Text will an die vorangegangenen Interventionen anknüpfen und gängige linke Argumente zum Krieg einer Kritik unterziehen. Unsere Überlegungen zielen auf eine Klassenpolitik ab, die sich nur aus einer antimilitaristischen Position zum (sowie im) Krieg ergeben kann. Wollen wir uns nicht in den Dienst des Krieges stellen, müssen wir an einer autonomen Strategie arbeiten. Tun wir dies nicht, laufen wir Gefahr im blutigen Kampf zwischen Staaten und Kapitalfraktionen zerrieben zu werden. Was wir unter einer Klassenposition (praktisch) verstehen, wollen wir im Weiteren ausführen. Zunächst zeigen wir auf, weshalb uns Kommunist:innen der Krieg in der Ukraine etwas angeht. Dann greifen wir die Idee eines militärischen Sieges der Ukraine an. Schließlich wollen wir die praktischen Implikationen einer Klassenpolitik in Kriegszeiten umreißen.

 

1.Was geht uns westliche Kommunist:innen der Krieg in der Ukraine an?

Der Ukrainekonflikt hat eine globale Dimension. Die Kämpfe finden auf dem Boden sich verschiebender geopolitischer Tektonik statt, weshalb der Krieg seinen lokalen bzw. binationalen Charakter weit überschreitet. Da wir deshalb als globale Linke tangiert sind, wollen wir zunächst den geopolitischen Kontext des Krieges beleuchten. Hier wird schnell deutlich, dass sich gegenwärtig in der Ukraine verschiedene Konfliktlinien kreuzen, mal recht offensichtlich mal kaum erkennbar. Leider hat die Linke seit Ausbruch des Krieges häufig mit schemenhafter Analyse versucht, der Situation habhaft zu werden. Oft verabschiedeten sich Genoss:innen von einer Klassenanalyse bzw. begruben den Klassenwiderspruch unter ihren fundamentalen Fehlurteilen. Der verbreiteten Annahme, dass nur Staaten Akteure in diesem Konflikt sind, wollen wir zudem entgegenstellen, dass bestimmte Privatkapitale den Konflikt prägen und eskalieren und der militärisch-industrielle Komplex gegenwärtig durch massive Aufrüstungsprogramme in allen Staaten gestärkt wird. Diese gleichzeitigen Entwicklungen– Aufrüstung in einer Situation sich zuspitzender globaler Konflikte- zeichnen das Bild einer düsteren Zukunft.

 

1.1.Geopolitik

Über die Gründe des Krieges sowie seinen Charakter herrscht nach wie vor größte Uneinigkeit. Um das Spektrum der Diskussion abzubilden, wollen wir zwei ‚linke‘ Erklärungsansätze kurz darstellen. Auf der einen Seite herrscht eine Art „verkürzter Realismus“ vor, der sich nur mit abstrakten Staatsinteressen beschäftigt. Wir bezeichnen ihn deshalb als verkürzten Realismus, weil meistens nur die Aktionen des Westens und der NATO betrachtet werden1. Russlands Krieg erscheint dann ausschließlich als Reaktion auf einen westlichen Imperialismus und implizit (oder manchmal sogar explizit) werden russische „Sicherheitsinteressen“ akzeptiert. Diese Perspektive wird vor allem von Autor:innen wie Jörg Kronauer,  der Jungen Welt oder dem Gegenstandpunkt eingenommen. Diese Betrachtungen lassen sich leicht für die in bestimmten Teilen der Friedensbewegung verbreiteten Forderung nach einem Friedensschluss mit Russland und einer Öffnung von Nordstream einspannen, um „unsere“ Wirtschaft zu retten.

Ein anderer, und meistens entgegengesetzter, Erklärungsansatz sieht den Krieg als Systemkonflikt zwischen Demokratie und Autoritarismus. Das ukrainische Volk tritt dabei als einheitlicher Akteur auf, der stellvertretend für uns alle einen nationalen Befreiungskampf gegen das russische Imperium führt. Kriegsgründe werden dabei ausschließlich in der Person Putins oder der russischen Rückständigkeit gesucht. Der Westen taucht dabei nur im Hintergrund als Helfer auf und gilt als kleineres Übel. Diese Sichtweise dominiert in anarchistischen und linksliberalen Kreisen. Dies führt in umgekehrter Weise wiederum zu einer Versöhnung mit der eigenen herrschenden Klasse. In einer Art pro-westlichem Antiimperialismus wird der Schulterschluss mit Militär und (Teilen) der Bourgeoisie gesucht. Beide Deutungen führen also im Endeffekt zu einer Verschleierung des Klassenwiderspruchs und letztendlich zu einer Burgfriedenspolitik. Im Gegensatz zu diesen einseitigen Betrachtungen gehen wir von verschiedenen Ebenen aus, die sich gegenseitig beeinflussen. Wir beziehen uns hierbei auf Susan Watkins, die von „fünf Kriegen in einem“ spricht.2

Erstens handelt es sich um einen ukrainischen Bürgerkrieg, der 2014 nach dem Maidan begann. Zwar wäre dieser Bürgerkrieg  ohne äußere Einmischung, sowohl von Russland als auch dem Westen, niemals so eskaliert, jedoch besitzt er eine eigene Dynamik3, die innerhalb der ukrainischen Gesellschaft liegt.

Zweitens findet ein Krieg Russlands sowohl gegen die Ukraine als auch gegen die NATO statt. Es geht dabei um die Sicherung bzw. den Ausbau des russischen Status als Regionalmacht, um das Zurückdrängen der NATO und um den Kampf gegen einen konkurrierenden ukrainischen Nationalismus.

