Kampf ums Gas
‚Unsere‘ Gasversorgung ist seit der Ausweitung des Krieges in der Ukraine und den gedrosselten Erdgasexporten aus Russland plötzlich sehr prekär geworden. Das bedeutet, dass für Europa insgesamt keine rosigen Zeiten anbrechen, denn die ausbleibenden Lieferungen können zeitnah von keinem anderen Anbieter ersetzt werden. Es lässt sich davon ausgehen, dass die Gaspreise und damit einhergehend auch die Inflation in Europa mindestens die nächsten zwei Jahre auf hohem Niveau bleiben werden, währenddessen es auch zu Versorgungsausfällen kommen kann. Es steht daher viel auf dem Spiel, denn die Verfügbarkeit und die Preise von Gas betreffen die gesamte Ökonomie, inklusive der privaten Haushalte. Letzten Endes wird der ganze Schlamassel wie immer auf dem Rücken des Proletariats und der Natur ausgetragen und alle politisch versprochenen Alternativen sind niederschmetternd.
Die öffentliche Berichterstattung thematisiert permanent das Ringen der Regierungen um die Gasproblematik. Doch ihre Versprechungen, die Preise durch staatliches Handeln oder die Notenbankenpolitik in die Knie zu zwingen, täuschen über das Ausmaß des Problems hinweg. Wenn solchen Ankündigungen dennoch geglaubt wird, hat das auch damit zu tun, dass die stoffliche Seite der Inflationsproblematik selten wirklich durchdrungen wird. Spätestens seit den durch die globalen Reaktionen auf die Covid-Pandemie ausgelösten Lieferengpässen werden Begriffe wie „Bottlenecks“, „Engstellen“ oder „Supply Chain Contractions“ in zahlreichen Diskussionen um Preissteigerungen verwendet. Wir wollen anhand der europäischen Gasinfrastruktur deutlich machen, was sich hinter diesen recht abstrakten Begriffen verbirgt, und ihre Relevanz für die Inflation deutlich machen.
Gaspreise, Infrastruktur und Nachfrage
Grundlegend lässt sich zwischen zwei Ebenen der Preisentwicklung unterscheiden: erstens einer spekulativen und zweitens einer stofflichen Ebene. Die erste steht zunächst in keiner direkten Verbindung zur tatsächlichen Produktion und Verfügbarkeit von Waren im Allgemeinen und Gas im Besonderen, sondern bildet Erwartungen der Märkte hinsichtlich künftiger Angebots- und Nachfrageschwankungen sowie damit zusammenhängend der in Aussicht stehenden Rendite ab. Sie reagiert unter anderem auf geopolitische Ereignisse, die Schlüsse auf die zukünftige Marktentwicklung zulassen. Beispiele hierfür wären, dass die Gaspreise jeweils sprunghaft anstiegen, als Russland eine Mobilmachung ankündigte und als die inaktiven Nordstream-Pipelines gesprengt wurden.
Im Folgenden steht allerdings die stoffliche Seite des Gaspreises im Vordergrund, die durch Angebot, Nachfrage, Produktionsprozesse und Logistik bestimmt wird. Der Gaspreis kann sowohl von zufälligen Faktoren, die teilweise nicht voraussehbar sind, als auch von besagter Spekulation bestimmt werden. Die derzeitige und zukünftige Entwicklung der Gaspreise in Europa wird allerdings von drei im engeren Sinne materiellen Faktoren bestimmt und diese werden ihn vorerst auch auf hohem Niveau halten: erstens die Menge des Gases die weiterhin von Russland an die EU geliefert wird, zweitens die globale Nachfrage nach LNG (Liquefied Natural Gas), vor allem in Asien, und drittens der Aus- und Umbau der europäischen Energieinfrastruktur.
