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Dilemma ohne Ausweg?

Dilemma ohne Ausweg?

24. März 2022

Dieser Beitrag ist Teil der Debatte zu Strategie und Organisation.

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Nur durch Organisation kann die Arbeiter:innenklasse als Klasse handeln. Gleichzeitig besteht innerhalb proletarischer Organisationen eine Tendenz zu Bürokratisierung und Opportunismus. Das Dilemma lässt sich nicht umgehen, sondern es muss gegen die Verselbständigungs- und Integrationstendenzen für eine klassenkämpferische Ausrichtung und demokratische Organisationsweisen eingetreten werden.

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Nachdem wir im ersten Teil dieser Replik auf die historischen Streitpunkte eingegangen sind und unsere Position auf Grundlage unserer Kenntnis des geschichtlichen Materials noch einmal versucht haben zu plausibilisieren, wollen wir in diesem zweiten Teil die Frage der Organisation stärker theoretisch beleuchten. Dabei gehen wir so vor, dass wir 1.) unsere grundlegende These untermauern, wonach sich die Arbeiter:innenklasse politisch organisieren muss, um als Klasse handeln zu können. 2.) werden wir das grundlegende Dilemma von Klassenorganisationen im Kapitalismus eingehender darlegen und argumentieren, dass sich dieses Dilemma nicht einfach durch einen Verzicht auf Organisierung umgehen lässt, sondern stattdessen auf organisatorischem Weg beantwortet werden müsste. In diesem Sinne wollen wir 3.) unsere Kritik an den spontaneistischen Hoffnungen in unserem Milieu noch einmal verdeutlichen und schließlich 4.) unsere Vorstellung von Partei, Programm und Strategie genauer bestimmen.

Klassenorganisation als Notwendigkeit

Schon im ersten Teil haben wir die basale Feststellung wiederholt, wonach die kapitalistische Produktionsweise auf einem unauflösbaren Interessenantagonismus zwischen Kapital und Arbeit beruht. Zumindest innerhalb unseres Milieus wird dies kaum auf Widerspruch gestoßen sein – ein Dissens über die Konsequenzen, die man aus dieser grundsätzlichen Bestimmung zieht, scheint aber sehr wohl zu bestehen. Unserer Auffassung nach liegt die Bedeutung des Klassengegensatzes im Kapitalismus nicht einfach in diesem Antagonismus an sich begründet, sondern resultiert aus der eigentümlichen Stellung der Proletarisierten. Diese befinden sich in einem Zustand grundsätzlicher Prekarität, den Marx als „absolute Armut” bezeichnete: eine Armut, die nicht in dem einen oder anderen Mangel besteht, sondern im völligen Ausschluss von den Mitteln der eigenen Reproduktion (vgl. MEW 42: 217f.). Die lohnabhängige Klasse hat der Marxschen Analyse zufolge gar keine andere Wahl, als sich zusammenzuschließen, will sie ihre Interessen als Klasse – und nicht einfach als konkurrierende Individuen – verteidigen und zur Geltung bringen. Da der individuelle Arbeiter „als ‚freier‘ Verkäufer seiner Arbeitskraft, auf gewisser Reifestufe der kapitalistischen Produktion, widerstandslos unterliegt“ (MEW 23: 316), muss er oder sie sich mit anderen organisieren. Die Lohnabhängigen „beginnen damit, Koalitionen gegen die Bourgeoisie zu bilden“ (MEW 4: 470). Dass sich die Lohnabhängigen seit Beginn der kapitalistischen Epoche trotz aller widriger Bedingungen, interner Konkurrenz, Spaltung, Atomisierung und Repression immer wieder aufs Neue zusammenschließen, um ihre Interessen durchzufechten, verdeutlicht diese Einschätzung. Die Unmöglichkeit, auf individuellem Weg seine Interessen zu verwirklichen, macht das Proletariat zur universalen Klasse. Jede bisherige konnte „sich nicht als Klasse, sondern nur vereinzelt“ befreien. Das Proletariat hingegen muss aufgrund seiner Stellung „um persönlich zur Geltung zu kommen, ihre eigne bisherige Existenzbedingung, die zugleich die der ganzen bisherigen Gesellschaft ist, die Arbeit, aufheben.“ (MEW 3: 76f.).

Die marxistische Hypothese besteht also darin, dass die Arbeiter:innenklasse – als von den Produktionsmitteln getrennte Klasse – sich notwendig organisieren muss, um ihre Situation langfristig verbessern zu können. Dies ist kein geschichtsteleologisch verbürgerter Automatismus, sondern erfordert willentliches, kollektives Handeln.1 Klassenbewusstsein entsteht als Effekt dieser Organisierung. Erst diese enthält die Möglichkeit, die vereinzelten proletarisierten Individuen zu einer Klasse für sich zu formen.2 Klassenkämpfe am Ort der Produktion können aufgrund ihres episodenhaften und minoritären Charakters diese Rolle allein nicht spielen. Gerade weil die Arbeiter:innen von den Mitteln ihrer Reproduktion getrennt sind – und nicht lediglich weil sie am Ort der Produktion durch Arbeitsverweigerung Macht ausüben können – können sie für Marx und Engels als revolutionäres Subjekt fungieren.3 Kämpfe, Streiks usw. gelten in dieser Perspektive nicht an sich als wertvoll, sondern nur aus Perspektive weitergehender Organisierung: „Das eigentliche Resultat ihrer Kämpfe ist nicht der unmittelbare Erfolg, sondern die immer weiter um sich greifende Vereinigung der Arbeiter“ (MEW 4: 471). Dementsprechend ist es eine grobe Verkürzung, wenn Felix Klopotek die „wirkliche Bewegung“ des Kommunismus auf die „Tendenz zunehmender Vergesellschaftung im Kapitalismus“, die sozialistischen Theorien und die spontanen Bewegungen reduziert.4 Für Marx und Engels war es nicht nur die steigende Integration von Produktions- und Austauschprozessen, in denen die materiellen Bedingungen „für eine klassenlose Gesellschaft verhüllt“ (MEW 42: 93) vorzufinden sind. Mindestens ebenso wichtig war ihnen die zunehmende politische Organisierung der Proletarisierten zur Partei. Dass hiermit keineswegs lediglich eine historische Partei oder ein wie auch immer geartetes philosophisches Konzept gemeint war, sondern eine formelle, politische Partei, mit Mitgliederlisten, Programm und mit dem Ziel, in Parlamenten vertreten zu sein, zeigt sich an diversen Aussagen und Resolutionen von Marx und Engels.5 So heißt es in dem von Marx 1880 verfassten Programm der französischen Arbeiterpartei, „daß die kollektive Aneignung nur von einer revolutionären Aktion der Klasse der Produzenten – dem Proletariat –, in einer selbständigen politischen Partei organisiert, ausgehen kann.“ (MEW 19: 238)

Klopotek hält die Organisation des Proletariats als einer politisch selbständigen Partei dagegen für ein „Fantasma”, als solche wäre es nach seiner Auffassung „immer schon in die Demokratie integriert.”6 Marx und Engels waren dagegen der festen Überzeugung, dass die Lohnabhängigen nur durch die Assoziation in einer politischen Partei erlernen, was notwendig ist, um eine zukünftige Gesellschaft in Eigenregie verwalten zu können. In ihren Augen gibt der Organisationsgrad der Klasse Auskunft darüber, wie sehr die Klasse bereits an Reife gewonnen hat.7 Kautsky brachte diese Ansicht in der Aussage auf den Punkt, dass das Proletariat „im und durch den Kampf”, die fortgeschrittensten und zugleich auch die zurückgebliebensten Elemente der lohnabhängigen Klasse organisieren und dazu befähigen solle, „jene ungeheure ökonomische Umwandlung zu leiten, die allem aus Knechtschaft, Ausbeutung, Unwissenheit entstehenden Elend schließlich auf dem ganzen Erdenrund ein Ende bereiten wird.”8 Für den Zentrumsflügel innerhalb der SPD bildeten diese Ausführungen die Grundlage für die Kritik der Massenstreikstrategie.9

Klassenorganisation als Dilemma

Zur Zeit der Zweiten Internationale waren auch die Fallstricke, die mit der notwendigen Organisation der Arbeiter:innenklasse einhergingen, so offensichtlich geworden, dass sie nach theoretischer und strategischer Klärung verlangten. Die Tendenzen der Bürokratisierung und reformistischen Degeneration wurden zwar auch schon zu Marxens Zeiten langsam sichtbar.10 In dieser Entwicklungsphase der Arbeiter:innenbewegung überwog jedoch die Auseinandersetzung um die Organisationsfrage mit den teils anti-demokratischen, teils anti-politischen Vorstellungen Lassalles, Bakunins oder Proudhons und ihrer Gefolgsleute.11 Erst in der Massenstreikdebatte – die zu einem großen Teil auch eine Debatte um die Frage des Opportunismus und der Bürokratisierung war, wie vor allem in den Beiträgen Luxemburgs sichtbar wird – wurden diese neuen, mit den sozialdemokratischen Massenorganisationen verbundenen Probleme zum Gegenstand einer entschiedenen Auseinandersetzung.

