«Wir haben in diesem trostlosen Loch nichts zu verteidigen»
Das folgende Gespräch ist unsere Übersetzung eines Interviews, das vom internationalen Sekretariat der Anarchistischen Föderation Italiens (CRINT-FAI)1 mit dem ukrainischen anarchistischen Kollektiv Assembly aus Charkiw führte. Das Gespräch fand Ende des Sommers statt und ist ursprünglich auf der Homepage Umanita Nova veröffentlicht worden. Es werden u.a. Schlussfolgerungen aus den sechs Monaten des Krieges gezogen, seine Auswirkungen auf die ukrainische Arbeiter:innenklasse analysiert und es wird darüber gesprochen, warum "auf lokale Stimmen hören" nicht gleichbedeutend mit Solidarität mit dem ukrainischen Staat sein kann.
Unsere Redaktion stand ebenfalls in Austausch mit dem Assembly Kollektiv. Wir baten sie Mitte Oktober um ein kurzes Update der Situation in der Region Charkiw. Ihre Antwort auf diese Frage möchten wir dem Interview voranstellen:
Assembly: Mitte September eroberten die ukrainischen Truppen schließlich die Vororte zurück, sodass der tägliche und nächtliche Beschuss der Stadt aufhörte. Stattdessen konzentrierte sich die russische Armee darauf, kritische zivile Infrastrukturen anzugreifen: Am 11. und 12. September kam es durch ihre Raketen zu drei vollständigen Stromausfällen in der Stadt, eine weitere Rakete legte am Abend des 27. September den Strom in einem der Stadtteile lahm, ein weiterer teilweiser Stromausfall ereignete sich in der Nacht zum 4. Oktober, und heute in der Morgendämmerung wurden zum ersten Mal iranische Drohnen eingesetzt, um ein Öldepot anzugreifen. Es soll wohl ein Vorgeschmack auf die Eishölle sein, die uns erwartet, wenn die Temperaturen auf -20 Grad fallen. Unter diesen Bedingungen wäre die beste Unterstützung für die Zivilbevölkerung in den am stärksten beschossenen Gebieten (wie unserer Stadt) die Erlaubnis zur freien Ausreise ins Ausland - aber davon kann man wohl nur träumen. So müssen wir wohl nach Wegen suchen, um unsere Aktivitäten an die extremsten Bedingungen seit dem 24. Februar anzupassen!
CRINT-FAI: Könnt ihr etwas über die Situation in Charkiw, die Geschichte eurer Gruppe und eure Einbindung in die lokale politische Dynamik erzählen?
Assembly: Wir sind erst seit dem 30. März 2020 richtig aktiv. Seit in der Luft lag, dass der gewohnte Status quo endgültig zusammengebrochen war. Der Beginn einer globalen Pandemie hat uns überrascht! Es war ungewohnt, die ganze Zeit zu Hause zu bleiben. An einigen Arbeitsplätzen unserer Genoss:innen wurden die Gehälter um 20% gekürzt und man befürchtete Entlassungen. Aber ein paar Wochen nach Beginn der Quarantäne begannen wir mit der Entwicklung unserer Website, berichteten über akute soziale Probleme und halfen den Menschen, sich zusammenzuschließen, um sich angesichts der Krise gegenseitig direkt zu unterstützen.
Unser Argument ist folgendes: Wofür brauchen wir eine städtische Verwaltung, wenn mindestens 10 % der Bevölkerung unserer Stadt z.B. das öffentliche Verkehrssystem besser verstehen als der Bürgermeister und der Stadtrat. Die Website begann ihrem Namen alle Ehre zu machen und wurde bald zu einem Ort, an dem sich der friedliche Teil des sozialen Kampfes und der Selbstorganisation mit dem radikalen Untergrund treffen konnte. Wir berichteten über Ereignisse auf der Straße, Kämpfe am Arbeitsplatz und Fragen der Stadtentwicklung. Gleichzeitig versuchten wir auch, historisches Bewusstsein über die revolutionären Traditionen der Arbeiter:innenbewegung herzustellen.