Europa importierte 2021 etwa 361 bcm1 Erdgas, davon 42% aus Russland.2 Drei Viertel des Gases wurden über Pipelines geliefert, der Rest als LNG. Die größten Pipeline-Lieferanten waren Russland (153 bcm), Norwegen (88 bcm), Nordafrika3 (40 bcm) und Aserbaidschan (8 bcm). Das LNG wurde vorwiegend über Spanien, Frankreich, Italien und die Niederlande importiert. Die Gasinfrastruktur ist dabei sehr komplex und besteht im Grunde aus drei wichtigen Bereichen: dem Pipelinenetz, LNG-Terminals und Gasspeichern. Die Pipelines verlaufen durch ganz Europa, Teile von Asien, Russland, durch die Türkei und Nordafrika. Sie verbinden die großen Produktionsstätten und die LNG-Terminals mit den Importstaaten. Dieses Netz wurde über die letzten 50 Jahre aufgebaut und ist aufs Engste mit den Lieferbeziehungen verschränkt, die sich in diesem Zeitraum herausbildeten. So gibt es z.B. Pipelines, wie jene zwischen Deutschland und Frankreich, die nur in eine Richtung liefern können; nämlich von Deutschland nach Frankreich. Zwar werden einige Anlagen nun umgerüstet, ein solcher Umbau der Infrastruktur ist jedoch mit erheblichem Aufwand und Kosten verbunden.
LNG-Terminals befinden sich grundsätzlich an den Küsten und dienen zur Annahme und Regasifizierung des verflüssigten Gases, das aus Übersee angeliefert wird. Pipelinegas wird normalerweise relativ günstig in langen Lieferverträgen und – durch die feste Infrastruktur bedingt – konkurrenzlos bezogen. Bei LNG ist das anders: Da es mit Tankern weltweit ausgeliefert werden kann, herrscht zugleich eine globale Konkurrenz um die Lieferungen.4 Dies wiederum treibt den Preis, was umso spürbarer wird, je höher der LNG-Anteil am Import ist. Voraussichtlich wird in Zukunft eine immer größere Menge des europäischen Gases als LNG aus den USA statt durch Pipelines aus Russland importiert werden. Prognosen rechnen mit einem Anteil von 40% bis zum Jahr 2030. Genau das wurde in den letzten Jahren wiederholt von Donald Trump und seiner Clique gefordert. Hieran wird deutlich, wie die oft beschworene „Diversifizierung der Energieversorgung“ in der Praxis aussehen wird.
Einmal angekommen, wird das Gas entweder direkt verbraucht oder in großen unterirdischen Speichern eingelagert. Von dort aus wird es anschließend bei erhöhtem Bedarf (z.B. im Winter) ins Pipelinenetz eingespeist. Die größten dieser Speicher innerhalb der EU stehen in Deutschland, Italien, Frankreich und den Niederlanden. Sind sie vollständig gefüllt, reicht im Falle Deutschlands das vorhandene Gas für etwa zwei durchschnittliche Wintermonate.
Die beschriebene Infrastruktur verteilt sich sehr ungleich über Europa und die verschiedenen Subregionen sind nur unzureichend miteinander verbunden. So verfügt Spanien z.B. über eine Überkapazität an LNG-Terminals, es fehlt jedoch an Pipelineverbindungen nach Zentraleuropa, um diesen Gasüberschuss zu transportieren. Auswirkungen verringerter Gaslieferungen aus Russland manifestieren sich dementsprechend regional sehr unterschiedlich. Eine Subregion bilden die Staaten Deutschland, Tschechien, Slowakei, Österreich, Ungarn und die Benelux-Länder5 Mit Ausnahme der Letztgenannten sind diese fünf Staaten die am stärksten gefährdeten Länder Europas; sollten die russischen Gaslieferungen weiterhin so niedrig sein oder sogar ganz ausfallen, wird es in ihnen voraussichtlich im Winter 2023/24 zu einer äußerst angespannten Versorgungslage oder sogar zu Ausfällen kommen.