Dabei war das Dilemma in Bezug auf Gewerkschaften bereits von Kautsky hellsichtig formuliert worden: „Wir sehen von den sonstigen Vorteilen ab, die die Gewerkschaften den Arbeitern bieten. Doch sonderbar, je stärker sie werden, je mehr sie die Lage der Arbeiter verbessern, um so vorsichtiger werden sie bei jeder Streikbewegung – aber freilich, um so gewaltiger und zäher wird der Kampf, wenn es einmal zu einem solchen kommt. Das heißt, sonderbar erscheint es nur auf den ersten Blick, daß mit der wachsenden Stärke der Organisation nicht auch ihre Lust, jeden Kampf aufzunehmen, in gleichem Maße zunimmt. Wenn man näher zusieht, ist diese Erscheinung ganz natürlich. Die Organisationen haben jetzt etwas zu verlieren: die Errungenschaften, die sie bisher den Unternehmern abgetrotzt, den Kriegsschatz, auf dem ein gut Teil ihrer Kampfesfähigkeit beruht, und endlich, und das ist das wichtigste, das Vertrauen ihrer Mitglieder.“12 Erst durch eine schlagkräftige Gewerkschaft, die Streikfonds und das nötige Know-How bereitstellt, können Streiks nach Kautsky „gewaltig“ und „zäh“ werden – jedoch nur wenn es einmal zu solchen kommt. Allerdings lässt sich beobachten, dass eine steigende organisatorische Kapazität und Größe häufig gerade nicht mit einer selbstbewussten Militanz einhergehen, sondern vielmehr das Gegenteil eintritt: Je gewaltiger die Organisation, desto zaghafter tritt sie einen offenen Konflikt los, desto eher vermeidet sie entschiedene Auseinandersetzungen oder ernsthafte Streiks und desto mehr setzt sie auf Verhandlung und Moderation.

Der Grund für diese, wie Kautsky schreibt, „sonderbare“ Entwicklung wurde von niemandem so eingehend theoretisiert wie von Claus Offe und Helmut Wiesenthal.13 Sie erklären den Opportunismus, der sich ihrer Ansicht nach früher oder später mit Notwendigkeit entwickelt, aus einem grundsätzlichen Dilemma von Organisationen der Arbeiter:innenklasse. Lohnabhängige könnten aufgrund der Heterogenität ihrer Lebenssituation und der Konkurrenz untereinander ihre Interessen nicht einfach addieren, sondern müssten sie in einem dialogischen Prozess koordinieren und bis zu einem gewissen Grad re-definieren, um zu einem kollektiven Klasseninteresse zu gelangen. Zunächst betonen sie daher, dass zur Findung dieser kollektiven Interessen die Bildung von Organisationen und die Schaffung einer Kultur der Solidarität und einer kollektiven Identität unerlässlich sind.14

Eine solche Organisation mache in ihrem Entwicklungsprozess mehrere Stadien durch. Im ersten Stadium befinde sich die Arbeiter:innenorganisation noch auf einem niedrigen Organisationsgrad, es dominiere eine dialogische Form der Interessensabwägung zwischen Führung und Basis, und die interne Bürokratie sei noch kaum ausgeprägt und habe sich daher auch noch nicht verselbständigen können. Auf dieser Ebene müssen noch militante Konflikte mit der Kapitalseite geführt werden, um Konzessionen zu erlangen. Im zweiten Stadium der Entwicklung der Organisation trete diese Form der Machtausübung allerdings bereits in den Hintergrund. Die Mobilisierungsfähigkeit und Mitgliederzahl der Organisation haben ein Ausmaß erreicht, an dem die Androhung von Streiks und direkten Aktionen – und nicht deren tatsächliche Durchführung – ausreicht, um ein Einlenken der Gegenseite zu erwirken. Das Machtpotenzial fungiert, als wäre es die Anwendung von Macht und dadurch kann die Machtausübung am Verhandlungstisch rein virtuell bleiben. Die Stärke der Organisation in diesem Stadium basiert jedoch damit auf der Kontrolle über ihre Basis, deren Spontaneität ihr nun zur Bedrohung wird. Diese Problematik existiert sowohl für Gewerkschaften als auch für politische Parteien, die ebenso ab einem gewissen Punkt der Versuchung gegenüberstehen, ihre Wähler:innenbasis lediglich als Drohung einzusetzen, um auf reformistischem Weg kurzfristige Ziele zu verwirklichen. Hieraus resultiert auch, was Robert Brenner als Paradox der Sozialdemokratie15 bezeichnet hat: Die Gewerkschaften und Parteien tendieren langfristig zum Reformismus und sind gezwungen, die Kämpfe der Basis einzuhegen. Durch deren Demobilisierung höhlen sie jedoch zugleich das Potential der Machtausübung und damit die Grundlage der Stärke ihrer Organisation aus. Als Lösung erscheint der Gewerkschaft oder Partei nun im dritten Stadium nach Offe und Wiesenthal der opportunistische Weg, der darin besteht, dass sich die Organisation von ihrer Basis entkoppelt. Sie versucht nun, die Positionen, die sie durch die Handlungsbereitschaft ihrer Mitglieder errungen hat, zu institutionalisieren und zu verrechtlichen, um sich von dieser Handlungsbereitschaft unabhängig zu machen. Zugleich verändert sie ihre interne Struktur derart, dass sie die Unabhängigkeit der Funktionäre von der kollektiven Willensäußerung der Mitglieder maximiert. Das erreicht sie durch Bürokratisierung und Professionalisierung der internen Abläufe und Verfahren, sowie durch die Individualisierung der Mitglieder. Offe und Wiesenthal beschreiben damit diese Strategie nicht, wie in der leninistischen Tradition üblich, als Verrat durch eine von imperialistischen Extraprofiten bestochene Arbeiteraristokratie, sondern als Praxis von Organisationen, die rational wird, sobald diese einen gewissen Punkt ihrer Entwicklung erreicht haben.

Diese Entwicklung wird zudem durch die Tendenz zur Bürokratisierung der Arbeiter:innen-Organisationen begünstigt. Der Trend speist sich aus dem Klassenverhältnis selbst: Da Arbeiter:innen im Kapitalismus durch die gesellschaftliche Teilung der Arbeit der technischen und intellektuellen Fähigkeiten und der notwendigen Zeit beraubt sind, um ihre Interessen jenseits zeitlich begrenzter Aktionen wie Streiks und Demonstrationen zur Geltung zu bringen, liegt es nahe dies vermittels der Freistellung von besonderen Funktionären zu bewerkstelligen, die sich den organisatorischen und politischen Tätigkeiten voll widmen können. Diese Schicht bezahlter Funktionäre entwickelt dabei jedoch zugleich auch subjektive Interessen, die der opportunistischen Strategie entgegenkommen: Sie leben von der Organisation und sie sind gleichzeitig sehr viel direkter in Arbeitsbeziehungen mit dem Klassengegner involviert.16

ARS betonen in ihrer Kritik17 deshalb richtigerweise, dass „schnöde Bürokratie“ nicht die einzige Kraft ist, die Arbeiter:innenorganisationen ans Bestehende binde und die integrativen Tendenzen viel tiefer reichen: Das Dilemma ist strukturell angelegt. Es besteht innerhalb proletarischer Organisationen eine Tendenz in Richtung opportunistischer Strategien und diese werden durch die politischen und rechtlichen Institutionen des bürgerlichen Staates gefördert und ideologisch flankiert.

Wie im ersten Teil dieser Replik gezeigt, hatten Kautsky und der Zentrumsflügel der Sozialdemokratie für dieses Dilemma keine Lösung parat. Rosa Luxemburg sah das Problem zwar klar vor sich, konnte ihm aber nur zum Schein, durch eine Ausweichbewegung, begegnen. Anstatt dem Opportunismus und seiner bürokratischen Trägerschicht innerhalb der Organisation etwas entgegenzusetzen, wurde das Mittel zu seiner Lösung in die spontanen Bewegungen ausgelagert. Die Kosten- und Nutzenabwägungen, die Organisationen an einem gewissen Punkt anstellten, um abzuwägen, ob Erhebungen, Streiks o.ä. gerade im Nutzen der Partei oder Gewerkschaft sind, würden sich Luxemburg zufolge durch spontane Kämpfe erübrigen: „Mit dem Augenblick, wo eine wirkliche, ernste Massenstreikperiode beginnt, verwandeln sich alle ‚Kostenberechnungen‘ in das Vorhaben, den Ozean mit einem Wasserglas auszuschöpfen.“18

Spontanität als Ausweg?

In unserem Auftakttext haben wir aufzuzeigen versucht, dass bei aller Skepsis gegenüber einem naiven Spontaneismus – dem Glauben daran, “die Bewegung” werde sich schon ihren Weg bahnen – das Dilemma der Klassenorganisation innerhalb unseres Milieus nicht wirklich anerkannt wird. Die oben beschriebenen Tendenzen zum Opportunismus werden als unvermeindlich angesehen. Daraus wird die Konsequenz gezogen, zu bestehenden Organisationen wie den großen Gewerkschaften oder den Arbeiter:innen- bzw. Linksparteien auf Distanz zu bleiben und sich stattdessen in kommunistischen Zirkeln zusammenzuschließen.

Diese Zirkel könnten dann – so die Hoffnung – im Zuge des Aufschwungs spontaner Massenbewegungen radikalisierenden Einfluss auf diese nehmen. In Anknüpfung an Luxemburgs Überlegungen soll das Organisationsdilemma so umgangen werden. Im Unterschied zu ihr, die sich durch den Massenstreik eine Wiederbelebung der bürokratisierten Sozialdemokratie erhoffte, wird die spontane Bewegung den alten Institutionen der Arbeiter:innenbewegung jedoch schroff entgegengesetzt.19 Wir haben bereits im ersten Text die grundlegenden Zweifel angesprochen, die wir an dieser Orientierung hegen. Anhand der Kritik von Felix Klopotek, der wiederum eine extreme Version des Spontaneismus gegen uns in Stellung bringt – eine Position, die so wiederum wahrscheinlich nicht von allen geteilt wird, die wir mit unserem ersten Text angesprochen haben – wollen wir nochmal versuchen, die Schranken der spontanen Bewegung zu umreißen.