Seit dem Ausbruch der Kampfhandlungen im Februar ist unsere Website zu einer Plattform geworden, die selbstorganisierte Hilfsaktionen vorstellt sowie koordiniert und zugleich aufzeigt, wie die lokale herrschende Klasse von diesem Massaker profitiert. Während wir im letzten Jahr pro Monat zwischen 20 000 und 30 000 Besuche auf der Seite hatten, ist die Zahl seit Frühlingsbeginn auf 80 000 bis 100 000 Zugriffe gestiegen!
CRINT-FAI: Ihr habt es geschafft, die Aktivität während des Konflikts aufrechtzuerhalten. Wie sieht eure tägliche Arbeit aus?
Assembly: Glücklicherweise oder unglücklicherweise sind wir das einzige anarchistische Kollektiv in der Ukraine, dessen Bekanntheitsgrad in diesen sechs schrecklichen Monaten deutlich zugenommen hat. Das liegt wahrscheinlich daran, dass Arbeiter:innen bei uns nützliche Informationen hinsichtlich täglicher Konfrontationen mit Chefs oder Beamt:innen finden können. Außerdem verurteilen wir beide kriegführenden Staaten: der Aggressor begeht offenen Völkermord an allem Ukrainischen; das "kleine leidende demokratische Opfer" hingegen hält den größten Teil der Bevölkerung als Geisel, um im Ausland noch blutigere Bilder zu zeigen und mehr Geld zu verlangen. Der ukrainische Staat raubt seine Leibeigenen mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln aus, während noch keine einzige russische Rakete ins Regierungsviertel geflogen ist. Diese Position unserer Gruppe wird von den Menschen geteilt, die in diesem trostlosen Loch ohne klare Zukunft nichts zu verteidigen haben. Das Hauptproblem ist, dass diese Zusammenarbeit mit den Menschen vor Ort bei den Leuten nicht den Wunsch wachsen lässt, mehr über den Anarchismus zu erfahren und seine Ideen zu verbreiten. Selbst Grassroot-Aktivist:innen und andere aktive Teile der Gesellschaft sind hier sehr unpolitisch.
CRINT-FAI: Was ist mit der Selensky Regierung? Wir haben über die neue Arbeitsgesetzgebung gelesen. Wie wirkt sich der Ausnahmezustand auf das tägliche Leben aus?
Assembly: Während in Russland die Niederlage im Krieg einige politische Veränderungen bedeuten würde (zumindest einen Staatsstreich und möglicherweise den Zerfall der russischen Föderation oder einen (Teil-)Verlust ihrer Souveränität), ist die Zukunft der Ukraine in jedem möglichen Szenario sehr traurig. Lange vor dem Krieg wurde Selensky, nicht ohne Grunde, oft mit dem jungen Putin verglichen. Als Ergebnis des Sieges könnten wir ein Regime bekommen, das nicht weniger diktatorisch ist als das russische. Ein sehr bezeichnendes Beispiel lieferte er diesen Monat, als er erklärte, dass die Grenzen für Männer bis zum Ende des Kriegsrechts nicht geöffnet würden. Es ist ihm egal, dass dies das gefragteste Petitionsthema auf seiner Website ist.
Über die Arbeitsgesetzgebung machen sich nur Europäer:innen Gedanken machen. Das ist zugleich sehr bezeichnend. Mindestens die Hälfte der Beschäftigten in der Ukraine arbeitet im informellen Sektor und selbst die offiziell Beschäftigten hören selten etwas über die Einhaltung von Arbeitsrechten und -garantien. Alles im Betrieb hängt von individuellen Vereinbarungen ab.
Vor allem aber macht sich die Arbeiter:innenklasse jetzt über andere Dinge Sorgen: die bereits erwähnten Straßenrazzien zur Ausstellung von Einberufungsbefehlen (am häufigsten in den östlichen und westlichen Grenzregionen) und die Notwendigkeit, den Wehrpflichtigen die Ausreise aus dem Land zu ermöglichen. Ja, Petitionen sind eigentlich nur zur Verbreitung von Informationen gedacht, aber es sind die ersten Versuche der ukrainischen Arbeiter:innen, ihre eigene Agenda auf nationaler Ebene zum Ausdruck zu bringen. Da Aktionen auf der Straße nicht mehr möglich sind, greifen sie auf das einzig verbliebene Mittel der Kommunikation mit den Behörden zurück.