Der Grund dafür ist, dass bisher nur die Niederlande und Belgien über voll funktionsfähige LNG-Terminals verfügen. Zugleich werden diese schon jetzt über ihrer Kapazität betrieben, weshalb es hier wenig Luft nach oben gibt. Zwar verfügen diese beiden Länder auch über Pipelineverbindungen nach Großbritannien, durch die momentan Gas geliefert wird, allerdings kehrt sich der Gasfluss im Regelfall im Winter um und England importiert dann Gas aus Europa. So wird es voraussichtlich auch diesen und nächsten Winter sein. Die russischen Importe können daher momentan nur über Belgien, die Niederlande und die norwegische Pipeline ausgeglichen werden. In Deutschland sind zwar zwei LNG-Terminals für den Winter 2022/23 und vier weitere bis 2026 geplant, allerdings vermehrt sich durch Terminals nicht das verfügbare LNG auf dem Weltmarkt. Was Deutschland über eigene Terminals importiert, wird teilweise den Niederlanden, Belgien und Großbritannien fehlen. Solange die globale LNG-Produktion nicht ausgebaut ist (was mehrere Jahre dauern wird), wäre das also ein Nullsummenspiel. Auch die Mengen, die über die geplante LNG Infrastruktur bewegt werden können, sind im Vergleich zu den russischen Lieferungen minimal. Zum Vergleich: Die beiden LNG-Terminals, die im Winter 2022/23 in Wilhelmshaven und Brunsbüttel in Betrieb gehen sollen, haben eine Kapazität von etwa 15 bcm. Nordstream 1 alleine konnte ca. 55 bcm befördern, Nordstream 2 nochmal so viel. Auch die neu eröffnete Baltic Pipeline, die norwegisches Gas von Dänemark nach Polen bringen soll, zweigt nur Gas ab, das zuvor nach Zentraleuropa geliefert wurde, und erhöht somit nicht die norwegische Exportmenge.
Rosige Aussichten
Derzeit wird die angespannte Versorgungslage durch zwei Faktoren abgemildert: Es ist bisher ein milder Winter und die Konjunktur in China schwächelt. Dies senkt einerseits den Bedarf in Europa und führt andererseits dazu, dass sich die Konkurrenz mit China um LNG auf dem Weltmarkt ein wenig entspannt. Außerdem sind die russischen Gaslieferungen zwar im Vergleich zu 2021 auf ca. 14% der Norm gefallen, die Gasspeicher konnten aber dieses Jahr noch zu nicht unwesentlichem Teil mit russischem Erdgas gefüllt werden. Selbst im unwahrscheinlichen Fall, dass sich diese relativ günstigen Bedingungen verstetigen, ergeben Berechnungen, dass sich bis zum Winter 2023/24 die Gasdepots nur unzureichend auf ca. 35% des Speichervolumens auffüllen lassen und es eventuell Versorgungsengpässe geben wird. Es ist klar, welchen Einfluss es hätte, wenn sich einige Faktoren zum Negativen verändern, z.B. ein ungewöhnlich kalter Winter eintritt, die Nachfrage in China steigt oder die russischen Gaslieferungen gänzlich zum Erliegen kommen.