Klopotek zufolge soll der „Schwung der Massenbewegungen”20 Garant dafür sein, jegliche Tendenzen zur Bürokratisierung und Integration abwehren zu können. Allerdings handelt es sich, dieser Auffassung zufolge, bei jenem Schwung um ein zartes Pflänzchen und einen reißenden Fluss zugleich. Er komme meist unerwartet und zunächst zögerlich, müsse gegen jeglichen Versuch, ihn organisatorisch auf Dauer zu stellen, verteidigt werden und werde schließlich, wenn er eine bestimmte Größe und Dynamik erreicht hat, alles aus dem Weg räumen, was der Revolution im Wege stehen könnte. Sobald sich die Massenbewegung genug aufgeschwungen habe, „tun alle, wie von selbst, das Richtige” (Klopotek). Man mag Klopoteks These von einer spontan-organischen Selbstorganisation mit Blick auf Riots noch etwas Plausibilität abgewinnen, aber bereits bei der Betrachtung einer simplen Demonstration oder eines Streiks erweist sie sich als unhaltbar: Zur Vorbereitung und erfolgreichen Planung, Koordination und Durchführung solcher Aktionen ist ein Mindestmaß an Organisation notwendig. Zunächst muss irgendjemand den Stein überhaupt ins Rollen bringen, einen Aufruf starten, die Kolleg:innen informieren, sie überzeugen, die Ziele und Durchführung müssen beschlossen werden usw. usf. Während eines Streiks befindet man sich zudem in einer ständigen politischen Konfrontation mit der Gegenseite, die erforderlich macht, dass die Moral hochgehalten wird und schließlich muss an einem gewissen Punkt über Eskalation oder Rückzug entschieden werden. All dies erfordert einigermaßen komplexe Prozesse der Entscheidungsfindung und der Organisation. Manchmal mag es dabei zu Massendynamiken kommen, die den Prozess wie einen Selbstläufer erscheinen lassen, allerdings sind diese oft bereits Resultat vorangegangener Organisierungsprozesse. Die zähe Überzeugungsarbeit oder die Initiative von einzelnen, oft in den Organisationen selbst geschulten Aktivist:innen, die den Kampf vorantreiben und gegen sich breit machende Zweifel Optimismus stiften, wird im Zuge solcher Dynamiken unsichtbar. Das Ergebnis ihrer Aktivität erscheint als von dieser völlig entkoppelt. Dies ließe sich als spontaneistische Mystifikation bezeichnen: Die vermittelnde Bewegung verschwindet in ihrem eigenen Resultat.

Noch unhaltbarer wird Klopoteks „Idealisierung der Spontanität”21, überträgt man sie auf eine revolutionäre Situation. In einem solchen, vermutlich überaus chaotischen Prozess, der sich mit großer Sicherheit über Monate, wenn nicht sogar über Jahre hinziehen würde, in dem die politischen Koordinaten und die gesellschaftlichen Verhältnisse fundamental durcheinandergewirbelt werden, wird es schwer sein, überhaupt zu bestimmen, was „das Richtige”, was die richtige Taktik, die richtigen Losungen, die richtigen nächsten Schritte sind. Das oben beschriebene Problem der Organisierung wird um ein Vielfaches verkompliziert. In einer solchen Situation tut niemand „wie von selbst” das Richtige. Plausibler scheint die gegenteilige Annahme: Unter solchen Umständen wird vieles falsch laufen und es käme gerade darauf an, Strukturen zu schaffen, die in der Lage sind, Fehlentscheidungen zu korrigieren und das Handeln an sich verändernde Situationen anzupassen.

Uns erscheint es offensichtlich, dass spontane Prozesse der Selbstorganisation an definitive Grenzen stoßen, wo es nicht mehr um das koordinierte Handeln im Rahmen einer Demonstration oder auf Ebene eines bestreikten Betriebs geht, sondern wo eine revolutionäre Bewegung auf der Ebene einer Stadt, einer Region, eines Landes, eines Kontinents oder gar global zusammenwirken soll. Damit zielgerichtetes, kollektives Handeln auf diesem Niveau möglich wird, ist eine Organisierung unabdingbar und es stellen sich einige schwierige Fragen: Wie lassen sich vielfältige Interessen koordinieren? Wie kann unter den Bedingungen revolutionärer Wirren eine breite demokratische Partizipation und Kontrolle realisiert werden? Wie können politisch effektive Entscheidungen getroffen werden, ohne Diskussion, Beteiligung und kollektive Entscheidungsfindungen auszuhöhlen? Fehlt ein geeigneter organisatorischer Rahmen, werden die Energien der Massenbewegung einfach verpuffen. Sie mögen in sich vielleicht die Kräfte der Destruktion und der unmittelbaren Aneignung tragen – ein Riot mag wie gesagt spontan zum Erfolg führen –, um jedoch die Umgestaltung der Gesellschaft ins Werk zu setzen, bedarf es eines planvollen und koordinierten Vorgehens mit organisatorischen Strukturen, die dieser Aufgabe gewachsen sind. Deshalb haben wir auch die von den Genoss:innen von Kosmoprolet formulierte Vorstellung kritisiert, nach der der revolutionäre Übergang nur als „wilde Bewegung der Besetzungen”22 vorstellbar sei. Denn auch hier wird das Problem der Koordinierung und der Entscheidungsfindung zugunsten der Hoffnung auf einen sich selbst verstärkenden und selbstorganisierenden Prozess ausgespart, der von einzelnen Aneignungen ausgehend zur Reorganisation der Produktion auf kommunistischer Grundlage fortlaufen solle.

Mit den organisatorischen Aufgaben, die sich der Bewegung der Arbeiter:innenklasse stellen, ist jedoch nur eine erste Schranke für die spontaneistischen Hoffnungen auf die Selbstorganisationskräfte von Bewegungen angesprochen. Eine zweite Schranke resultiert aus dem Konflikt um die politische und ideologische Deutungshoheit innerhalb der Klassenkämpfe. Diese bringen nicht aus sich heraus die Negation der bestehenden Ordnung hervor. Denn die Kämpfe der Arbeiter:innen nach Sicherung und Verbesserung ihrer materiellen Existenz sind offen für unterschiedliche und bisweilen gegensätzliche politische Bewertungen, die zu unterschiedlichen und teils konträren politischen Aktionen führen. Wie die bereits oben angeführten Überlegungen von Offe und Wiesenthal verdeutlichen, ist die Arbeiter:innenklasse mit der komplexen Aufgabe konfrontiert die heterogenen Interessen in ihren Reihen zu versöhnen, ein gemeinsames Interesse zu definieren und die Widrigkeiten zu überwinden, die mit der kollektiven Aktion verbunden sind.23 In ihren Organisationsversuchen und Kämpfen sind die Arbeiter:innen stets den Einflüssen antagonistischer politischer Kräfte ausgesetzt, die darum ringen, die Deutung der Auseinandersetzung zu bestimmen, die Ansprüche der Arbeiter:innen zurechtzustutzen und sie in den Rahmen der herrschenden Ordnung einzupassen. Diese ideologische Auseinandersetzung lässt sich bereits in jedem größeren Streik beobachten: Wenn etwa medial und politisch gegen die Streikenden mobil gemacht wird24, wenn die Geschäftsführung versucht, die Streikenden zu demoralisieren und wenn schließlich die Gewerkschaftsführung einspringt, um der Auseinandersetzung die Spitze zu brechen. Diese ideologische Auseinandersetzung findet auch in der großen Politik ihren Niederschlag, wo die Parteien mit unterschiedlichen Programmen konkurrieren und die Linien der sozialen und politischen Entwicklung definieren. Fredo Corvo beschreibt dies ganz treffend: „Die Ursachen für jedes dieser Probleme [der Arbeiter:innen] sowie mögliche Lösungen sind Gegenstand aller Arten von kursierenden Meinungen, die von traditionellen und 'sozialen' Medien aufgegriffen, nach 'Popularität' gefiltert und von bürgerlichen politischen und gewerkschaftlichen Organisationen nach bürgerlichen Ideologien und den dahinter stehenden bürgerlichen Interessen ausgewählt werden.”25 Gegenwärtig stellt sich die hiesige Parteien- und Medienlandschaft als „plurale Fassung einer Einheitspartei” (Agnoli) dar, die das „ver- und zertreten” der Proletarisierten organisiert und als unausweichliches Schicksal legitimiert.

Im Angesicht dieser ideologisch wie praktisch integrierenden Maschinerie kann die Arbeiter:innenklasse ihr Selbstverständnis als Klasse und ihre Unabhängigkeit gegenüber den anderen gesellschaftlichen Klassen nur politisch herstellen. Dafür bedarf sie der Entwicklung organisatorischer Formen und Strukturen der kollektiven Entscheidungsfindung, die es Arbeiter:innen erlauben, sich als Klasse zusammenzuschließen und als Klasse zu handeln. Den Namen, den wir dafür in unserem ersten Text gewählt haben, ist in Anlehnung an Marx und Engels die Partei: „In seinem Kampf gegen die kollektive Macht der besitzenden Klassen kann das Proletariat nur dann als Klasse handeln, wenn es sich selbst als besondere politische Partei im Gegensatz zu allen alten, von den besitzenden Klassen gebildeten Parteien konstituiert.” (MEW 18: 149) Die Funktion der Partei wäre die Intervention der Arbeiter:innenklasse als Klasse – als Ganzes, nicht einzelner Segmente – in die große Politik, um das „Interesse der Gesamtbewegung” (MEW 4: 43) zu vertreten und eine proletarische Position zu sämtlichen Problemstellungen zu entwickeln und zu propagieren, die sich in einer Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt stellen. Dabei ist der Name, auf den diese Organisation hört, zweitrangig: „Wenn die Arbeiterklasse die Macht übernehmen soll, muss sie die Gesellschaft als Ganzes führen. Dazu muss sie sich mit allen Fragen befassen, die die Politik in der Gesellschaft als Ganzes und in allen ihren Elementen bewegen. Dies zu tun bedeutet, eine politische Partei zu werden, auch wenn man sich 'Bündnis' oder 'Einheitskoalition' (...) nennt. Tut man dies nicht, wird man auch als 'Bündnis' oder 'Einheitskoalition' scheitern.”26