Wahrscheinlich wären viele Ukrainer:innen erfreut, wenn der Staat als Ergebnis einer Kampagne der internationalen anarchistischen Bewegung seinen Griff lockern würde. Wenn die Antikriegserklärungen dieser Bewegung nicht nur Lippenbekenntnisse gewesen wären, hätten wir schon vor vielen Monaten große Demonstrationen vor den ukrainischen Botschaften für die Öffnung der Grenzen gesehen. Was soll man eigentlich noch sagen, wenn Anarchist:innen selbst am 1. Mai wichtigeres zu tun haben? Es scheint, dass man nirgendwo auf Hilfe warten kann. Man kann nur erahnen, wie viele ukrainische Familien noch sterben werden, weil sie sich nicht voneinander trennen wollen. Inwiefern unterscheiden sich die Anarchist:innen überhaupt noch von Politiker:innen, wenn sie Dinge verkünden, die sie nicht erfüllen werden?
Die einzige libertäre Massenstruktur, deren Worte sich nicht von den Taten unterschieden, ist die EZLN. Kurz nach der Invasion gingen sie auf die Straßen ihrer Ortschaften und verurteilten die Aggression bedingungslos, forderten den sofortigen Rückzug des russischen Militärs und hielten aber gleichzeitig den ukrainischen bürgerlichen Staat nicht für etwas prinzipiell besseres. Dieser Protest war symbolisch, es ist unwahrscheinlich, dass irgendwer im Kreml ihn überhaupt wahrgenommen hat, aber es scheint, dass sie alles getan haben, was ihnen möglich ist.
CRINT-FAI: Gibt es andere aktivistische oder solidarische Netzwerke, mit denen ihr in Verbindung steht, die während des Konflikts entstanden sind und die soziale Arbeit machen?
Assembly: Natürlich gibt es die, und zwar nicht nur eine. Erstens, unser großer Informationspartner ist ein Telegram-Kanal mit fast 75.000 Abonnent:innen, der Ende Mai entstanden ist und auf dem sich die Menschen gegenseitig vor Razzien nach Wehrpflichtigen und anderer Willkür der Strafverfolgungsbehörden warnen. Wir arbeiten auch mit der Freiwilligenorganisation „Build Help“ zusammen, die sich um die rasche Reparatur von durch Beschuss beschädigten Häusern in armen Gegenden kümmert. Um allgemeinere Fragen des Wiederaufbaus von Charkiw nach dem Krieg zu diskutieren, beteiligen wir uns an der Initiative „Alternative Kharkiw“, die vor zwei Jahren gegründet wurde. Dabei handelt es sich um einen informellen, horizontalen Zusammenschluss von Stadtplaner:innen, Umweltschützer:innen, Architekt:innen und Lokalhistoriker:innen, die sich dafür einsetzen, dass unsere Stadt dezentraler und weniger kommerziell ausgerichtet wird. Unser Konzept wurde Ende Mai vorgestellt.
Natürlich werden wir erst dann ernsthaft mit der Umsetzung dieser Ideen beginnen können, wenn die nächtlichen Angriffe mit ballistischen Raketen aufhören und die Menschen auf dem Weg zur Arbeit nicht mehr mit 220-mm-Streumunition beschossen werden. Es bleibt auch zu hoffen, dass sich die Stadt dadurch nicht vollständig leeren wird. Aber es gibt bereits einige Erfolge: die Behörden von Charkiw und die mit ihnen verbandelten Bauunternehmer:innen planen den Abriss historischer Gebäude, die durch die Bombardierung beschädigt wurden. Statt die alten Gebäude wiederaufzubauen, wollen sie dort kommerziell nutzbare Immobilien errichten. Der Versuch, ein fast 200 Jahre altes Haus, eines der ältesten Häuser unserer Stadt, auf diese Weise abzureißen, wurde bereits durch unser Eingreifen und das unserer Leser:innen gestoppt. Wir müssen die Situation täglich beobachten, denn sie bauen darauf, unsere Wachsamkeit zu schwächen.