Diese nationalistische Dimension spielt, drittens, auch aus Sicht der Ukraine eine große Rolle. Sie führt einen Krieg um ihre nationale Selbstbehauptung. Der ukrainische Nationalismus hat durch die russische Invasion einen riesigen Schub bekommen. Sowohl die ukrainische Dekommunisierungs- und Derussifizierungspolitik, als auch die russischen „Re-Education-Programme“ sind in diesem Kontext zu verstehen. Ein militärischer Sieg Russlands (der inzwischen sehr unwahrscheinlich ist) würde die Ukraine zu einem Gebiet unter russischer Herrschaft machen und vermutlich jeglicher nationaler Souveränität berauben.

Viertens handelt es sich natürlich um einen Stellvertreterkrieg des Westens gegen Russland. Dabei nutzt der Westen die Ukraine, um Russland von der Weltbühne zu verdrängen und mindestens als Konkurrenten auszuschalten oder sogar zu zerschlagen. Die ständigen öffentliche Aussagen westlicher Politiker:innen, z.B von Anna-Lena Baerbock, dass „jetzt noch nicht die Zeit für Friedensgespräche sei“ sind unter anderem aus dieser Perspektive zu betrachten. Russland ist noch zu stark, es sind noch nicht genug Soldaten gestorben und die Ökonomie zu wenig geschwächt. Der Begriff „Stellvertreterkrieg“ führt oft zu Verwirrungen und Missverständnissen. Wir können nicht, wollen wir die globalen Verhältnisse bzw. die Beweggründe von Konflikten verstehen, ausschließlich von zwei imperialistischen Blöcken ausgehen. Ein Stellvertreterkrieg bedeutet demnach nicht, dass ein oder mehrere Kriegsparteien lediglich die willenlosen Spielbälle von Großmächten sind. In jedem Stellvertreterkrieg haben auch die unmittelbar kriegführenden Nationen eigene Interessen und sind keine willenlosen Marionetten. Historisch haben wir das u.a. im Koreakrieg erlebt. Hier wurden in einem Krieg vorrangig die Interessen der UDSSR und der USA ausgetragen, gleichzeitig hatten Süd- und Nordkorea eigene politische Ziele und verfolgten diese auch im Kriegsgeschehen.

Fünftens haben wir es mit einem Konflikt zwischen den USA und China zu tun. Obwohl viele Militärstrateg:innen und Politiker:innen genau diese Dimension des Ukrainekrieg hervorheben, findet dieser Konflikt kaum Erwähnung in der Diskussion. 4 China versucht gegenwärtig  regionale Hegemonie zu erlangen und langfristig die USA als stärkste Supermacht abzulösen. Die USA versuchen dies zu verhindern, um ihre globale Vormachtstellung aufrechtzuerhalten und zu stärken. Sehr deutlich kann man diesen Konflikt anhand von Taiwan beobachten. Unter Führung (und nicht geringem Druck) der USA wollen die westlichen Staaten China davon abhalten Taiwan anzugreifen und zu besetzen. Um zu demonstrieren, was passiert, wenn westliche Verbündete angegriffen werden, wird nun ein Exempel in der Ukraine statuiert. Der Krieg, einschließlich der Sanktionen etc., müsse jetzt Russland empfindlich treffen, damit sich China nicht traut, Taiwan zu okkupieren. Hier wird die stetige Eskalation der letzten Jahre bzw. Jahrzehnte zwischen dem Westen und dem Osten sichtbar und gewinnt weiter an Fahrt. Unter Obama hat die Konzentration auf China, auch militärisch, begonnen. Die Strategie der USA bestand bisher darin, Taiwan weder als eigenen Staat noch als chinesisches Protektorat anzuerkennen. Diese Strategie der USA wird jedoch sukzessive fallengelassen. Es werden immer mehr Waffen nach Taiwan geliefert bei gleichzeitiger Symbolpolitik, wie beispielsweise der Taiwanbesuch der Politikerin Nancy Pelosi. Auch Chinas Politik deutet darauf hin, dass sie sich auf einen Krieg mit der USA vorbereiten. Viele westliche Militärstrateg:innen halten einen Krieg  zwischen den USA und China noch in diesem Jahrzehnt für wahrscheinlich.5

Zusätzlich zu diesen fünf Ebenen ist es wichtig zu beachten, dass es auch im westlichen Bündnis zahlreiche Konflikte und Spaltungen gibt. Wir halten den Begriff des „Westens“ oftmals für sinnvoll, um das westliche Staatenbündnis zu bezeichnen, wir sollten die Konfliktdynamiken innerhalb dieses Bündnisses aber mindestens im Hinterkopf behalten. So bilden zum Beispiel Großbritannien, die baltischen Staaten und Polen eine Gruppe, die bereits seit Jahrzehnten einen sehr offensiven Kurs gegen Russland vertreten, während Deutschland und Frankreich eher an einer Kooperation interessiert waren. Seit dem 24.02.2022 dominiert die härtere außenpolitische Position – dies kann sich aber mit der Zeit auch wieder ändern.