Ein Gutachten mehrerer Wissenschaftsakademien kommt bezüglich eines solchen Szenarios zu folgendem Schluss:
„Bei einem sofortigen Ausfall der russischen Erdgasimporte könnten zu Hochlastzeiten im Winter in Europa etwa 25 % des Erdgasbedarfs (bezogen auf 2021) nicht gedeckt werden. Das Defizit ist infrastrukturell bedingt: Selbst bei ausreichender Verfügbarkeit von Erdgas auf dem Weltmarkt fehlen LNG-Terminals und Pipelines, um das Gas in Europa anzulanden und zu verteilen.“6
Auch die Kolleg:innen eines britischen Think Tanks gelangten für die mitteleuropäische Subregion kürzlich zu ähnlichen Einschätzungen. Ihnen zufolge wird die Auslastung der Gasspeicher um die 35%, die für den Winterbeginn 2023/24 erwartet wird, „katastrophal“. Durch den Winter zu kommen, ist dem Oxford Institute for Energy zufolge ohne „drastische Senkung der Nachfrage nach Gas in den betroffenen Ländern“ unmöglich.7
Einen ersten Vorgeschmack auf eine solche Situation erhielt Europa bereits im Jahr 2021. Anfang des Jahres stand der Gaspreis noch bei 26€/MWh 8, Endes des Jahres lag er bereits bei 180€/MWh. Russland hatte innerhalb des Jahres bereits weniger Gas geliefert 9, kalte Winter und eine nach Corona wieder anziehende Produktion in Europa, Asien und Südamerika erhöhten die Nachfrage. Dadurch konnten europäische und vor allem deutsche Gasspeicher nicht ausreichend gefüllt werden. Gasintensive Industrien begannen schon damals mit einer Drosselung ihrer Produktion. Durch Lieferstopps und den Krieg in der Ukraine stieg der Preis 2022 auf zeitweise über 300€/MWh und stand Mitte November bei ungefähr 115€/MWh. Obwohl Medien regelmäßig euphorisch von einem „Sinken“ des Gaspreises sprechen, ist das eine Vervierfachung des Preises vom Anfang des Vorjahres.
Europa will sich „schon weit vor 2030“ 10 aus der Abhängigkeit von russischem Gas befreien. Wie gezeigt, bleibt dabei aber das Kernproblem bestehen, dass das russische Gas nicht einfach ersetzt werden kann, da das Gasangebot objektive Grenzen hat. Die Pipelinekapazitäten Norwegens und Aserbaidschans sind momentan voll ausgelastet, geplante Produktions- und Exportsteigerungen bedürfen hoher Investitionen und werden mindestens einige Jahre in Anspruch nehmen. Außerdem wird in einigen Staaten wie den Niederlanden, Norwegen und Algerien in den kommenden Jahren die Gasproduktion spürbar sinken. LNG wird (lässt man Russland beiseite) hauptsächlich von den USA, Katar und Australien produziert und voraussichtlich können nur die Vereinigten Staaten ihre Produktion signifikant ausweiten. Katar und Australien auf der anderen Seite sind teilweise durch langfristige Lieferverträge an Asien gebunden und fallen daher als potenzielle LNG-Quellen für Europa aus.
Kurzzeitige Veränderungen des Gaspreises auf dem Markt sind natürlich immer möglich. Angesichts der in diesem Herbst bisher eher milden Temperaturen wurden die Gasspeicher in Deutschland weniger stark beansprucht als befürchtet. Zudem hatten zuvor bestimmte Industrien bereits ihren Verbrauch gedrosselt. So war erst mal kein Nachschub an Gas nötig; auf dem Spotmarkt, auf dem das unmittelbar verfügbare Gas gehandelt wird, fiel sein Preis im Oktober für kurze Zeit auf unter null Euro. Dies werden aber eher kurzlebige Phänomene bleiben. Optimistische Prognosen, die davon ausgehen, dass die Preise von Gas mittelfristig wieder sinken werden, stützen sich auf drei erwartete Entwicklungen: Sie nehmen an, dass entweder Russland bald wieder mehr Gas liefert, der europäische Infrastrukturumbau reibungslos funktioniert oder es eine ‚kontrollierte‘ Gasverbrauchssenkung geben wird. Aufgrund der Kriegsentwicklung und des Anschlags auf die Nordstream-Pipelines ist allerdings zumindest eine geopolitische Entspannung nicht in Sicht. Indessen finden tatsächlich unkontrollierte Gasverbrauchssenkungen bereits aus Profitabilitätsgründen in der Europäischen Union statt. Die europäische Zinn- und Aluminiumproduktion wurde auf die Hälfte ihrer Kapazität heruntergefahren. Eine Verstetigung dieses Trends will Europa aber gerade verhindern, da sie möglicherweise zu einem permanenten Verlust von Weltmarkanteilen führen würde. Das verringerte Angebot an europäischem Aluminium wurde bereits durch ein Hochfahren der chinesischen Produktion kompensiert. Das Produktionsmodell Deutschlands und anderer Länder in Mitteleuropa mit energieintensiver Industrie, betrieben durch billiges Gas, könnte dementsprechend auf eine mächtige Krise zusteuern.