Schaut man sich die internationale Solidarität an, so sieht es ganz anders aus. Letztes Jahr hat die internationale anarchistische Bewegung in knapp einem Monat 5.000 Euro für afghanische Anarchist:innen gesammelt, während wir von ausländischen Genossen bisher 1.500 Euro in einem halben Jahr erhalten haben. Und das, obwohl unsere Arbeit öffentlich bekannt ist, während im afghanischen Fall nichts über die Aktivitäten der Genoss:innen bekannt war, weder vor noch nach der Emigration (wir haben auch gespendet). Was soll man dazu sagen?
CRINT-FAI: Wie können wir Euch durch konkrete internationale Solidarität bei der Unterstützung von Kriegsopfern helfen?
Assembly: Da die Besatzer während der Belagerung regelmäßig wichtige zivile Infrastrukturen bombardiert haben, könnte die bevorstehende Heizperiode das größte Problem für unsere Städte sein. Wir bereiten jetzt einen gemeinschaftlichen Raum mit Heizung im Haus eines unserer Gruppenmitglieder am Rande der Industriegebiete von Charkiw vor. Ihr könnt auch den Kauf von humanitären Gütern von örtlichen Bauern unterstützen (dies haben wir allerdings im August ausgesetzt, da die Mittel begrenzt sind und wir nicht wissen, wie lange der Krieg dauern wird). Bitte beteiligt euch an unserer Haupt-Spendenaktion Mutual Aid Alert East Ukraine.
CRINT-FAI: Wie steht ihr zu den Themen Desertion und bewusster Kriegsdienstverweigerung, sowohl in der ukrainischen als auch in der russischen Armee?
Assembly: Oh, umfassende Berichterstattung über Anti-Kriegs-Boykott, Sabotage und andere direkte Aktionen sind seit den ersten Tagen der groß angelegten Invasion das Hauptthema unserer englischsprachigen internationalen Rubrik! Außerdem sollten wir verstehen, dass die nationale Einheit der Ukrainer:innen, die Selenskys Macht momentan stabilisiert, nur auf der Angst vor einer äußeren Bedrohung beruht. Deshalb sind die subversiven Antikriegsaktionen in Russland indirekt auch eine Bedrohung für die ukrainische herrschende Klasse, weshalb wir ihre Unterstützung als einen internationalistischen Akt betrachten. Nachdem die russischen Truppen ihr Offensivpotential weitgehend verloren hatten konnte man beobachten, dass sich auch in der Ukraine eine Welle der sozialen Unzufriedenheit zu zeigen begann.
Es sollte auch berücksichtigt werden, dass dieser Krieg bisher nur auf dem Territorium der Ukraine stattfindet. Trotz des Fehlens eines qualitativen Unterschieds zwischen den kriegführenden Staaten, muss man bestimmte Differenzen dennoch betonen: wenn alle russischen Soldaten aufhören würden zu kämpfen, würde der Krieg enden, wenn die ukrainischen Soldaten dies tun würden, wäre die Ukraine am Ende. Die Besatzungszone beginnt 20 km von der Ringstraße unserer Stadt entfernt, und wir wissen, was Besatzung bedeutet: das "Verschwinden" von allen, wenigstens ein bisschen politisch aktiven Menschen und die Steinzeit für den Rest der Bevölkerung. Also kann die Antikriegspropaganda unter solch unterschiedlichen Bedingungen nicht die gleiche sein. Forderungen zur Beendigung des Krieges sollten von Anarchist:innen an den Invasor gerichtet werden. Angewandt auf den ukrainischen Staats könnte man entweder die Beschleunigung eines militärischen Sieg oder Verhandlungen mit dem Kreml fordern (was der Kreml ja ebenfalls tut). Beide Positionen haben nichts mit sozialer Befreiung zu tun! Wir sind dafür, den Krieg dorthin zu verlagern, wo er herkommt, ihn von einem imperialistischen in einen sozialen Krieg zu verwandeln. Wenn das gelingt, wird den sozialen Kampf in der Ukraine nichts mehr aufhalten!
CRINT-FAI: Welche Auswirkungen hatte der Krieg auf die ukrainischen anarchistischen und andere radikalen Bewegungen?