Die geopolitischen Entwicklungen des letzten Jahres sind mit Sicherheit die weitreichendsten seit der Ausrufung des globalen „War on Terror“ im Jahr 2001 durch George W. Bush, möglicherweise sogar seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Der Krieg zwischen der Ukraine und Russland ist eingebettet in größere Verschiebungen, dessen Folgen noch nicht klar abgesehen werden können. Einige Veränderungen kann man allerdings schon jetzt ausmachen, was uns die Dringlichkeit einer eigenständigen linken Politik verdeutlichen sollte. Zum einen ist es sehr wahrscheinlich, dass der Krieg weiter andauern und sich der Konflikt zwischen China und den USA verschärfen wird. Es gibt zwar immer wieder öffentliche Aussagen westlicher Politiker:innen oder Militärs, die eine Änderung des Kurses oder gar Friedensverhandlungen andeuten, diese wurden aber bisher immer wieder von Entscheidungen zu neuen Eskalationsschritten überholt. Eine neue Blockkonfrontation zwischen einem von den USA und einem von China geführten Lager könnte sich entwickeln. Dynamiken die auf eine Blockbildung hinwirken, sind die Sanktionen gegen Russland, die das Land vom Westen trennen sollen und die Umstrukturierung der globalen Energieinfrastruktur (mit ihren inflationären Ergebnissen). Aber auch die Anti-China Politik, die schon unter Präsident Obama begann und zu einer Entflechtung bestimmter ökonomischer Branchen führte, ist vor diesem Horizont zu bewerten Zum anderen hat der ukrainisch-russische Krieg bereits eine Destabilisierung Zentralasiens verursacht. Russland war bisher ein sehr einflussreicher Faktor in dieser Weltregion und hatte einen stabilisierenden Effekt auf verschiedene zwischenstaatliche Konflikte. Der schwindende Einfluss und die militärische Schwächung Russlands übersetzen sich bereits in das Aufflammen verschiedener Kämpfe, beispielsweise zwischen Aserbaidschan und Armenien oder Kirgistan und Tadschikistan.6 Um Missverständnissen vorzubeugen ist es wichtig zu betonen, dass alle genannten Punkte kein Grund für eine Unterstützung oder Entschuldigung Russlands bieten. Allerdings sollten wir auch nicht den Fehler machen diese Entwicklungen zu begrüßen.

Einige geopolitische Entwicklungen und ihre Auswirkungen auf das Proletariat sind noch nicht absehbar. Sicher ist allerdings, dass das Proletariat im Krieg kämpfen und sterben muss. Das können wir im russisch-ukrainischen Konflikt beobachten, wo  viele Männer entweder zwangsrekrutiert werden oder aus materieller Not der Armee beitreten. Wir zeigten, dass der Konflikt seine lokale Dimension weit überschreitet. Zahlreiche Konflikte schwelen bereits seit einigen Jahren und könnten sich nun zu handfesten militärischen Auseinandersetzungen entwickeln. Insbesondere die Konfrontation zwischen den USA und China könnte weiter an Fahrt gewinnen. Abgesehen vom Sterben auf dem Schlachtfeld, trägt das Proletariat auch andere negative Folgen des Krieges. Wie wir hier nur angedeutet , aber in dem Text 'Kampf ums Gas'7  ausführlich dargestellt haben, verändern Kriege Lieferketten, Ressourcenzufuhr, Infrastruktur etc. Dies hat Auswirkungen auf die Reproduktion der Lohnabhängigen. Meistens verursacht es steigende Kosten, Obdachlosigkeit, Hunger, Kälte, etc. Nur in seltenen Fällen und in kurzen Zeitspannen kann es zu einer Verbesserung der Lebensbedingungen der Arbeiter:innen kommen.

 

1.2. Krieg und Privatkapital

Unsere Analyse sollte aber nicht nur Staaten in den Blick nehmen, sondern alle Beteiligten des Krieges. Im Folgenden wollen wir daher zwei zentrale Aspekte des Verhältnisses von Kapital und Krieg thematisieren. Erstens wollen wir bestimmte Privatkapitale beleuchten, die zentrale Akteure des Krieges sind. Zweitens werden wir auf die Neuausrichtung des Rüstungssektors eingehen. Dieser stellt weltweit auf Produktion für einen konventionellen Krieg um, was von den westlichen Nationalstaaten (im Konflikt mit China) gewünscht wird. Dadurch wird der militärisch-industrielle Komplex gestärkt und einflussreicher.

Die wesentlichen Akteure in Kriegen sind nie nur Staaten, ebenso zentral sind Privatkapitale unterschiedlicher Sektoren. Diese sind zwar eng mit Nationalstaaten verbunden, aber in ihren Interessen doch von ihnen verschieden. Wie in allen Kriegen ist auch der Konflikt in der Ukraine ein gutes Beispiel dafür, wie konkurrierende Privatkapitale die Entwicklung und Eskalation des Krieges beeinflussen. Während einige Kapitalfraktionen in und außerhalb der Ukraine am Krieg Schaden nehmen, sind viele internationale Kernindustrien an einer Eskalation des Konflikts in der Ukraine interessiert. Diese starke Beteiligung von privaten Firmen sehen wir am Beispiel des Starlink-Unternehmens8 von Elon Musk, welches die militärische Internet-Infrastruktur zur Verfügung stellt über die Software9 der Firma Palantir10, welche maßgeblich zur Zielfindung eingesetzt wird bis hin zur klassischen Rüstungsindustrie wie beispielsweise Boeing und Saab, die den inzwischen angenommen Vorschlag machten, ihre günstigen und tausendfach verfügbaren Lenkraketen vom Typ GLSDB11 mit großer Reichweite in die Ukraine zu liefern. Britische und deutsche Rüstungsfirmen verhandeln darüber, Fabriken innerhalb der Ukraine aufzubauen, um möglichst nah an der Front zu produzieren.12 Ein weiteres deutsches Beispiel ist der Konzern Krauss-Maffei, der sich immer wieder in die öffentliche Diskussion einbrachte und Panzerlieferungen anbot.13 Man könnte hier eine lange Liste mit Konzernen aus aller Welt anführen - mit türkischen, britischen, tschechischen oder slowakischen Rüstungsunternehmen, die bereits in den Krieg verwickelt sind oder um Lieferungen buhlen. Vermutlich sieht es auf russischer Seite ähnlich aus. Hier existiert mit der  Söldnergruppe Wagner sogar ein Privatkapital, das  mit eigenen Truppen direkt in Kampfhandlungen verwickelt ist und unter anderem um den Zugang zu Rohstoffen in der Ukraine kämpft.14