Aber auch die Organisationen der Klasse sind Objekte eines beständigen politischen Kampfes zwischen proletarischer Autonomie und staatsloyaler Integration in die herrschende Ordnung. Mit dem Opportunismus haben wir oben eine zentrale integrative Tendenz innerhalb der Arbeiter:innenbewegung umrissen, deren Ursache strukturell angelegt ist und sich naturwüchsig aus dem Klassenverhältnis entwickelt. Deshalb halten wir es für entscheidend, dass Kommunist:innen sich an den Versuchen der Selbstorganisation der Klasse beteiligen und der Bürokratisierung innerhalb ihrer Organisationen entgegenarbeiten. Die Funktion einer in diesem Kontext verorteten Avantgarde könnte darin bestehen, die von ARS eingeforderte „konkrete Analysen konkreter Situationen“ zu erarbeiten und – analytisch gewappnet und mit eigenen organisatorischen Kapazitäten sowie der politischen Fähigkeit zur Initiative, Überzeugung und Vermittlung – eine zugleich vereinende und radikalisierende Rolle zu spielen. Eine drängende Aufgabe wäre es, die Suche nach Strategien kollektiver Aktion zu unterstützen, damit Klassenhandeln und eine gemeinsame Klassenidentität an die Stelle individueller Anpassung an scheinbar übermächtige Verhältnisse treten kann. Damit die Unterordnung der Lohnabhängigen unter die Kapitalinteressen einer klassenkämpferischen Orientierung weichen könnte, müsste zunächst die verbreitete Resignation mit dem status quo und das Gefühl der Ausweg- und Alternativlosigkeit überwunden werden. Eine weitere wesentliche Aufgabe bestünde darin, eine politische Alternative zur bürgerlich-kapitalistischen Ordnung zu formulieren und als Bezugspunkt für das Klassenhandeln zu etablieren, also die besonderen Forderungen und Kämpfe als Momente eines umfassenden Strebens nach sozialer und politischer Befreiung zu rahmen. Das hieße die Erfahrung von und der Widerstand gegen Ausbeutung und Herrschaft mit einem plausiblen Programm ihrer Überwindung zu verbinden, um einen neuen kommunistischen Horizont für das individuelle und kollektive Handeln zu eröffnen.27 Es müsste gelingen, in den alltäglichen Kämpfen, auf Basis einer „fortwährenden Agitation gegen die (und feindseligen Haltung zur) Politik der herrschenden Klassen” (MEW 33: 332f.), den Klassenantagonismus offenzulegen, damit das Arbeiter:innenklasse nicht einfach ein „Spielball” in den Händen der bürgerlichen Klasse bleibt. Insofern stimmen wir mit Fredo Corvo überein, wenn er schreibt: „Nur wenn die Arbeiter ihre eigenen Interessen als Klasse gegenüber anderen Klassen in den ständig wechselnden und sich verändernden Krisenerscheinungen erkennen, kann ein spontaner Kampf entstehen.” Weniger überzeugt sind wir jedoch von seinem Vorschlag, die Aufgabe der politischen Intervention und Aufklärung einer organisatorisch von der unbewussten Mehrheit getrennten „bewussten Minderheit” zu überantworten.28

Elite-Partei als Ausweg?

Unserem „Bolschewismus“ setzt Corvo die Position der KAPD als „Partei der bewusstesten Arbeiter, d.h. einer Minderheit der Arbeiterklasse”29 entgegen. Ihm zufolge könnten die „bewusstesten Arbeiter“ einen „realen Einfluss auf den proletarischen Kampf und die Entscheidungsfindung in den Räten haben“. Zugleich würde diese Organisation gegen die oben beschriebenen Tendenzen zu Bürokratisierung und Opportunismus immun sein. Nicht durch demokratische Mechanismen der Kontrolle von unten, sondern allein durch die „Selbsttätigkeit der Mitglieder“. Akzeptieren wir seine nicht weiter begründete Behauptung und gehen davon aus, dass eine solche Organisation tatsächlich gegen die beschriebenen Gefahren der Bürokratisierung resistent sei, dann steht und fällt alles mit der Frage, ob eine solche Elite-Partei tatsächlich in der Lage wäre, entscheidenden Einfluss auf eine sich entfaltende Klassenbewegung zu nehmen und wie das Verhältnis von Partei und Bewegung sich dabei darstellt. Genauerer Bestimmung bedürfte zudem, was genau mit einer Partei der „bewusstesten Arbeiter” gemeint ist - die Angry Workers deuten in ihrem Text Aufstand und Produktion an, dass eine solche Partei 30-40% der Arbeiter:innenklasse umfassen müsste30 und sah ihre Aufgabe in der „Sammlung der fortgeschrittensten Elemente der Arbeiterschaft“31. Ihre Politik zu Gunsten ihres Maximalprogramms, jegliche „reformistischen und opportunistischen Kampfmethoden“32 abzulehnen, führte sie ihrem Ziel, die deutsche Rätebewegung weiterzutreiben, nicht näher. Vielmehr verlor sie nach dem Abklingen der Massenbewegungen von 1917ff. und der sich breit machenden Resignation unter den radikalisierten Teilen der Arbeiter:innenbewegung ihre Mitgliederbasis und litt aufgrund innerer politischer Konflikte an der eigenen Zersplitterung.33 Auf der beständigen Suche nach der wahrhaft revolutionären Organisation folgte auf einen Spaltungsprozess der nächste. Auf die Reinheit ihrer Prinzipien bedacht, war sie immer weniger in der Lage, auf die wirklichen Klassenkämpfe und das Bewusstsein der Masse der Arbeiter:innen einzuwirken. „Sie glaubten, gegen den Strom schwimmen zu können und diesen mit sich zu reißen, aber das Resultat war ihre Isolierung in kleinsten, um den rechten Glauben miteinander hadernden Sekten.“34 Woher Corvo die Gewissheit nimmt, dass die „bewusstesten Arbeiter“ ihren Einfluss auf die Kampforganisationen der Klasse schon nehmen würden, wird uns deshalb nicht klar. Wie wir im ersten Teil gezeigt haben, widerspricht diese Hoffnung auch der Entwicklung in Russland, wo es die breite Organisation der Bolschewiki war, die es ihnen ermöglichte, Einfluss auf die Rätebewegung auszuüben.Interessant ist die theoretische Begründung, die er uns entgegenhält und die uns einigermaßen charakteristisch für die rätekommunistische Position zu sein scheint. Nicht mehr die Entwicklung des Bewusstseins der großen Masse der Arbeiter:innen über die gesellschaftlichen Verhältnisse und ihre historische Aufgabe sollte entscheidend sein, sondern vielmehr das Unbewusste wie etwa Anton Pannekoek 1920 erklärte: „Die bestimmenden Kräfte liegen anderswo, in den psychischen Faktoren, tief im Unterbewusstsein der Massen“.35 Die Massenorganisationen der Arbeiter:innenklasse hätten lediglich zu ihrer Passivierung geführt. Stattdessen visierte die KAPD nun ein anderes Verhältnis von Partei und Klasse an: Die Partei organisiert nur eine kleine, aber bewusste Minderheit der Klasse, die wiederum im Moment der spontanen Bewegung der Massen Kenntnis und Orientierung bieten soll. Im Prozess der Revolution und ihrer Selbsttätigkeit würde dann auch die Mehrheit der Arbeiter:innen zu Bewusstsein gelangen. Fredo Corvo stellt sich ganz auf die Seite dieser Theoretisierung, wenn er uns Paul Mattick zitierend entgegenhält: „Entwickelt sich und lebt der Kapitalismus 'blind', so kann auch die Revolution gegen den Kapitalismus sich nur 'blind' vollziehen. Eine andere Auffassung durchbricht den historischen Materialismus. Und mehr, sie wendet sich gegen alle geschichtlichen Tatsachen. Auf einen Zeitpunkt zu rechnen, wo die Massen bereits vor den Aktionen genau wissen, was sie zu tun haben, ist Unsinn. Ihr zwangsmäßiges Handeln schafft erst mit dem Erfolg die Möglichkeit des begrifflichen Erfassens der neuen Situation.“36 Bei Mattick erscheinen Arbeiter:innen als Reiz-Reaktionsmaschinen: „Der Zwang zur Aktion muss stärker sein als die kapitalistische ideologische Beeinflussung“37. Aber ist dies tatsächlich die Auffassung des historischen Materialismus?Theoriegeschichtlich geht diese Auffassung nach unserem Verständnis weniger auf Marx und Engels als vielmehr auf deren zeitgenössische Opponenten zurück. So sah Bakunin die Massen als „nur von ihren momentanen, mehr oder weniger blinden Leidenschaften bewegt.“ Diese Leidenschaften und nicht ihr Bewusstsein wiederum seien es, die ihnen ihre revolutionäre Orientierung verleihen würden. In diesem Sinne erklärte er auch, „Marx (…) verdirbt die Arbeiter, indem er Räsoneure aus ihnen macht."38 Entsprechend gelte es, die Leidenschaften der Massen zu entfesseln und den daraus resultierenden „Volkssturm“ als „unsichtbare Lotsen“ der Revolution anzuführen. Bakunin war davon überzeugt, dass es eine verschworene Clique von Revolutionären brauche, die in der Lage seien, eine Revolution zu leiten. Anstelle einer durch die organisierten Massen bestimmten und abrufbaren Führung solle die geheime, ungebundene und damit undemokratische Führung „wirklich starke[r] Männer“ treten, die „hinreichend ernst ehrgeizig sind nach dem Sieg ihrer Idee, nicht dem ihrer Person“.39 Erinnert die Konzeption der Elite-Partei der „bewusstesten Arbeitern“ nicht an die hier formulierten Gedanken? Und wenn Pannekoek erklärt: „Während der Revolution hat die Partei die Programme, Losungen und Direktiven aufzustellen, die die spontan handelnde Masse als richtig erkennt, weil sie darin ihre eigenen Ziele in vollkommenster Gestalt wiederfindet und sich an ihnen zur größeren Klarheit emporhebt“40 – liegt er damit nicht auf Linie Bakunins, dem „die hundert internationalen Brüder als ‘Vermittler zwischen der revolutionären Idee und den Volksinstinkten“ (MEW 18: 346) reichten, um eine Revolution durchzuführen?Das macht die Überlegungen deshalb nun nicht per se falsch, es ist theoriegeschichtlich aber doch eine fragwürdige Referenz, sie als Ausdruck „des historischen Materialismus” darzustellen. Die Annahme, dass sich die Revolution in diesem Sinne „blind” vollziehen könnte, dass sie sich eher aus dem „Unterbewusstsein der Massen” als aus deren Überzeugung und ihrem bewussten Willen stützt, führt strategisch zur weitgehenden Aufgabe des politischen Terrains zugunsten der bürgerlichen Kräfte in und außerhalb der Arbeiter:innenorganisationen. Einerseits dadurch, dass deren Führung über die etablierten Gewerkschaften beispielsweise gar nicht mehr herausgefordert wird, andererseits aber allein schon durch die quantitative Schwäche der kommunistischen Zirkel, die keine Reichweite für ihre Verlautbarungen finden. Die Argumentation hängt an der Hypothese, dass sich während einer Phase der Krise die Kämpfe zuspitzen und dann eine größere Empfänglichkeit für die eigenen Ideen entstehen würde, diese sich dann durch einen Prozess der Radikalisierung der Klasse verbreiten und handlungsleitend würden.