Assembly: Einige Gruppen sind einfach verschwunden und der Rest - mit Ausnahme von uns - operiert als staatliche Einheiten weiter. Als politische Gruppen (wenn auch weit entfernt vom Anarchismus) sind sie im Grunde tot, und es sind keine Anzeichen für ihre Wiederbelebung als solche auszumachen. Man muss darauf hinweisen, dass verschiedene ukrainische Anarchisten aus unterschiedlichen Gründen der Armee beigetreten sind. Black Flag 2 versuchte, in den Reihen des Militärs und der breiteren Verteidigungsbewegung für den Anarchismus zu agitieren. Auch wenn sie nicht erfolgreich waren, halten wir ihre Erfahrungen für wertvoll. Wir haben uns in einem Interview aus den ersten Tagen des Krieges dazu geäußert. Andere hingegen schützen eher den ukrainischen Staat vor Angriffen von Anarchist:innen, weshalb wir ihnen genauso ablehnend gegenübertreten wie dem Staat.
Sie behaupten zwar allesamt, nicht für den Staat, sondern nur für das ukrainische Volk zu sein, aber selbst eine derart jesuitische Rhetorik macht sie nicht zu Revolutionären. Wenn Ihr den Streitkräften helfen wollt, von denen viele nicht einmal eine Schutzweste haben, ganz zu schweigen von anderer Ausrüstung, ja, in Ordnung, dann helft ihnen, knüpft nützliche Kontakte für die Nachkriegszeit, so wie Malatesta die kubanischen Rebellen gegen Spanien und die libyschen gegen Italien unterstützte. Selbst Zelenskys rechte Gegner haben kein Problem damit, jeden Fall solcher Ungerechtigkeit auszunutzen, um das Vertrauen in die ukrainischen Behörden zu untergraben, in libertären Kreisen scheint jedoch das Gegenteil der Fall zu sein, hier scheinen die Behörden ausschließlich ukrainische Staatsinteressen zu vertreten? Diejenigen, die keiner Regierung gehorchen wollen, haben keinen Grund, in solchen Gruppen eine echte Alternative zu sehen - und diejenigen, die den Staat lieben, brauchen solche schizophrenen Exotismen nicht, für sie gibt es gewöhnliche nationalistische Parteien und Bewegungen.
Wir glauben nicht, dass sich die Situation dadurch grundlegend ändern würde: Das Beispiel von Black Flag zeigt, dass jede revolutionäre Agitation in den ukrainischen Truppen heute bedeutungslos ist, da die Soldaten im Allgemeinen mit ihren selbst für europäische Verhältnisse recht soliden Gehältern zufrieden sind (100.000 Griwna oder etwa 2700 Euro an der Front). Die Mehrheit derjenigen, die sich in der Ukraine als Anarchisten bezeichnen, hatten jedoch nicht einmal vor, dies zu tun, sondern haben sich sofort mit der herrschenden Klasse zu einer einzigen nationalistischen Bewegung zusammengeschlossen.
Inzwischen nähert sich die Größe der ukrainischen Armee einer Million Menschen an, ein paar Dutzend Kämpfer unter schwarzer Flagge sind da nur ein Tropfen im Ozean. Sie demonstrieren damit nichts anderes als ihre eigene Sinn- und Hilflosigkeit. Aber auch der relative Erfolg unserer Medien im Vergleich zur Vorkriegszeit sollte uns nicht die Illusion vermitteln, dass anarchistische Ansichten auch nur in einer einzigen Region der Ukraine populärer geworden sind. Wir müssen uns darauf einstellen, dass die politische Situation im Lande für eine lange Zeit so sein kann wie in Afghanistan, Jemen oder Somalia, und nichts kann ein Wachstum des anarchistischen Einflusses garantieren. Unsere einzige Chance ist die Weigerung, mit der einen oder anderen Autorität als "kleinerem Übel" zu flirten, und stattdessen eine entschlossene und bedingungslose Opposition gegen sie alle zu bilden. Andernfalls werden die Massen die Anarchisten zunehmend als seltsame und unverständliche Clowns wahrnehmen, denen man keine Beachtung schenken muss.
CRINT-FAI: Wir haben von Kollektiven wie der ehemaligen Operation Solidarity und von einigen Anarchist:innen und Black Cross Gruppen Osteuropas internationale Aufrufe gehört, Druck auf unsere jeweiligen Regierungen auszuüben, um die ukrainischen Streitkräfte zu unterstützen. Teilweise wird dabei sogar eine "Allianz" zwischen dem Volk und dem Staat beschworen. Was ist eure Meinung dazu?