An der bis hierhin beschriebenen Situation zeigt sich auch die Absurdität einer kapitalistisch organisierten Grundversorgung. Sie wird zu großen Teilen von privaten Firmen mit entsprechendem Profitinteresse bereitgestellt und betrieben. Wenn das Geld nicht stimmt, wird auch eine, vielleicht sogar sinnvolle, Infrastruktur nicht aufgebaut. Wenn von ‚unseren‘ vollen Gasspeichern die Rede ist, die infolge des politischen Wirkens der deutschen Bundesregierung gefüllt wurden, sollte bedacht werden, dass sie weitgehend in privater Hand sind. Und auch diejenigen, die sich in treuhänderischer Verwaltung der Bundesregierung befinden, arbeiten nach privatwirtschaftlichen Standards. Nur wenn die Bundesnetzagentur die Situation als Notfall einstuft, könnte das Gas ausschließlich in den deutschen Verbrauch fließen, sonst werden die Betreiber:innen das Gas mit hoher Gewinnspanne an die Meistbietenden auf dem internationalen Markt verkaufen.
Doch die Gasinfrastruktur ist nicht nur problematisch, weil sie kapitalistisch organisiert ist und privates Eigentum darstellt. Sie hat auch eine geopolitische Dimension. Die bisherige Abhängigkeit der Nationen, die über wenig Energieressourcen verfügen, von denen, die ihren Eigenbedarf decken und noch zusätzlich exportieren können, wurde von der gesamten Pipeline- und Lieferinfrastruktur zementiert. Diese geographisch/geologisch und infrastrukturell bedingten Abhängigkeiten werden zwingend zu einem Faktor in politischen Machtkämpfen – wie gerade an Russlands Umgang mit dem eigenen Gas sehr gut anschaulich wird. Der in Angriff genommene Umbau der Versorgungslage und die von Europa angestrebte Energiesouveränität erzeugen lediglich neue Abhängigkeiten und Ungleichgewichte. Die einen setzen ihre Verfügung über diese Ressourcen und die Abhängigkeit der Anderen als Druckmittel ein, die anderen Nationen haben ein Interesse, dass in den Exportregionen ihnen genehme Regierungen im Sattel sitzen und versuchen daher, wenn ihnen jemand nicht passt, auf einen Regimewechsel hinzuwirken. Die Energieinfrastruktur bildet daher stets infrastrukturell verfestigte geopolitische Macht- und Konfliktlinien ab. Der ganze Schlamassel ist damit nicht nur eine Frage von Privateigentum und Kapitalismus im engeren Sinne, sondern auch eine des Imperialismus.
Eine im Rahmen des Gegebenen einigermaßen rationale Reaktion auf die derzeitige Bredouille bestünde in einer großangelegten Transformation der europäischen Infrastruktur und einer gemeinsamen Organisation des Gaseinkaufs, was zugleich eine weitreichende europäische Koordination und Zusammenarbeit voraussetzen würde. Was wir in den letzten Monaten beobachten konnten, sah jedoch gänzlich anders aus. So waren Habeck & Co. ohne Partner aus ihrer „Wertegemeinschaft“ auf Diktatorentournee11, und auch die innerdeutschen Hilfsmaßnahmen wie der Gaspreisdeckel wurden gegen die Kritik zahlreicher europäischer Staaten beschlossen. Fünfzehn EU-Staaten fordern einen gemeinsamen Gaspreisdeckel – Deutschland gehört nicht dazu. Das Scheitern des Pipelineprojekts „Midcat“, das von Spanien durch Frankreich nach Deutschland verlaufen sollte, ist ein weiteres Beispiel. Schon lange geplant und bis zur spanisch-französischen Grenze in den Pyrenäen gebaut, wurden zwar die Verhandlungen nun wiederaufgenommen, nach einigem Hin und Her aber aufgrund von fehlendem französischem Interesse gleich wieder begraben. Dies alles sind Beispiele für knallharte nationale Interessenpolitik, die eine einigermaßen harmonische Bewältigung der kolossalen Problemstellung unwahrscheinlich machen.