Marx und Engels jedenfalls traten für die Entwicklung einer breiten Organisation des Proletariats ein, die sie vermittels eines Prozesses der Selbstbildung herzustellen hofften. Im Unterschied zu Mattick und Bakunin betonen sie gerade die Fähigkeit des Proletariats, sich Klarheit über die eigene Lage zu verschaffen und sahen diesen Prozess der massenhaften Aufklärung als Bedingung für eine erfolgreiche Revolution an: „Wo es sich um eine vollständige Umgestaltung der gesellschaftlichen Organisation handelt, da müssen die Massen selbst mit dabei sein, selbst schon begriffen haben, worum es sich handelt, für was sie mit Leib und Leben eintreten.“ (MEW 22: 532) Von einem blinden Prozess der Revolution kann Engels zufolge also keine Rede sein. Vielmehr sahen er und Marx – und darin folgte ihnen das SPD-Zentrum um Kautsky, aber auch die Bolschewiki - die Erringung einer politischen Mehrheit schon vor einer zukünftigen revolutionären Erhebung als ihre fundamentale Aufgabe an.41 Fredo Corvo kehrt diesen Zusammenhang um und betrachtet die Mehrheit als Effekt der Machtausübung: „Erst wenn die Arbeiter als Klasse die gesamte Macht über die Gesellschaft ausüben, kann sich kommunistisches Bewusstsein in großem Maßstab entwickeln.” (Corvo) Auch die Angry Workers sprechen diese Konsequenz in ihrem Text Aufstand und Produktion deutlich aus. Dort schreiben sie, dass im Zuge einer kommunistischen Revolution „30 – 40 % der Arbeiter:innenklasse, die in vorhergehenden Kämpfen geformt wurde“42 in einem koordinierten Akt die Schlüsselindustrien an sich reißen müssten und erst im Zuge dessen und im Anschluss an die Übernahme der Ökonomie die Masse auf den kommunistischen Kurs einschwenken würde.Eine solche Revolution einer entschiedenen Minderheit ist allerdings unserer Ansicht nach weder legitim noch von der historischen Erfahrung gedeckt geschweige denn besonders aussichtsreich. Denn wenn diese Minderheit der Klasse, die bezogen auf die gesamte Gesellschaft eine noch kleinere Minderheit darstellt, zu einer solchen Aneignungsbewegung schreitet, bevor eine politische Mehrheit für eine solche Umwälzung existiert – wie kann dann davon ausgegangen werden, dass ein solcher Versuch nicht durch die weiterhin loyalen Truppen der Regierung und mit Unterstützung großer Teile der Bevölkerung niedergeschlagen würde? Die Angry Workers erklären zwar, dass es notwendig sei, „die Streitkräfte entlang der Klassenlinien zu spalten”43, aber ein solcher Prozess geschieht nicht über Nacht und nicht durch eine exemplarische Offensive von militanten Kernen, sondern erfordert eine vorbereitende, geduldige Agitation innerhalb dieser Kräfte. Und – dies nun an die Adresse der Genoss:innen von Kosmoprolet gerichtet, die sich diese Überlegung der Angry Workers44, nicht aber ihre organisatorischen Ambitionen zu eigen machen – wäre dafür dann nicht eine Organisation von Nöten, die eine solche delegitimierende Agitation in einer koordinierten und konsistenten Weise durchführt und eine solche Spaltung tatsächlich herbeiführen kann, bevor ein solcher Aufstand losbricht?45

Das Dilemma angehen

Soll sich die Überwindung der bürgerlichen Produktionsweise als Selbstbefreiung der Arbeiter:innenklasse vollziehen und soll sie zugunsten einer bewussten, demokratischen, genossenschaftlichen Regelung der gesellschaftlichen Angelegenheiten überwunden werden, dann bedarf es dafür einer aktiven Mehrheit der Klasse und zumindest der Akzeptanz durch eine Mehrheit der Bevölkerung im Allgemeinen. Weder kann sich die kollektive Selbstbefreiung der Arbeiter:innenklasse „blind” vollziehen, noch kann sie durch eine entschiedene Minderheit gegen eine aktive oder passive Mehrheit durchgesetzt werden. Deshalb ist es aus unserer Sicht notwendig, dass Kommunist:innen vor der Zuspitzung der sozialen Widersprüche mit ihrem Programm Einfluss auf den Bewusstseinsbildungsprozess der Mehrheit nehmen, dass sie den Klassenbildungsprozess der Lohnabhängigen fördern und sich als deren vorwärtstreibender Teil innerhalb der Organisationen der Klasse bewähren. Aus diesem Grund sehen wir die Notwendigkeit gegeben, dass Kommunist:innen die politische Verbindung mit anderen Kommunist:innen anstreben und sich auf dieser Basis mit den Klassengenoss:innen organisieren und die ideologische Vormacht der kapitalloyalen Kräfte innerhalb der vorhandenen Klassenorganisationen bereits heute herausfordern.

Deshalb stimmen wir mit den Genoss:innen überein, die eine politische Intervention von Kommunist:innen in die Klassenkämpfe für nötig halten. Nach unserer Überzeugung müsste diese Intervention jedoch auch auf alle Organisationsformen der Klasse ausgeweitet werden (Gewerkschaften, Nachbarschaftshilfen, Genossenschaften etc.), auch wenn deren Führung – wie im Falle der DGB-Gewerkschaften – ganz auf dem Standpunkt des Klassenkompromisses steht. Ob dies in jedem Fall sinnvoll und aussichtsreich ist, muss anhand einer konkreten Einschätzung der Arbeitsmöglichkeiten in diesen Institutionen entschieden werden. Wir hängen nicht kategorisch an diesen Organisationen, sie sind jedoch zunächst die Orte, an denen viele Lohnabhängige organisiert sind und ihre überaus beschränkten (betrieblichen) Auseinandersetzungen mit dem Kapital ausfechten. Es scheint uns daher zumindest unsinnig, die Organisationen per se zu ignorieren und nur jenseits von ihnen oder gegen sie zu arbeiten. Gegen die Stärkung bzw. den Aufbau alternativer, klassenkämpferischer Gewerkschaften wäre deshalb nicht prinzipiell etwas einzuwenden. Es gilt allerdings abzuwägen, ob eine solche Arbeit zielführender ist als der Kampf innerhalb der bereits existierenden Gewerkschaften. Wohlgemerkt ändert sich aber an der Aufgabe und den Problemen in der mittleren Frist wenig, wenn die obige Analyse des Opportunismus als einer naturwüchsigen Tendenz von Arbeiter:innenorganisationen stimmt. In jedem Fall wäre man mit der Aufgabe konfrontiert, gegen diese Entwicklung eine klassenkämpferische Ausrichtung zu verteidigen und demokratische Organisationsweisen zu etablieren, die den Verselbständigungs- und Integrationstendenzen dieser Organisationen bewusst entgegenwirken.

Um aktiv am Bewusstseinsbildungsprozess der Klasse innerhalb von bestehenden Organisationen oder in spontaneren Auseinandersetzungen mitzuwirken, bedarf es aber aus unserer Ansicht einer organisatorischen Grundlage, die über das vorherrschende Kleingruppenwesen hinausgeht. Weder diese noch das Engagement von vereinzelten Kommunist:innen könnten innerhalb von z. B. gewerkschaftlichen Institutionen wirklich Einfluss auf die Entwicklung von Bewusstsein nehmen. Eher ist anzunehmen, dass sie gegenüber größeren Zusammenhängen und den reformistischen Kräften untergehen.

Als Bezugspunkt für eine das Nebeneinander solcher Kleinstgruppen überwindende politische Organisation haben wir den Namen Partei gewählt. Wohlgemerkt sind wir uns im Klaren darüber, dass eine Überwindung des Kleingruppenwesens noch keine Massenpartei der Arbeiter:innenklasse schafft und auch nicht schaffen kann, sondern im besten Fall einen politischen Zusammenschluss von Kommunist:innen unterschiedlicher Couleur auf verbindlicherem Niveau. Das Konzept der Partei bildet für uns also nicht das unmittelbare Ziel sondern einen strategischen Orientierungspunkt, den wir aus den obigen Überlegungen zur Notwendigkeit einer unabhängigen Organisation der Arbeiter:innenklasse gewonnen haben. Dabei ist der Name wie gesagt zweitrangig, entscheidend ist die Funktion der politischen Organisation: Ihr Ziel ist die Intervention in die große Politik, um das „Interesse der Gesamtbewegung” (MEW4: 46) zu vertreten und eine proletarische Position zu sämtlichen gesellschaftlichen Fragen zu entwickeln, mit dem Anspruch, die Gesellschaft als Ganze zu führen. Dieses Gesamtinteresse ist selbst nichts gegebenes, sondern Gegenstand theoretischer und politischer Analysen und nur im Prozess kontinuierlicher Diskussion zu bestimmen und vermittels der politischen Intervention innerhalb der Klassenkämpfe zu propagieren.