Assembly: Die zuvor erwähnten Zapatist:innen haben schon zu Beginn des Krieges zu Recht festgestellt: "Das Großkapital“ und seine „westlichen" Regierungen haben sich zusammengetan, um die Situation zu begutachten und diese sogar zu verschlimmern. Als die Invasion begonnen hatte, waren sie besorgt, ob sich die Ukraine wehren würde, um dann zu überlegen, was sie aus jeder möglicherweise eintretenden Situation herausschlagen könnten. Jetzt, da sich die Ukraine wehrt, machen sie eifrig "Hilfsangebote", für die sie später eine Bezahlung erwarten. Die westlichen Regierungen und der militärisch-industrielle Komplex haben ihre eigenen finanziellen Interessen, und diese Interessen bestehen nicht in einem schnellen Sieg der Ukraine. Ihr Interesse ist, den Krieg in die Länge zu ziehen. Andernfalls hätten sie bereits genügend schwere Waffen an die Ukraine geliefert, und der Krieg hätte bis zum Herbst dieses Jahres beendet sein können.
Während sich in der Ukraine die Mehrheit der Anarchist:innen um den ukrainischen Staat schart, fallen viele von ihnen in Europa auf eine andere Dummheit herein. Sie folgen einem vulgärem Verständnis des internationalistischen Grundsatzes "Der Hauptfeind steht im eigenen Land". Sie beschuldigen die NATO und die EU, ohne zu erwähnen, wer den Krieg begonnen hat, geschweige denn, dass sie den russischen Antimilitaristen helfen. Wir unterstützen nichts, was "unseren" Staat stärkt, wir können aber einem solchen "Antimilitarismus" auch nicht zustimmen. Aktionen gegen die Waffenlieferungen an die Ukraine müssen mit der Bewegung in Russland gegen die russische Invasion koordiniert werden. Andernfalls ist es nur ein Aufruf zur Kapitulation der Ukraine und Lobbyarbeit für den Teil des europäischen Kapitals, der an einer Rückkehr auf den russischen Markt interessiert ist. In jedem Fall ist es die objektive Realität, dass die westliche Führung gerade an einer allmählichen Schwächung ihres imperialistischen Rivalen ohne allzu scharfer Konfrontation interessiert ist.
Was die von euch erwähnten Kollektive angeht, so ist ihr Gejammer über die "freie Ukraine, die die gesamte zivilisierte Welt verteidigt" zu langweilig, um Zeit auf ihre Analyse zu verschwenden. Denjenigen, die sich vom Ausland aus große Sorgen um die ukrainische Demokratie machen, können wir nur raten, ihren europäischen/amerikanischen Pass abzugeben, eine ukrainische Aufenthaltsgenehmigung zu beantragen und schnell hierher zu ziehen, um die Freuden des Lebens zu genießen!
Dies gilt nicht für die Kriegsgegner:innen in Russland und Belarus. Diese Menschen gehen wirklich ein großes Risiko ein, um dieses Gemetzel zu verhindern. Das ist Grund genug, ihnen dankbar zu sein. Mit Ausnahme von einigen wenigen Rechtsradikalen unterstützen wir sie, unabhängig davon, ob sie pro-ukrainisch oder internationalistisch eingestellt sind.
Natürlich kann man unsere eigene Agenda, wenn man will, auch als vorteilhaft für die Bourgeoisie bezeichnen: Der massenhafte Abzug wütender, unzuverlässiger Proletarier wird eine soziale Explosion in der Ukraine verhindern, die im Falle einer weiteren Verlängerung des Krieges möglich ist. Zugleich sind die europäischen Bosse sehr an billigen ukrainischen Arbeitskräften interessiert. Aber wo lassen sich günstigere Bedingungen für eine Streikbewegung ausmachen? In einem kriegführenden oder einem friedlichen Land? Und warum sollte man die Kooperation und Selbstständigkeit nicht in Europa entwickeln und die ukrainischen Migrant:innen daran beteiligen?