Gas, Dünger, Weizen und der Klimawandel
Gaspreise wirken sich auf die Preise nahezu aller anderen Produkte aus. Besonders schlägt sich das in drei essentiellen Bereichen des Lebens und der Ökonomie nieder: Naheliegenderweise gilt dies erstens für die Heiz- und Stromkosten. In Europa bestimmt durch die sogenannte Merit-Order der am teuersten erzeugte Strom den gesamten Marktpreis. Steigt also der Gaspreis an, wie das in den letzten Monaten sehr stark der Fall war, zieht er auch den Strompreis mit in die Höhe – egal, ob die Verbraucher:innen Öko- oder Kohlestrom beziehen. Zweitens, wie bereits erwähnt, gilt dies für energieintensive Produktion wie etwa die Metall-, Papier- und Chemieindustrie. Und drittens benötigt die Landwirtschaft große Mengen an Gas, insbesondere für die Düngerproduktion. Düngerherstellung mit Stoffen wie Ammoniak und Stickstoff ist extrem energie- bzw. gasaufwändig. Seit der Eskalation des Krieges in der Ukraine und dem Anstieg der Gaspreise steht in Europa deshalb die Produktion von Dünger kurz vor dem Zusammenbruch.
Das ist vor allem deshalb gravierend, weil die Düngerproduktion mit der globalen Lebensmittelversorgung Hand in Hand geht. Da die Ukraine und Russland beides große Exporteure von Dünger und Düngergrundstoffen sind, die Sanktionen und Gegensanktionen im Zuge des Krieges ihre Ausfuhren aber blockiert haben, ist es zu einer inflationären Kettenreaktion gekommen. Die Düngerpreise schlagen sich insbesondere in Weizen- und Getreidepreisen und somit auch dem Preis von Brot nieder. Vor allem im globalen Süden wird dies die Versorgung mit Grundnahrungsmitteln erheblich beeinträchtigen, besonders wenn auch andere Getreide oder Soja von den Preissteigerungen betroffen sind. Zugleich wird Getreide nicht nur von Menschen konsumiert, sondern ca. 47% der globalen Ernte wird als Tierfutter verwendet und beeinflusst dadurch auch Fleisch- und Milchpreise. Russland und die Ukraine, auch zwei der größten globalen Weizenexporteure, lieferten 2021 noch ca. 28% des globalen Bedarfs. 2022 exportierte die Ukraine ca. 30% weniger Weizen über die blockierten Häfen als noch im Vorjahr. Auch für andere Getreide wie Mais und Gerste sind die beiden Staaten wichtige Exporteure.
Zu dieser an sich schon sehr ungünstigen Gemengelage tritt nun auch noch der Klimawandel als erschwerender Faktor hinzu. Zwar fielen die Ernten in Russland dank der höheren Temperaturen im Jahr 2022 ungewöhnlich gut aus. Doch gleichzeitig verminderten extreme Hitze und anhaltende Dürre die Erträge in vielen anderen Regionen wie z.B. in Teilen Südeuropas und den USA. Agronom:innen gehen davon aus, dass die globalen Weizen- und Nahrungsmittelpreise aufgrund der klimatischen Entwicklung nicht mehr unter das Niveau des Jahres 2008 fallen werden.