Die nationalen Rüstungsindustrien konkurrieren auch um globale Exportmärkte. Neue Waffen können vorgeführt und unter Realbedingungen getestet werden. Ein eventueller Sieg oder eine Niederlage Russlands wird zu großen Veränderungen auf den internationalen Rüstungsmärkten führen15. Auch die westlichen Sanktionen, die schon seit 2014 auf den russischen Rüstungssektor zielen, haben einen dämpfenden Effekt auf die russischen Exporte. Es gibt bereits erste Anzeichen, dass Russlands Waffenexporte schwächeln, so konnten beispielsweise einige Lieferverträge mit Indien nicht eingehalten werden16. Die westlichen Kapitale hoffen, traditionell russische Märkte, wie z.B. in Teilen Afrikas und Asiens, zu erobern.

Doch auch die westliche Industrie gerät momentan an ihre Grenzen, weshalb bereits von unterschiedlichen Seiten eine „Ertüchtigung“ der Verteidigungsindustrie bis hin zur Kriegswirtschaft1718 gefordert wird. Momentan reicht z.B. die jährliche Munitionsproduktion bei weitem nicht aus, um den Verbrauch der Ukraine im Krieg zu decken. Viele westliche Staaten haben längst eine Erhöhung der Rüstungsausgaben angekündigt und die Industrie versucht ihre Produktion zu steigern. Auch in Deutschland war über Nacht die Bereitschaft da, Milliarden in das Militär zu investieren. Hier wurde nicht nur ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt, sondern auch das 2Prozent Ziel der NATO bekräftigt, welches momentan ca. 70 Milliarden Euro jährlich entsprechen würde. Ein anderes extremes Beispiel ist Polen, welches mittelfristig 5 Prozent seines BIP in die Aufrüstung stecken will. Geplant sind unter anderem die Anschaffung von 1300 Panzern und eine Vergrößerung der Truppe auf 300.000 Soldat:innen (,die natürlich alle ausgerüstet werden müssen).

Die staatlichen Investitionen in Kriegsmaterial sind ‚nötig‘, um die Ukraine militärisch weiter zu unterstützen, oder sogar in die Lage zu versetzen, Russland zu „besiegen“. Die westliche Rüstungsindustrie muss Schritt für Schritt ausgebaut und auf die Führung eines konventionellen Krieges ausgerichtet werden. Anders können die benötigten Mengen an Waffen, Munition und Ersatzteilen nicht bereitgestellt werden. Konventionelle Kriege sind bewaffnete Konflikte in denen militärische Großverbände aller Waffengattungen gegeneinander kämpfen. Sie sind im Gegensatz zur sogenannten „Aufstandsbekämpfung“ bzw. asymmetrischen Kriegsführung durch den Einsatz riesiger Mengen an Kriegsausrüstung geprägt. Die westlichen Militärs und Rüstungsindustrien (außer Südkorea) sind seit dem Ende des kalten Krieges auf die Führung asymmetrischer Kriege, wie beispielsweise in Afghanistan ausgerichtet.

Diese Stärkung des militärisch-industriellen Komplexes, der Umbau des Rüstungssektors sowie die Aufweichung der Waffen-Exportbeschränkungen werden nachhaltige Folgen haben. Stimmen19, die eine Umstellung auf Kriegsproduktion für den kommenden Konflikt mit China fordern werden lauter und finden immer mehr Gehör. Unverhohlen bezeichnen sie die Situation in der Ukraine als Chance, um endlich die notwendigen Schritte einzuleiten.

Doch für das Proletariat ist dies alles andere als eine Chance. Zum einen kann bereits beobachtet werden, dass der Krieg innenpolitisch (aber wahrscheinlich auch auf internationaler Ebene) als Grund für Einsparungen im Sozialen vorgeschoben wird. In Dänemark wurde zur Finanzierung der Streitkräfte ein gesetzlicher Feiertag gestrichen20 und es ist kein Zufall, dass in Frankreich gerade die Militärausgaben um ca. 20 Milliarden Euro pro Jahr erhöht wurden, während eine jährliche Rentenkürzung um 15 Milliarden Euro per Dekret durchgesetzt wurde. Zum anderen ist die ‚Ertüchtigung‘ des militärisch-industriellen Sektors mit unserer bereits erläuterten geopolitischen Zuspitzung zusammenzudenken. Internationale Konflikte haben, materiell betrachtet, unter diesen Bedingungen tatsächlich ein wesentlich höheres Eskalationspotential. Die notwendigen Kriegsmittel sind schließlich bereits richtig stationiert oder im Handumdrehen lieferbar. Auch trifft sich die Entscheidung militärische Mittel einzusetzen wesentlich leichter, wenn man davon ausgehen kann, dass die heimische Industrie genügend Kapazitäten für einen Abnutzungskrieg hat. Hardliner aller Couleur wollen uns weismachen, dass Aufrüstung Kriege unwahrscheinlicher macht oder nur zur Verteidigung gedacht sei. Egal, was diese Kriegstreiber:innen proklamieren, wir sollten diese Versprechungen nicht schlucken.