CRINT-FAI: Wir haben ebenfalls Aufrufe zur Verteidigung der "liberalen Demokratie" gehört. Was haltet ihr von diesem Konzept?
Assembly: Mit der liberalen Demokratie ist der ukrainischen Staat gemeint, wenn wir das richtig verstehen? Solche Aufrufe beziehen sich auf Vergleiche zwischen den von der ukrainischen Regierung kontrollierten Gebieten und der völligen Verwüstung, dem Hunger und dem weißen Terror in den von Russland besetzten Gebieten. Aber nur weil eine Verbrecherbande schlimmer ist als die andere, rechtfertigt das doch noch lange nicht, dass hunderttausende Menschen dafür sterben und verstümmelt werden und Millionen andere ein halbverhungertes Dasein unter Bombenbeschuss fristen müssen.
Vergleicht man den von der ukrainischen Regierung kontrollierten Teil des Landes mit den EU-Ländern, so muss man sagen, ihr mögt es glauben oder nicht, dass selbst das historische Stadtzentrum einer typischen ukrainischen Stadt, einschließlich der unseren, weniger bewohnbar ist als die Armenviertel Westeuropas. Wir haben hier nichts zu verteidigen, außer die Macht der Obrigkeit und das Eigentum der Unternehmen. Deshalb hat das Regierungspersonal so viel Angst vor der Möglichkeit, dass alle die Ukraine verlassen dürfen: Der Armeedienst zur Verteidigung der Agrarflächen der Oligarchen ist für viele Soldaten nicht die erstrebenswerteste Option, sondern das einzige verfügbare Einkommen. Die Ukrainer werden nicht durch polizeiliche Repressionen zum Kampf gezwungen, denn wer wirklich nicht will, kann sich der Mobilisierung auch ohne Bestechungsgelder entziehen. Gleichzeitig ist aber der wirtschaftliche Druck immens: In unserer Stadt zum Beispiel kommen auf jede freie Stelle im zivilen Bereich 19 Arbeitssuchende.
CRINT-FAI: Wie zentral sind Gender- und LGBTQ+-Themen heute in anarchistischen und radikalen Bewegungen in der Ukraine?
Assembly: Innerhalb unserer Gruppe gibt es unterschiedliche Standpunkte zu diesem Thema. Eine Person identifiziert sich selbst als Feministin, eine andere vertritt die Position, dass dieses Thema in der Ukraine derart von den Rechten diskreditiert wurde, dass es jedes revolutionäre Potential verloren hat. Vor der vollen Eskalation des Krieges war die feministische und LGBTQ+-Bewegung in der Ukraine eng mit nationalistischen, klerikalen und militaristischen Kreisen verbunden. Nach dem 24. Februar flohen diejenigen, die für die Ausweitung des Frauendienstes in der Armee usw. eintraten, massenhaft aus der Ukraine in europäische Länder, die oft nicht einmal an die Ukraine angrenzen. Von dort aus rufen sie nun diejenigen Männer zum Kämpfen auf, die das Geld zur Flucht nicht aufbringen konnten. Wie es mit dieser Bewegung weitergehen wird, können wir nicht sagen. Unsere Aktivitäten sind derzeit auf die Klasse und bestimmte Regionen bezogen. Wenn sich aber feministische oder LGBTQ+Initiativen gründen, die zumindest teilweise unsere Ansichten teilen, wäre es schön, mit ihnen zusammenzuarbeiten.
CRINT-FAI: Einige Genoss:innen haben uns davon berichtet, wie sehr nationalistische Rhetorik die ukrainische Gesellschaft durchdrungen hatte, insbesondere seit 2013/14 und dem Krimkrieg. Was sind die bestehenden oder potenziellen politischen Räume für politischen Aktivismus jenseits des Nationalismus?