Der vom Kapitalismus hervorgerufene Klimawandel unterläuft gleichzeitig den europäischen Versuch, von russischem Gas kurzfristig unabhängig zu werden, indem man auf Kosten der ‚grünen Transformation‘ die Kohle- und Atomkraft hochfährt. Aufgrund der Hitze war der Wasserstand des Rheins so niedrig, dass Kohle nicht mehr per Schiff, sondern nur sehr umständlich per Zug zu den deutschen Kraftwerken transportiert werden konnte. Ein weiteres bizarres Beispiel sind die französischen Kernkraftwerke, die aufgrund zu hoher Wassertemperaturen in den Flüssen gedrosselt werden mussten. Wäre die Sache nicht so ernst, könnte man darüber lachen.
Unter diesen Vorzeichen erscheint eine Umstellung der Energieversorgung auf erneuerbare Quellen unrealistischer als je zuvor. Die Klimabilanz von LNG ist weitaus schlechter als die von Pipelinegas. Die Gasgewinnung durch Fracking z.B. in den USA oder Australien ist deutlich umweltschädlicher als die konventionelle Förderung in Finnland oder Russland. Auch die Verflüssigung des Gases ist ein energieaufwändiger und emissionsreicher Prozess. Eine nachhaltige Energieversorgung, die der Klimakatastrophe Rechnung trägt, müsste völlig anders aussehen. Langfristige Erwägungen werden jedoch kurzfristigen geopolitischen Erwägungen untergeordnet.
Es wird immer wieder behauptet, die Gasinfrastruktur könnte zukünftig für ‚grünen‘ Wasserstoff genutzt werden. Dies ist jedoch aus unterschiedlichen Gründen zu bezweifeln. Bisher ist unklar, woher der Wasserstoff kommen, wie er umweltschonend produziert und wie er transportiert werden soll. So ist z.B. ein Einspeisen von Wasserstoff in das bestehende Pipelinenetz nicht ohne weiteres möglich. Wasserstoff hat die Eigenschaft, viele Metalle zu korrodieren und zu ‚verspröden‘ – auch viele Stahltypen, die für Pipelines verwendet werden. Wahrscheinlicher ist, dass die jetzigen Investitionen zu einem sogenannten ‚fossilen Lock-in‘ führen. Das würde bedeuten, dass fossile Träger als alternativlose Energiequellen konsolidiert werden und Investitionen gerade nicht in den dringend notwendigen ökologischen Umbau fließen.
Fazit
Aus den dargelegten Gründen werden die Gaspreise in Europa in den nächsten Jahren mit Sicherheit hoch bleiben und möglicherweise wird es sogar zu Versorgungsausfällen kommen. Die infrastrukturellen Lösungen, die von den Regierungen angedacht werden, sind nicht so schnell umsetzbar wie häufig kolportiert – und mit Blick auf das Klima ein weiterer Schritt in die falsche Richtung. Im Ganzen betrachtet wirkt die Bredouille wie ein kolossaler Teufelskreis. Die kapitalistische Produktionsweise existiert in einer Welt von konkurrierenden Nationalstaaten und diese verfügen auf ihren Territorien über unterschiedliche Energieressourcen, die manche von ihnen in die Lage versetzen, als Exporteure der begehrten Stoffe zu fungieren, und andere in langfristige Abhängigkeit bringen. Gleichzeitig führt der imperiale Kampf aller gegen alle dazu, dass die Energieversorgungsketten zu permanenten Konfliktherden werden. Die gerade eskalierenden Konflikte, allen voran der Krieg in der Ukraine, der bereits tausende Menschen das Leben gekostet hat, erzeugen bei den Gasimportnationen ein Bedürfnis nach Energiesouveränität. Ihre dahingehenden Versuche werden aber vom Klimawandel erschwert, der allerdings selbst wiederum Ergebnis der kapitalistisch organisierten Energieversorgung ist. In Reaktion darauf werden neue kurzfristige Abhängigkeiten wie die von importiertem LNG aufgebaut, die den Klimawandel weiter beschleunigen und neue potenzielle geopolitische Krisenherde darstellen. Das Einzige, was diesen Zirkel vielleicht brechen könnte, wäre, wenn sich unter der lohnabhängigen Mehrheit der Bevölkerung, die die ganze Misere letztlich zu zahlen hat, die Einsicht verbreiten würde, dass auf das Kapital und seine Regierungen nicht zu zählen ist. Sowohl eine rationale Versorgung mit Energie als auch die Abwendung der schwelenden Klimakatastrophe wird entweder auf der Straße und in den Betrieben erzwungen, oder aber inmitten der Sachzwänge der kapitalistischen und geopolitischen Konkurrenz in eine immer fernere – und immer katastrophalere – Zukunft verschoben werden.