 

2. Militärische Gewinne?

Sowohl in der bürgerlichen als auch in Teilen der linken Debatte wird auf einen Sieg der Ukraine gesetzt. Dies halten wir für einen Irrweg. Im Folgenden wollen wir daher erstens zeigen, dass völlig unklar ist, wie ein Sieg der Ukraine aussehen und wie er erreicht werden soll. Zweitens wollen wir deutlich machen, dass auch ukrainische Offensiven mit hohen menschlichen Verlusten und Zerstörungen verbunden sind, da moderne, urbane Kriegsführung extrem brutal ist. Drittens gehen wir davon aus, dass der Krieg eine schwer zu kontrollierende Eigendynamik besitzt, die zur Eskalation treibt und zusätzlich durch das ungeplante und spontane Agieren der westlichen Staaten verstärkt wird.

Es wird meist angenommen, dass die Ukraine, sollte sie weiterhin die geforderten Waffenlieferungen aus dem Westen bekommen, militärische Erfolge feiern wird. Doch diese Idee ist unseres Erachtens nach eine riskante, doppelte Wette, denn sie spekuliert auf zwei gleichzeitige Entwicklungen: die Ukraine könne erstens Gebiete erobern und militärisch die Oberhand gewinnen und Russland damit zweitens in solchem Maße schwächen oder sogar besiegen, dass es sich gezwungen sieht an den Verhandlungstisch zu kommen. Was dies jedoch en détail bedeuten soll, ist völlig unklar: Was genau wäre ein militärischer Sieg der Ukraine? Zielt er auf die Rückeroberung ehemaliger Gebiete von vor 2014, inklusive der Krim, ab? Wird Russland so geschwächt, dass es auf alle weiteren Angriffe verzichtet? Wie viel Schwächung wird nötig sein, um Russland an den Verhandlungstisch zu zwingen? Oder wird gar angestrebt, Russland zu zerschlagen (was auch immer das genau bedeuten mag)?21

Nehmen wir diese Wette genauer unter die Lupe, wird immer fragwürdiger, wer für diese vage Versprechung eines 'Sieges' den Blutzoll zahlen soll. Gegenwärtig beschreiben militärische ‚Erfolge‘, die Einnahme oder Bombardierung von Städten. Militäranalyst:innen bezeichnen den Krieg zwischen der Ukraine und Russland als Abnutzungskrieg. Das bedeutet, dass beide Seiten so lange Waffen und Menschen an die Front schicken, bis Wirtschaft und/oder Moral der anderen Partei zusammenbricht. Die Zahlen sind sehr umstritten, aber wahrscheinlich gibt es bereits über 300.000 Tote und Verletzte22. Neben den Folgen des Abnutzungskrieges, ist auch der urbane Charakter des Krieges ein Grund für die hohen Opferzahlen. In den umkämpften Gebieten liegen viele Städte, in denen weiterhin tausende von Menschen leben. Der Einsatz von Streubomben sorgt dort für eine hohe Zahl ziviler Opfern. Dies passierte beispielsweise als Russland Mariupol angriff. Falls es der Ukraine gelingen sollte, eine neue Offensive zu starten und Russland zurückzudrängen, werden die Kämpfe ähnlich aussehen. Selbes gilt selbstverständlich für den Fall, sollte der Westen den ukrainischen Forderungen nach Streu- und Phosphorbomben23 nachkommen. Die Regionen Donetzk und Lughansk gehören zu den am dichtesten besiedelten Gebieten der Ukraine. Eine „humane“ Kriegsführung ist dort unmöglich. Dies ist tatsächlich keine Besonderheit des Ukrainekriegs, sondern typisch für moderne Kriegsführung. In der Vergangenheit sind sehr ähnliche Kriegstaktiken angewandt worden, man denke an den blutigen Angriff der Anti-IS Koalition auf Raqqa24. Aber auch im Donbass wird bereits seit 2014 in Städten und Wohngebieten mit schwerer Artillerie und Streumunition gekämpft.

Es ist sehr unwahrscheinlich, dass die Ukraine jetzt eine Offensive startet und der Krieg daraufhin in kurzer Zeit zum Erliegen kommt. Selbst wenn sich die Fronten verschieben, wird Russland voraussichtlich weiterkämpfen. Nicht selten kämpfte ein Aggressorstaat selbst nach einer entscheidenden Niederlage noch jahrelang weiter. Dies war zum Beispiel 1967 im sogenannten 6-Tage Krieg zwischen Israel und mehreren arabischen Staaten der Fall. Obwohl der Aggressor Ägypten bereits nach zwei Tagen eine schmachvolle Niederlage erlitt und sich zurückziehen musste, führte es noch drei weitere Jahre Krieg gegen Israel und griff nach einem kurzen Waffenstillstand 1974 erneut an. Russland wurde und wird zwar sicherlich geschwächt, aber es verfügt weiterhin über eine Rüstungsindustrie, die auf Hochtouren läuft, sowie über genug wehrfähige Bürger:innen, die es an die Front schicken kann. Mark Milley, ein US-amerikanischen General betonte vor kurzem, dass zeitnah kaum mit einem militärischen Sieg gerechnet werden kann, dass es allerdings politische Wege gäbe.25 Auch die westliche ‚defence community‘26 kommt zu ähnlichen Einschätzungen. Wenn nicht mal das Militär an einen militärischen Sieg gegen Russland glaubt, wieso sollten wir es dann tun?