Assembly: „Der Anarchismus ist die Jugend der Welt, und die Jungen müssen ihn errichten“ 3 Wie in Italien geht auch in Osteuropa das Problem des Nationalismus Hand in Hand mit dem „Aussterben“ der Nation und ihrem Abgleiten in die Senilität. Die Ukraine, genauso wie Russland, war schon lange vor dem Krieg ein Land von Alkoholiker:innen, Rentner:innen, Beamt:innen und Polizist:innen. Sobald eine freie Ausreise möglich sein wird, werden wahrscheinlich auch die noch verbliebenen Arbeiter:innen und die Intelligenz von hier weggehen, vor allem aus den zerstörten Regionen. Es gibt Zahlen, die besagen, dass seit dem 24. Februar etwa 100.000 Männer freiwillig aus dem Ausland in die Ukraine zurückgekehrt sind. Aber werden sie auch nach dem Krieg hier bleiben? Wie man sieht, ist die ukrainische Demographie generell nicht gerade förderlich für die Verbreitung libertärer Ideen.
Die einzige Chance, wie es in der Ukraine zu einem glücklichen Ende kommen könnte, wären riesige Investitionen aus dem Westen, China und der Türkei. Derart könnten wir nicht nur wieder aufbauen, was zerstört wurde, sondern auch einen wirtschaftlichen Sprung machen, der uns über den Vorkriegszustand hinausbringt. Dies würde viele Migrant:innen aus dem globalen Süden anziehen. Dann wird eine Massenbewegung der Arbeiter:innenklasse, eine revolutionäre Situation usw. wirklich möglich werden. Aber bis jetzt wird nicht einmal die Wiederherstellung dessen, was wir vor dem Krieg hatten, ernsthaft garantiert, meistens sind es nur Versprechungen.
Zweifelsohne wären in diesem Fall auch inter-ethnische Konflikte möglich. Allerdings haben wir schon in den ersten Monaten unserer Arbeit fast ausschließlich die Proteste arabischer und afrikanischer Student:innen gegen die üblichen Forderung von Bestechungsgeldern bei Abschlussprüfungen unterstützt. Wir hoffen also, dass wir auch mit neuen Menschen aus dem Ausland eine gemeinsame Sprache finden werden.
CRINT-FAI: Abschließend wollen wir noch fragen, ob es noch etwas gibt, was ihr italienischsprachige Anarchist:innen sagen wollt?
Assembly: Wir wissen, dass den Ukrainer:innen in Italien mit eindeutigen Vorurteilen begegnet wird und dass die ukrainischen Communities für ihre reaktionären Ansichten berüchtigt sind. Aber sie werden sich nicht verändern, wenn der Anarchismus in Italien nur schöne Worte im luftleeren Raum ist. Agitiert unter ihnen, klärt sie auf, helft ihnen im Kampf gegen Arbeitgeber:innen und Vermieter:innen, kontaktiert uns, wenn ihr Texte auf Ukrainisch oder Russisch vorbereiten müsst!
Wenn Geflüchtete aus Afrika und dem Nahen Osten dies lesen: wir wissen, dass viele von euch wütend sind, weil ukrainische Geflüchtete einen besseren Status in Europa haben. Bitte bedenkt, dass dies nur die halbe Wahrheit ist. Die Absicherungsmöglichkeiten und das Einkommen hier in der Ukraine sind mit euren Ländern vergleichbar, während die Lebenshaltungskosten mit denen in Westeuropa vergleichbar sind. Wir haben gemeinsame Interessen und müssen nach Wegen suchen, um gemeinsam zu handeln!
Und wir möchten auch die Olga Taratuta Solidarity Initiative in Frankreich, Final Straw Radio in den USA, Enough 14 in Deutschland, 161 Crew in Polen, alasbarricadas.org in Spanien, aitrus.info in Russland und alle anderen Leser:innen, Übersetzer:innen und Spender:innen herzlich grüßen. Euer Beitrag zu unserer Arbeit bedeutet viel, und wir versuchen unser Bestes zu tun, was unter diesen Bedingungen möglich ist!
No borders, no nations! Friede den Hütten, Krieg den Palästen!
31. August 2022
- 1. Federazione Anarchica Italia: https://umanitanova.org/guerra-in-ucraina-e-diserzione-intervista-con-il-gruppo-anarchico-assembly-di-kharkiv-iten/
- 2. Eine Anarchistische Gruppe, die sich den territorialen Selbstverteidigungseinheiten des ukrainischen Militärs angeschlossen hat.
- 3. Anspielung auf ein Zitat von Wladimir Majakowski, einem sowjetischer Dichter(1893-1930): „Der Kommunismus ist die Jugend der Welt, und die Jungen müssen ihn errichten!“