Leitend ist für uns dabei der Gedanke der Vereinigung rund um politische Ziele – niedergelegt in einem politischen Programm – welche eine relative Pluralität innerhalb der Organisation zulässt. Eine Organisation, die in sich die reale Diversität der proletarischen Existenzweise heute dahingehend aufnimmt, dass sie Raum lässt für diverse Taktiken und Ansichten, die nur vermittels eines offenen, demokratischen Prozesses auszudiskutieren und nicht dogmatisch zu vereinheitlichen wären.

Partei und Programm

ARS wenden gegen uns ein, dass wir unseren Begriff von Partei unterbestimmt gelassen hätten. Wer von „Partei“ spreche, könne sich unseren Genoss:innen zufolge, „heutzutage sicher sein, dass beim Gegenüber etwas verstanden wird, das nicht nur mit politischen Lagern oder Strömungen, sondern mit Rechtsform, Parteibuch, Satzungen und dem Mitmischen im parlamentarischen Spiel zu tun hat.“46 Aus unserer Sicht wären formale Institutionen wie Statuten und Mitgliedschaftsnachweise selbstverständlich Elemente einer parteiförmigen Organisation. Auch wenn wir eine Partei nicht als zu erreichendes Ziel der nahen Zukunft sehen, sollte sich eine politische Organisation von Kommunist:innen auch heute schon von den unstrukturierten Kleingruppen, die derzeit unser Milieu bestimmen, unterscheiden und eine Struktur der Mitgliedschaft und Entscheidungsfindung etablieren, die es erlaubt, mit einer größeren Anzahl von Menschen demokratisch und diszipliniert zusammenzuarbeiten und kollektive Beschlüsse zu treffen. Dazu ist ein bestimmter Grad an Formalisierung von Verfahren notwendig, der u.a. in den angesprochenen Institutionen zum Ausdruck kommt. Wir wissen nicht, was für eine Kritik ARS an diesen Dingen haben könnten. Lehnen sie formalisierte Strukturen und Verfahren überhaupt ab? Wenn sie solche organisatorischen Formen für die politische Organisation von Kommunist:innen ablehnen, wie steht es dann um die Interessenskoordination auf gesamtgesellschaftlicher Ebene? Nach unserer Auffassung ist diese Auseinandersetzung entscheidend, weil sich daran die Möglichkeit einer Selbstregierung der Arbeiter:innenklasse bestimmt: Gelingt es, politische Formen zu entwickeln, die es ermöglichen, auf lokaler, regionaler, nationaler und letztlich globaler Ebene Entscheidungen demokratisch zu treffen und eine effektive Kontrolle von unten über diejenigen auszuüben, die mit Verantwortung betraut werden? In dem Maße, in dem die Arbeiter:innenklasse die Verantwortung für die Ausübung der zentralen politischen Autorität übernimmt, wird die Rechenschaftspflicht dieser Autorität immer wichtiger werden. Kommunist:innen sollten heute schon in der Lage sein, organisatorische Formen zu finden, die auf diese Fragen im Kleinen eine Antwort geben. Die unstrukturierte Gruppe, die Fragen in Präsenz und Konsens entscheidet, löst dieses Problem jedenfalls nicht. Vielmehr reproduziert sie Hierarchien, die gemeinhin aus der gesellschaftlichen, also klassenmäßigen wie auch vergeschlechtlichten Teilung der Arbeit resultieren, anstatt diesen entgegenzuwirken.47

Was die Partizipation am Parlamentarismus angeht, haben wir eine definitive Antwort in unserem Text offengelassen. Das taten wir deshalb, weil wir die Frage eines eventuellen Wahlantritts unserer derzeitig rein hypothetischen Partei für keine prinzipielle, sondern eine rein taktische Frage halten.48 Das bedeutet, dass auf Grundlage einer konkreten Analyse der Situation zu bestimmen wäre, ob die Teilnahme an Wahlen dem langfristigen, strategischen Ziel des Aufbaus einer fundamental-oppositionellen Partei dienlich oder hinderlich ist. Nicht das „Mitmischen im parlamentarischen Spiel“49 hätte die Absicht zu sein, sondern unsere prinzipielle Gegnerschaft zum Bestehenden sichtbar zu machen, also „auf Schritt und Tritt der bürgerlichen Mehrheit in der Regierung Opposition zu machen“.50 Wie immer man auch zum Parlamentarismus stehen mag, geht es allerdings bei einer marxistischen Parteibildung nicht primär um den Antritt bei Wahlen, sondern darum, eine proletarische Position zu sämtlichen Problemstellungen zu entwickeln und zu propagieren, die sich in einer Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt stellen. Sie wäre kein Wahlverein, sondern „eine Gruppierung, die politisches Selbstbewußtsein in den unterdrückten Klassen entwickeln, in Aktionen geltend machen und dadurch erweitern kann. Die Teilnahme an Wahlkämpfen und die Tätigkeit in Parlamenten (wie die Verteidigung der Rechte des Parlaments gegen die Exekutive) ist nur ein Mittel der Arbeit einer sozialistischen Partei, nicht aber ihre Hauptaufgabe.”51 Keine syndikalistische Basisgewerkschaft, kein Mosaik an sozialen Bewegungen oder „pluralen Organisationsformen“ und keine verschworene leninistische Sekte mit strikt bürokratisch-zentralistischer Struktur kann diese Funktion jemals erfüllen, da ihnen die strukturierte Offenheit und Reichweite fehlen, die nur einer durch und durch demokratisch organisierten Massenpartei zukommen kann. Die Partei wäre aus unserer Sicht als ein Bindeglied zwischen den Organisationen zu begreifen, die sich die Klasse zur Selbstverteidigung schafft (Gewerkschaften, Mietervereinigungen, Genossenschaften etc.) und einem Programm, das die darin angelegten Tendenzen zu einer umfassenden Alternative zur kapitalistischen Ordnung ausformuliert.Dabei denken wir, dass sich in einem solchen parteiförmigen politischen Zusammenschluss langfristig relevante Teile der Klasse organisieren müssten, um als Gravitationszentrum für die weitere Arbeiter:innenbewegung dienen zu können. Dieser könnte die vorwärtstreibenden Momente in den spontanen Kämpfen der Klasse unterstützen und helfen, sie in Richtung einer kommunistischen Umwälzung und Rekonstruktion der Gesellschaft zu orientieren. Der Grund für die zentrale Rolle, die wir der revolutionären Sozialdemokratie der Vorkriegszeit zusprechen, liegt darin, eine solche Partei dargestellt zu haben, die es dem Proletariat ermöglichte, eine umfassende Sicht auf die Gesellschaft als Ganze auszubilden und sich damit auch subjektiv zu einer Klasse zu formieren.

Mit Blick auf die Bewegungen der letzten Jahre, die die politische Repräsentation mehrheitlich zurückweisen, wie beispielsweise die Gelbwesten in Frankreich, schreiben ARS: „Diese Bewegungen mit genau jener Organisationsform [der Partei] beglücken zu wollen, die in ihnen abgelehnt wird, das ist keine erfolgsversprechende Strategie.” Unser strategischer Bezug auf die Partei als Organisationsform wird von ihnen offenbar so verstanden, als würden wir fortan als Prediger die Massen von der Idee der Partei überzeugen wollen. Allerdings haben wir geschrieben, dass wir uns keineswegs am Beginn eines Parteiaufbaus begreifen, sondern zunächst die politische Bedeutung der Partei herausstreichen und als einen Orientierungspunkt für die Betätigung der Kommunist:innen rehabilitieren wollten. In jedem Fall ginge es uns aber nicht um die Propagierung einer Organisationsform, die als solche irgendein Problem lösen würde, sondern um die Frage, wie die Idee einer kommunistischen Umwälzung zu einer materiellen Gewalt werden könnte. Insofern macht es aus unserer Sicht auch keinen Sinn, als Propagandist:innen für „die Partei” aufzutreten. Andersherum: Eine erfolgreiche Intervention in solche Bewegungen würde zunächst auf Seite der Kommunist:innen ein höheres Niveau organisatorischer und ideologischer Kohärenz voraussetzen – eine politische Organisation, die in der Lage wäre, radikalisierend auf solche spontanen Bewegungen der Klasse einzuwirken. Dabei wäre von einem Verhältnis der Interaktion auszugehen zwischen den spontanen Bewegungen, die ihre eigenen Formen entwickeln, auf die Kommunist:innen mehr oder weniger Einfluss nehmen können, und der Partei der Kommunist:innen, die innerhalb der weiteren Klassenbewegungen für ihr Programm streiten.[53]Weit entfernt, dem Programm dabei magische Fähigkeiten hinsichtlich der Bewusstseinsbildung zuzuschreiben, wie von den Genoss:innen vorgeworfen, handelt es sich schlicht um die Konkretisierung der politischen Ziele der Kommunist:innen als – dem Selbstanspruch nach – vorwärtstreibendem Teil der Klassenbewegung. Dass wir derzeit keine mitreißenden Klassenbewegungen haben und die Überreste der kommunistischen Tradition aktuell nicht fähig sind, eine solche Rolle zu spielen, ist uns bewusst, ficht aber nicht an, dass alleine darin die Existenzberechtigung bzw. Funktion der Kommunist:innen als besonderem Teil der Arbeiter:innenbewegung bestünde. Bewusstseinsbildend kann das Programm aber in zweierlei Hinsicht wirken: Einerseits dadurch, dass in den Tageskämpfen die formulierten Ziele als mit unserem Programm übereinstimmend erkannt werden (wir sind die Partei, die sich dieser Probleme annimmt), und andererseits indem es tatsächlich eine Alternative zur herrschenden Ordnung als eine konkrete Kampfperspektive aufweist (wir sind die einzige Partei, die für eine radikale Lösung eintritt). Das heißt, indem das Programm die auf diesem Weg zu gehenden Schritte als fassbare Ziele bestimmt und damit als Sammlungspunkt für die Kämpfenden dienen kann.