Viel wahrscheinlicher ist eine weitere Eskalation oder Verlängerung des Krieges. Im „besten“ Fall entsteht ein eingefrorener Konflikt, bei dem beide Seiten sich auf eine Wiederaufnahme der Kämpfe vorbereiten. Doch die Gefahr einer Eskalation bleibt akut. Wir gehen davon aus, dass die ‚Strategie‘ des Westens nicht von langer Hand geplant ist und keinem eindeutigen Ziel folgt. Gerade aufgrund dieses hohen Maßes an Spontaneität auf westlicher Seite denken wir, dass die Situation leicht außer Kontrolle geraten kann. Noch Ende Februar und Anfang März 2022 glaubten viele westliche Politiker:innen, dass Russland den Krieg sehr schnell gewinnen würde und hielten sich mit Waffenlieferungen zurück. Scheinbar wurde dann eine Chance erkannt, Russland zu schwächen und die westliche Sicherheitsstruktur massiv zu stärken und neu auszurichten; nicht zuletzt in Vorbereitung auf den Konflikt mit China. Über das letzte Jahr waren die Eskalationsstufen stets nach demselben Muster gestrickt. Jedes Mal, wenn das russische Militär die Oberhand zu gewinnen drohte, gaben die westlichen Staaten dem Druck der Selenskyj-Regierung nach und lieferten mehr und schwerere Waffen. Bis dato lehnten es die deutsche sowie die amerikanische Regierung ab moderne Kampfpanzer zu schicken. Seit diese zugesichert wurden fordert Selenskyj Kampfjets, die nun auch geliefert wurden. Doch diese Eskalationsspirale hat auch rein technische Gründe: einzelne Waffensysteme lassen sich nur schlecht alleine einsetzen. Zur Unterstützung von Panzern braucht es Flugzeuge und gepanzerte Fahrzeuge. Der Einsatz einzelner Waffensysteme entfaltet also schon für sich eine Tendenz zur Eskalation und immer weiterer Lieferungen. Die schrittweise Eskalation der westlichen Waffenlieferung ist ein Zeichen des Scheiterns und nicht einer überlegten Politik. Dies erinnert an historische Kriegsverläufe zum Beispiel in Vietnam oder Korea, wo zu Beginn der Einsatz von Bodentruppen ausgeschlossen wurde...der Rest ist Geschichte.

Auf einen ‚Sieg‘ der Ukraine zu setzen, scheint uns eine falsche Vorstellung. Wir sollten nicht darauf hoffen, dass nach dem Blutvergießen bessere Welten auf das Proletariat warten. Es drohen nur immer weitere Gewaltspiralen und die zunehmende Zerstörung unserer Lebensbedingungen.

 

3. Keine linke Kriegsbeteiligung

Wir wollen im Folgenden fünf zentrale Narrative aus der linken Debatte über die Kriegsbeteiligung darstellen, um daraufhin unsere Perspektive zu verdeutlichen:

1.) drehte sich ein Teil der Debatte um die Frage der ‚Selbstverteidigung‘. Es wurde verhandelt, wie Ukrainer:innen und auch Linke auf einen Angriffskrieg praktisch reagieren sollten. In der Debatte erschien es oft so, als ginge es um die Frage individueller Verteidigung im Falle einer Aggression durch russische Soldat:innen. Um diese 'Selbstverteidigung' zu rechtfertigen, wurde zugleich erheblich simplifiziert: „wenn du nicht kämpfst, ist alles verloren!“

  1. 2.) wird immer wieder betont, dass eine linke militärische Praxis möglich und nötig sei.

  1. 3.) wird häufig angeführt, dass alles besser sei als eine russische Besatzung in der Ukraine.

  2. 4.) wurde unter anderem in konkret27 und AK28 behauptet, dass eine Linke, die in irgendeiner Form an der Gestaltung der ukrainischen Politik beteiligt sein wolle, an die Front müsse.

  3. 5.) wird angemahnt, dass Russland auf keinen Fall den Krieg gewinnen dürfe, da sonst autoritäre Systeme überall auf der Welt gestärkt würden.

  4. Die Perspektive der ersten Argumentation, der individuellen Selbstverteidigung, ist fundamental schief. Kein Krieg wird gewonnen oder verloren, nur weil einzelne Individuen sich verteidigen. Die Kernfrage der Diskussion müsste stattdessen unbedingt lauten: wie könnte eine linke Strategie im Krieg aussehen? Wie kann eine große Anzahl an Linken kollektiv agieren? Unserer Meinung nach ist eine Kriegsbeteiligung auf Seiten eines Nationalstaates keine linke Strategie, sondern markiert einen katastrophalen Irrweg. Wenn linke Kleingruppen sich dafür entscheiden in eine Armee einzutreten, um ‚ihre Nation zu verteidigen‘29, verurteilen wir das. Zusätzlich wird die Debatte zugespitzt, indem behauptet wird, dass es entweder den Kampf innerhalb der Armee oder die Aufgabe gibt. Wir sehen darin lediglich eine Wiederholung der westlichen und ukrainischen Kriegspropaganda und einen Angriff auf linke Klassenpolitik. Antimilitaristischer Kampf und Klassenkämpfe sind kein Aufgeben.