- 1. billion cubic metres = Milliarden Kubikmeter. 1 bcm entspricht einer Leistung von 9,77 Terrawattstunden.
- 2. Alle Informationen zu Liefermengen, Infrastruktur und Prognosen stützen sich, falls nicht anders angegeben, auf folgende Quellen: Szenarien für die Preisentwicklung von Energieträgern, EWI 06/2022; Sonderimpuls Energiepreise und Versorgungssichheit, Leopoldina, acatech, UDAW 07/2022 Europe’s Infrastructure and Supply Crisis, OIES, 09/22; Falling Like Dominoes: The Impact of Nord Stream on Russian Gas flows in Europe, OIES 08/22; Demand response to high gas prices in Europe in 2021 and early 2022, OIES 06/22 und die Podcastreihe Impact of Russia-Ukraine War on Energy Markets, OIES; Natural Gas in Europe - The Potential Impact of Disruptions to Supply, IMF 07/22.
- 3. Nordafrika wird in der Studie des OIES nicht genauer definiert, es ist aber anzunehmen, dass es sich hauptsächlich um Algerien und Libyen handelt.
- 4. Dies könnte sich in Zukunft etwas entspannen, etwa wenn es einen Ausbau von Infrastruktur zwischen Russland und China gibt. Möglicherweise würde China dann weniger LNG einkaufen müssen, was zu einer Senkung der Nachfrage auf dem Weltmarkt führen würde.
- 5. Belgien, Niederlande und Luxemburg
- 6. Sonderimpuls Energiepreise und Versorgungssicherheit, Leopoldina, acatech, UDAW 07/2022.
- 7. Europe’s Infrastructure and Supply Crisis, Oxford Institute for Energy, 09/2022.
- 8. Es sind im Folgenden immer die Preise an den europäischen Großhandelspunkten gemeint, vor allem die „TTF Front-Month prices“ einem gesamt-europäischen Vergleichswert. Wie sich der Preis im Einzelnen darstellt, ist abhängig vom Handels- und Lieferort. So gibt es z.B. auch einen großen Handelspunkt in Leipzig, die EEX. Der Preis, den wir zur Zeit mit Schrecken auf unserer Nebenkostenerhöhung lesen können, wird nicht nur von den Börsenpreisen beeinflusst, sondern auch von Netzentgelten, Steuern usw. Siehe dazu z.B.: https://www.enbw.com/energie-entdecken/energiewirtschaft-und-politik/en…
- 9. Es gibt unterschiedliche Erklärungsansätze dafür, weshalb Russland bereits 2021 weniger Gas lieferte: weil es aufgrund eines kalten Winters selbst mehr Gas verbrauchte, weil es die Gaspreise künstlich erhöhen wollte oder der Krieg gegen die Ukraine schon geplant war (https://a9w7k6q9.stackpathcdn.com/wpcms/wp-content/uploads/2022/08/Insi…).
- 10. https://ec.europa.eu/info/strategy/priorities-2019-2024/european-green-….
- 11. Katar, die VAR, Ägypten und Aserbaidschan sind nicht nur Diktaturen, in denen es zu schweren Menschenrechtsverstößen kommt, sondern auch regelmäßig in völkerrechtswidrige Kriege z.B im Jemen oder Nagorno Karabakh mit jeweils tausenden Toten verwickelt.