Um die Verbindung zwischen den spontanen Kämpfen der Klasse und einem kommunistischen Programm herzustellen, bedarf es zugleich natürlich einer vermittelnden Praxis von Aufklärung, Bildung, Agitation und Organisierung. Aufklärung wäre zu leisten über die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse, Konfliktlinien und Entwicklungstendenzen. Zu entfalten wären die intellektuellen, sozialen, technischen und politischen Fähigkeiten der Mitglieder und Sympathisant:innen der kommunistischen Bewegung. Dafür braucht es eine eigenständige Presse, idealerweise auch auf der lokalen und betrieblichen Ebene, Flugblätter zu aktuellen Vorgängen, theoretische Zeitschriften, unabhängige Forschung, eigene Räume für Veranstaltungen und Treffen und der kollektiven und individuellen Diskussion mit Genoss:innen und Kolleg:innen.

Die Agitation zielt darauf, unsere Ziele vielen Leuten bekannt zu machen, indem wir beispielsweise zu drängenden Fragen der Gegenwart Stellung beziehen oder für ein bestimmtes Teilziel eintreten. In diesen Auseinandersetzungen könnte so einer breiteren Öffentlichkeit deutlich werden, wofür wir stehen, und Sympathisant:innen würden einen Anlaufpunkt erhalten, wo sie sich mit Gleichgesinnten zusammenschließen können.

Schließlich würde die politische Arbeit darauf zielen zu wachsen, indem neue Mitglieder gewonnen werden, die finanziellen und materiellen Ressourcen ausgebaut und die Reichweite und lokale Verankerung sowie die internationale Vernetzung der Organisation vergrößert werden. Gleichzeitig hieße es auch, sich an der Rekonstruktion und Erneuerung der weiteren Arbeiter:innenbewegung zu beteiligen und deren Tendenzen zur Selbstorganisation zu fördern, da es am Ende auf die Fähigkeit großer Teile der Klasse und nicht nur der Partei ankommt, politisch zu handeln. Wie das am effektivsten geschehen kann, muss selbst Gegenstand der theoretischen und politischen Verständigung sein.

Einigkeit besteht zwischen uns und unseren Kritiker:innen darin, dass innerhalb der Arbeiter:innenbewegung und insbesondere innerhalb ihrer Organisationen eine starke Tendenz zur Integration in die herrschende Ordnung vorherrscht. Die noch existierenden Massenorganisationen wie die DGB-Gewerkschaften und hier besonders der Apparat an Hauptamtlichen sind Stützpunkte des Kapitals innerhalb der Arbeiter:innenbewegung, die daran orientiert sind, Politik für den Standort zu machen und die Lohnarbeiter:innen auf ihre Rolle zu verewigen. Wir stimmen auch darin überein, dass das Problem nicht allein in der Bürokratie dieser Organisationen besteht, sondern strukturell aus dem Klassenverhältnis erwächst. Insofern handelt es sich nach unserer Auffassung um Hindernisse, die durch gezieltes Hinwirken auf geeignete institutionelle Organisationsformen und Entscheidungsstrukturen abzubauen wären. Wir müssen in den Organisationen der Klasse einen Umgang mit solchen Kräften und Tendenzen finden – spätestens an dem Punkt, an dem sich eine spontane Massenbewegung in der erhofften Weise bahnbricht und entgegen unserer Erwartungen tatsächlich zur wilden Aneignung schreiten würde, würden sich Strukturen zur Koordination herausbilden, die ähnlichen Gefahren unterliegen. Auch dann käme es auf die Etablierung von Entscheidungsmechanismen an, die es der Arbeiter:innenklasse erlauben, ihren Kampf zu organisieren und dann die Belange der gesamten Gesellschaft demokratisch zu regeln.

Nach unserer Auffassung sollten wir jedoch darauf hinwirken, solche Formen schon heute zu etablieren und denken, dass sie Instrumente darstellen, die der Verselbstständigung einer Schicht professioneller Aktivist:innen oder Politiker:innen entgegenwirken können. Damit meinen wir solche Maßnahmen, die die Führung und Funktionsträger:innen gegenüber den Mitgliedern verantwortlich machen würden. Wie wir in unserem Ausgangstext geschrieben haben: „Aus unserer Sicht bedarf es etwa effektiver Mechanismen der demokratischen Kontrolle von unten, die es der Basis erlauben würde, gegen Entscheidungen der Führung vorzugehen, einer Beschränkung der Gehälter von Hauptamtlichen auf einen durchschnittlichen Lohn sowie Foren für eine freie Diskussion unter den Mitgliedern der Organisation.“ Demokratische Kontrolle, das wäre hier noch zu ergänzen, meint die Wahl auf jederzeitigen Widerruf durch die Mitglieder. Neben der Beschränkung der Gehälter würde die möglichst häufige Rotation bei Posten, vor allem bei höheren Funktionären, die Verselbständigung einer Führungsschicht von der Basis eindämmen. Weiter müsste jeder lokalen Sektion wie auch jeder Interessensgruppe (Jugend-, Frauen- oder Minderheitenorganisationen) die Möglichkeit gegeben werden, sich eigenständig zu organisieren und eigene Positionen zu publizieren, die auch offen gegen die Linie der Führung gerichtet sein können. Die Möglichkeit der Bildung permanenter und zeitweiliger Fraktionen innerhalb der Parteistrukturen ist Voraussetzung für eine Partei, in der wirklich die Arbeiter:innenklasse und nicht eine Gruppe an Bürokrat:innen Macht ausüben kann. Allerdings muss bei alledem die Verbindlichkeit von internationalen sowie nationalen, demokratisch getroffenen, programmatischen Entscheidungen garantiert sein. Für viele Genoss:innen klingt das sicher autoritär. In Wahrheit war es aber das Hinwegsetzen der Rechten innerhalb der SPD über geltende Beschlüsse der Internationalen, die in der Zustimmung zu den Kriegskrediten und dem Einschwenken auf Burgfrieden und Bellizismus zum Ausdruck kam. Ein gewisser, demokratischer Zentralismus und ein Maß an Parteidisziplin ist daher notwendig, um reaktionäre und reformistische Elemente, die aus der Arbeiter:innenbewegung mit Notwendigkeit hervorgehen, einhegen zu können. In alledem steckt allerdings noch immer keine Garantie dafür, dass diese Einhegung auch gelingt. Uns bleibt aber nichts anderes übrig, als zu versuchen, durch institutionelle Mechanismen und politische Prinzipienfestigkeit gegen diese objektiven Tendenzen vorzugehen, da wir nur die Wahl zwischen desorganisierter Bedeutungslosigkeit und dem Kampf um demokratische Organisationsformen der Klasse haben.

Wir wollen mit diesen Ausführungen dem Bedürfnis Rechnung tragen, dass der Begriff der Partei in unserem ersten Text zu unbestimmt geblieben ist. Die hier skizzierten Überlegungen zu Mechanismen der demokratischen Kontrolle von unten sehen wir jedoch auch als relevant an für die Auseinandersetzung mit bestehenden Organisationen, seien es unsere eigenen Gruppen oder breitere Zusammenschlüsse von Teilen der Klasse.

Schluss

Wir hoffen, mit diesen eingehenderen Erläuterungen die teils apodiktisch geratenen Ausgangsthesen nachvollziehbarer gemacht und ein paar der Irritationen und Fragen auf Seiten der Genoss:innen ausgeräumt zu haben. Zusammenfassend möchten wir hier unsere grundlegende Überzeugung und mögliche weiterführende Aufgaben kurz umreißen.

Aus unserer Sicht hat sich an der Notwendigkeit von politischer Organisierung im hier beschriebenen Sinne durch alle Veränderungen der bürgerlichen Gesellschaft im Verlauf des letzten Jahrhunderts nichts Grundsätzliches geändert: Transformiert haben sich die Bedingungen, unter denen sich die Proletarisierten organisieren müssen, was natürlich auch die Formen, in denen eine solche Organisierung stattfindet, tangiert. Beispielsweise erscheint es unter der Voraussetzung der sozialstaatlichen und kulturellen Integration der Proletarisierten in die herrschende Ordnung zumindest im Augenblick wenig aussichtsreich, eine alternative Kultur rund um ein eigenes Universum von Arbeiter:innenvereinen, -chören, Unterstützungskassen, Kneipen etc. aufzubauen. Das alte Arbeiter:innenmilieu mit seiner Gegenkultur war ein spontanes Produkt eines auch politisch vom Gemeinwesen ausgeschlossenen Proletariats. Ein versuchtes Reenactment dieser Entwicklungsphase wird vermutlich kaum über ein nostalgisches kommunistisches Milieu hinausstrahlen. Andererseits bietet die Entwicklung der Kommunikationstechnologien neue Möglichkeiten der Zusammenfassung, Diskussion und Entscheidungsfindung, die teils – wie in den „digital parties” – die etablierten Praxen und Strukturen innerhalb politischer Organisationen in Frage gestellt haben.52 Das Hinauswachsen über die fordistische Massenproduktion und -kultur hat zudem einen Prozess der Klassenneuzusammensetzung und Individualisierung in Gang gesetzt, der sich in einer abnehmenden Konzentration der Lohnabhängigen einerseits niederschlägt, andererseits den klassenmäßigen Sozialisierungsprozess stark ausdifferenziert hat. Zudem – und dies lastet vermutlich am schwersten – hat die Arbeiter:innenbewegung verherrende und tiefgreifende Niederlagen erlitten und befindet sich weiter in der Defensive. Kollektiver Gegenwehr und Klassenmacht ist Individualisierung und Resignation gewichen. Die alten Organisationen erscheinen für viele Unzufriedene nicht als Bezugspunkt und wenn sich ihre Wut entlädt, dann sucht sie sich derzeit häufig andere Wege.53 Vieles spricht also für die These von ARS, dass wir es auch zukünftig mit einer Vielzahl unterschiedlicher Organisationen und Organisationsweisen zu tun haben werden. Die spontanen Formen der Selbstorganisation nehmen ihren Ausgang von einem niedrigen Niveau sozialer und politischer Kohäsion.54 Dies bedeutet aber nicht, dass wir organisatorische Pluralität als Wert an sich betrachten sollten, vielmehr müssen wir verstehen, wie die Arbeiter:innenklasse sich unter den gegebenen Umständen organisiert und vermittels dieser organisatorischen Praktiken Macht ausüben kann und den Prozess der Klassenbildung fördern und weitertreiben, der darin zum Ausdruck kommt.