    Zweitens wurde viel über einen autonomen und linken Widerstand innerhalb, oder außerhalb der ukrainischen Armee diskutiert. Doch es gibt keinen autonomen militärischen Widerstand30. Alle Einheiten stehen unter dem Kommando der ukrainischen Militärführung, die über Strategien und die Verteilung von Ausrüstung entscheidet. Dies gilt auch für die territorialen Selbstverteidigungseinheiten und mit ziemlich großer Wahrscheinlichkeit auch für die Partisanen in den besetzten Gebieten. Anfängliche Versuche militärischer Selbstorganisation sind schnell gescheitert und die Beteiligten haben sich offiziellen Militäreinheiten angeschlossen. Interessanterweise haben sich Linke, wie schon 201431, auch rechten/faschistischen Regimentern wie Azov und dem rechen Sektor angeschlossen, da diese besser ausgerüstet und trainiert sind. Die einzige autonome Organisierung scheint außerhalb des Militärs und im zivilen Bereich möglich zu sein.

    Das dritte Argument, alles sei besser als eine russische Besatzung, greift unserer Meinung nach zu kurz. Vermutlich wird eine Vorkriegsukraine den russisch besetzten Gebieten gegenübergestellt, wobei natürlich klar ist, welches das schrecklichere Szenario ist. Allerdings existiert die Vorkriegsukraine nicht mehr. Teile des Landes sind bereits zerstört und es herrscht auf unbestimmte Zeit das Kriegsrecht. Es ist zunächst nicht naheliegend, dass nach dem Krieg die Bürgerrechte wiedereingeführt und z.B. die vorgenommenen Änderungen des Arbeitsrechts schnell wieder rückgängig gemacht werden. Wenn wir uns von dem Traum der Vorkriegsukraine verabschieden, dann ist zu überlegen, was schlimmer ist. Ein permanenter oder eskalierender Krieg oder eine russische Besatzung? Ohne die Verbrechen der Seperatisten-Regierungen und Russlands herunterspielen zu wollen, leuchtet es uns nicht ein, weshalb das Schlachten des Krieges „besser“ sein sollte als die Besatzung.

    Die vierte Annahme, die davon ausgeht, dass nur durch den militärischen Kampf politische Relevanz erlangt werden kann, ist ominös. Um welchen politischen Prozess geht es, an dem nur teilgenommen werden kann, wenn man sein ‚Vaterland‘ mit der Waffe verteidigt? Und sowieso, die Linke wird mit hoher Wahrscheinlichkeit aus bürgerlicher Politik ausgeschlossen, sobald sie bedeutend oder „gefährlich“ wird. Es ist nicht ungewöhnlich, dass linke Antimilitarist:innen als Verräter beschimpft werden und ein Ausschluss aus dem politischen Machtspiel mit diesem ‚Verrat‘ begründet wird. Dieses Schicksal ereilte auch jugsolawische oder andere Kriegsgegner:innen auf der ganzen Welt. Möglicherweise ist genau die gegenteilige Strategie richtig: gerade eine durchgehaltene, antimilitaristische Position ist wichtig, für eine weitere politische Entwicklung unter Kriegsbedingungen. Gruppen, die jetzt systematisch Fluchthilfe betreiben, eine kollektive Verteidigung gegen die Einberufung organisieren, Wärmehallen aufbauen, Schäden beseitigen und sich gegen die Zugriffe sowohl des ukrainischen Kapitals/Regierung als auch die russische Besatzung wehren, schaffen die Grundlage für eine linke Nachkriegspolitik.

    Das fünfte Argument, das behauptet ein russischer Sieg würde den globalen Autoritarismus stärken, verliert das ‚eigene‘ Lager aus dem Blick. Mit Polen und der Türkei befinden sich zwei aufstrebende autoritäre Staaten im westlichen Bündnis, die sowohl bereits jetzt massiv vom Krieg profitieren als auch bei einer Niederlage Russlands diesen Pol noch weiter stärken würden. Ein russischer Sieg und die Ausbreitung der „russischen Welt“ wären unbestritten ein schreckliches Szenario, wir dürfen jedoch im Eifer des Gefechts andere autoritäre Entwicklungen nicht aus dem Blick verlieren.

  5.  

4. Praktische Klassenpolitik

Die Haltung zum Krieg in der Ukraine ist für Linke außerhalb der Ukraine und Russlands nicht nur eine irrelevante Gesinnungsfrage ohne weitere Implikationen für ihr Leben und ihren gesellschaftlichen Kampf. Wir haben gezeigt, inwiefern der Krieg Ausdruck eines angespannten Weltgefüges ist, wie private Kapitale als Akteure im Krieg agieren und zu seiner Eskalation beitragen, dass der militärisch-industrielle Komplex gestärkt wird und warum es ein Irrweg ist, an einen militärischen Sieg der Ukraine zu glauben. Der Krieg greift alle Lebensbereiche des Proletariats an: vom erzwungenen Tod auf dem Schlachtfeld über Kürzungen der Sozialausgaben und Angriffe auf Arbeitsrechte bis hin zur Inflation und Energiekrise. Deshalb sollten wir uns diesem Projekt auf keinen Fall anschließen. Es gibt nichts zu gewinnen. Statt Kriegsbeteiligung als linke Strategie zu beschwören, wollen wir eine antimilitaristische Klassenpolitik andenken.

Unter Klassenpolitik verstehen wir eine politische Praxis, die einerseits im Hier und Jetzt für eine Verbesserung der Lebensbedingungen des Proletariats kämpft und sich gegen Angriffe von Staat und Kapital verteidigt und anderseits für die Errichtung einer sozialistischen Weltgesellschaft streitet. Wesentliche Elemente einer solchen Politik sind Selbstorganisation und der Aufbau demokratischer Strukturen. Wir betrachten antimilitaristische Politik als Klassenpolitik. da sie auf ein Ende des Krieges hinwirkt und somit auch auf die Angriffe auf das Leben und die Reproduktion des Proletariats antwortet.

Momentan agieren wir als Linke aus einer Position der Schwäche, da keine verlässlichen Strukturen der Klassenpolitik existieren. Dadurch rücken die Möglichkeiten von Aktionsformen des revolutionären Defätismus32, wie sie im ersten Weltkrieg durchgeführt wurden, in weite Ferne. Wenn die slowakischen Genoss:innen von Karmina in den insurgent notes33 fragen, ob ukrainische Linke als Defätist:innen die Luftabwehr sabotieren sollten, verweisen sie zurecht auf die Schwäche von abstrakten Defätismus-Forderungen, die die realen Kräfteverhältnisse ignorieren. Die Sabotage des eigenen Militärs im Krieg wird erst sinnvoll, sobald eine revolutionäre Linke ausreichend Stärke und internationale Wirkmächtigkeit entfaltet hat. In diesem Fall könnte es eine international zusammenarbeitende Linke dann aber auch mit imperialistischen Staaten aufnehmen. Die einzige Möglichkeit den Krieg und die Militarisierung wirklich zu beenden, wären massenhafte Streiks in der (Rüstungs-)Industrie, an den Universitäten, die militärische Forschung betreiben, sowie Sabotagen und Blockaden militärischer Infrastruktur. Unser langfristiges Ziel kann nur eine wirkmächtige Bewegung sein, die radikale antimilitaristische Forderungen durchsetzen bzw. erzwingen kann. Unter den jetzigen Umständen müssen wir in Deutschland allerdings zunächst die Kriegspropaganda bekämpfen. Gleichzeitig muss für einen antimilitaristischen Konsens innerhalb der Linken gestritten werden, bevor Streiks und Blockaden überhaupt denkbar sind. Antimilitaristische Positionen müssen fest in allen Teilen der Linken verankert werden – von der Klimabewegeung34 und Stadtteilinitiativen bis hin zu den Gewerkschaften.

Antimilitaristische Klassenpolitik ist in der Ukraine, in Deutschland und in Russland jeweils etwas sehr Verschiedenes. In der Ukraine existieren bereits solidarische Netzwerke, die trotz Krieg für ein besseres Leben kämpfen und Antikriegsaktionen durchführen. Wir haben das Interview mit der Gruppe Assembly35 übersetzt, die Wärmeräume für den Winter einrichteten, sich gegen die private Aneignung von öffentlichen Immobilien wehren, versuchen mit einem Onlinemagazin die staatliche Kriegspropaganda zu durchbrechen und Kriegsdienstverweigerer unterstützen. Außerdem gibt es beispielsweise die Gruppe „Revolutionäre Arbeiter Front“(RFU)36, die eine klar antimilitaristische Position vertritt und in verschiedenen Städten der Ukraine versucht gegen den Krieg zu mobilisieren.

In Russland und den sogenannten Volksrepubliken muss alles dafür getan werden, um den Krieg zu behindern. Beispiele aus den Vietnam-Kriegen zeigen, wie sich Soldat:innen des Aggressorstaats gegen ihre Vorgesetzten und ihre militärische Einheit wendeten. (Dies ging so weit, dass Soldat:innen als Mittel das sogenannte fragging einsetzen, d.h. ihre Offiziere im Kampfeinsatz mit Granaten töteten.37) Die Sabotage der Soldat:innen selbst sowie die riesige Antikriegsprotestwelle in den USA und weltweit führte dazu, dass nach langen Jahren der Krieg beendet wurde. Auch in Russland gibt es trotz massiver Repression Antikriegs-Proteste. Wehrfähige Männer versuchen dem Einzugs in die Armee zu entgehen und es gibt zahlreiche Berichte von Anschlägen auf militärisch wichtige Eisenbahnstrecken, sowohl in Russland als auch in Belarus. Zudem wird immer wieder von Anschlägen auf Einberufungsbüros berichtet38. In Russland fordern auch Frauen und Mütter die Rückkehr und den Verbleib ihrer (männlichen) Familienangehörigen, die in den Krieg geschickt wurden.

Auch historische Beispiele illustrieren, dass das Rad nicht neu erfunden werden muss und auch unter widrigen Bedingungen wie Diktaturen und militärischer Besatzung linke Organisierung und Widerstand möglich sind. Eindrucksvoll sind die Erfahrungen aus Jugoslawien. Linke wehrten sich gegen den Krieg und den Nationalismus gleichermaßen39. Anarchist:innen und Linke im heutigen Kroatien und Serbien, die sich an der Front eigentlich hätten bekämpfen sollen, tauschten als linke Gruppen Nachrichten und Informationen aus, unterstützten Kriegsdienstverweigerer40, druckten antimilitaristische Magazine und Zeitungen, verteilten Musik, die sich gegen den Krieg richtete, hielten Treffen ab und halfen sich bei dem Wiederaufbau zerstörter Häuser und Dörfer.

Dies sind nur erste Ansätze zu einer internationalen Klassenpolitik und ein kleiner Beitrag, um zu einem antimilitaristischen Konsens in der Linken beizutragen. Wir hoffen, dass wir hiermit weitere Diskussion anstoßen und letztlich weitere praktische Antworten auf den Krieg entwickeln können. Wir müssen uns organisieren statt uns ins Militär einzureihen!