Dennoch: An der Grundtatsache, dass die Lohnabhängigen sich aufgrund ihrer Trennung von den Produktionsmitteln zusammenschließen müssen, um ihre Lage als Klasse zu verbessern, daran hat sich bis heute nichts geändert. Sämtliche sozialen und politischen Metamorphosen, die im anti-autoritären Milieu gerne als Begründung für das notwendige Ende von Partei und Organisation angegeben werden, sind unserer Ansicht nach erschwerende Bedingungen, unter denen die nach wie vor notwendige politische Organisierung heute stattfinden muss: Das globale Anwachsen einer Surplusbevölkerung, die präzedenzlose Fragmentierung zwischen Kopf- und Handarbeit, die Atomisierung der Proletarisierten, die Integrationsmechanismen des bürgerlich-demokratischen Staates, das Problem einer sozialistischen Transformation vor dem Hintergrund der Klimaproblematik usw. usf. – all das sind unserer Meinung nach Argumente für Partei und Organisation, da die Lösung jener Probleme nationale und internationale Assoziation, proletarische politische Autonomie und koordinierte Entscheidungsmechanismen voraussetzen. Die „Veränderung der Gesellschaft bedarf eines positiven Programms und der organisatorischen Fähigkeit, eine Alternative zur gegenwärtigen Ordnung aufzuzeigen.”55 Schließlich soll an die Stelle der die Menschen beherrschenden Dynamik der kapitalistischen Produktionsweise die bewusste und demokratische Regelung der gesellschaftlichen Belange treten. Dieses Ziel lässt sich auf dem gegebenen Entwicklungsstand der Produktivkräfte – der globalen Arbeitsteilung – nicht durch disparate und lokale Bewegungen der Aneignung erreichen, sondern bedarf des bewussten und zielgerichteten Zusammenwirkens und der Koordinierung der Aneignungsprozesse auf nationaler und transnationaler Ebene. Deshalb erscheint es uns letztlich unumgänglich, dass sich vor der Zuspitzung einer potentiell revolutionären Krise der bürgerlichen Gesellschaft eine demokratische, internationale, kommunistische Massenpartei hat herausbilden können, die in der Lage ist, eine reale Alternative zu formulieren und in den sozialen Kämpfen zur Geltung zu bringen.Vor diesem in unbestimmter Ferne liegenden Horizont wollen wir mit einigen konkreten Aufgaben schließen, die aus unserer Sicht sinnvollerweise heute schon angegangen werden könnten. Die innerhalb des Blog-Zusammenhangs aktuell sicher nicht gegebene Voraussetzung dafür wäre, dass man sich über die hier formulierten Grundsätze einig werden würde. Insofern sehen wir darin derzeit lediglich hypothetische Entwicklungsschritte. Trotzdem hoffen wir, dass unsere praktische Perspektive etwas deutlichere Konturen erhält. Es wären kleine, aber darin vielleicht auch richtungsweisende Schritte, um die Trägheit und praktische Orientierungslosigkeit der kommunistischen Zirkel zugunsten einer konkreten Arbeitsperspektive zu überwinden. Mittelfristig wäre diese Arbeit daran zu messen, ob es gelingt, einen bescheidenen Beitrag zur Rekonstruktion einer sozialistischen Arbeiter:innenbewegung im 21. Jahrhundert zu leisten.

  • Mit Blick auf die hauptsächlich theoretisch arbeitenden Zirkel innerhalb des Milieus wäre es aus unserer Sicht ein Fortschritt, wenn die derzeit rein spontane Entwicklung von Arbeitsvorhaben zugunsten einer gemeinsamen Verständigung über drängende Fragen und Probleme marxistischer Theorie und eines auf dieser Grundlage zu entwerfenden und arbeitsteilig anzugehenden Forschungs- und Arbeitsprogramms aufgehoben werden könnte.56 Das Ziel eines solchen Unterfangens sollte es sein, praktisch die schwachen Kapazitäten zu bündeln und zu fokussieren, inhaltlich ein klareres Verständnis über die gegenwärtigen politischen und sozialen (Klassen-)Verhältnisse zu erlangen und zu versuchen, realistische politische Interventionsmöglichkeiten für eine langfristig ausgerichtete kommunistische Politik und Organisationsarbeit zu identifizieren. Langfristig ausgerichtete Politik meint: keine zeitlich und kräftemäßig verzehrende Kampagnenarbeit, sondern geduldige, aber stetige Versuche, Klassenorganisationen zu unterstützen oder herauszubilden und mit der eigenen Aufklärungs- und Agitationsarbeit zu verschränken.
  • Als Voraussetzung für eine solche Interventions- und Organisationsarbeit müsste die vorherrschende informelle Organisationsweise zugunsten transparenter, formalisierter Strukturen mit funktionierender Arbeitsteilung und Aufgabendelegation überwunden werden. Dies würde die Klärung grundsätzlicher politischer und organisationspraktischer Fragen voraussetzen, die als Grundlage einer erneuerten politischen Praxis dienen könnten.
  • Besser noch als eine Zusammenfassung der überschaubaren Grüppchen im Milieu – die dem derzeitigen Debattenstand nach sowieso niemand will – wäre es aus unserer Sicht, wenn es gelänge, auf Basis der angesprochenen politischen Prinzipien und Zielsetzung in die Diskussion mit weiteren Gruppen zu treten, die diese Prinzipien teilen und die Möglichkeit für gemeinsame Aktionen, eine längerfristige Kollaboration oder sogar eine Vereinigung auszuloten. Leitend sollte dabei sein, uns auf Basis geteilter politischer Ziele zusammen zu tun und eine Offenheit für die Klärung theoretischer und taktischer Differenzen zu bewahren mit dem Ziel, dem langfristigen Aufbau einer demokratischen kommunistischen Partei vorzuarbeiten.

 

 

  • 1. Der missliche Umstand, dass Klassenbildung kein automatisches Resultat des Klassenverhältnisses ist, wird handgreiflich am bisher nur punktuell gestoppten Trend der Auflösung von Klassenorganisationen, Klassenidentität und damit von kollektivem Klassenhandeln. Der historische Hintergrund dieses Prozesses sind einerseits die terroristische Zerschlagung und Integration der Arbeiter:innenbewegung im Faschismus und ihre bürokratische Atomisierung im Stalinismus. Andererseits ist es dem Kapital infolge der Krise 1973 und im Zuge des anhaltenden Abschwungs der Weltwirtschaft gelungen, selbst die sozial-korporatistischen Stellungen der Arbeiter:innenklasse weitgehend aufzulösen. Kollektiver Klassenmacht und Gegenwehr ist individuelle Anpassung gewichen. An dieser Entwicklung zeigt sich jedoch gleichzeitig die Stimmigkeit der marxistischen Diagnose hinsichtlich der Notwendigkeit, als Klasse zu handeln. Denn die Schwächung der Klassenorganisationen korreliert mit einer zunehmenden Klassenpolarisierung, die sich auf Seiten der Lohnabhängigen u.a. in Prekarisierung, Reallohnverlusten und gestiegener Arbeitsintensität niederschlägt.
  • 2. Vgl. dazu auch die programmatischen Ausführungen von Marx im Elend der Philosophie: “Die Großindustrie bringt eine Menge einander unbekannter Leute an einem Ort zusammen. Die Konkurrenz spaltet sie in ihren Interessen; aber die Aufrechterhaltung des Lohnes, dieses gemeinsame Interesse gegenüber ihrem Meister, vereinigt sie in einem gemeinsamen Gedanken des Widerstandes - Koalition. So hat die Koalition stets einen doppelten Zweck, den, die Konkurrenz der Arbeiter unter sich aufzuheben, um dem Kapitalisten eine allgemeine Konkurrenz machen zu können. Wenn der erste Zweck des Widerstandes nur die Aufrechterhaltung der Löhne war, so formieren sich die anfangs isolierten Koalitionen in dem Maß, wie die Kapitalisten ihrerseits sich behufs der Repression vereinigen zu Gruppen, und gegenüber dem stets vereinigten Kapital wird die Aufrechterhaltung der Assoziationen notwendiger für sie als die des Lohnes. [...] In diesem Kampfe - ein veritabler Bürgerkrieg - vereinigen und entwickeln sich alle Elemente für eine kommende Schlacht. Einmal auf diesem Punkte angelangt, nimmt die Koalition einen politischen Charakter an.” (MEW 4: 180)
  • 3. Hal Draper: Karl Marx’s Theory of Revolution. Volume II: The Politics of Social Classes, New York 1978: 40f.
  • 4. Felix Klopotek: Ungenau und undogmatisch, 2021.
  • 5. Vgl. Monty Johnstone: Marx and Engels and the concept of Party, 1967. In der deutschen Marxdebatte werden diese Positionen gerne Engels in die Schuhe geschoben und Marx’ eindeutige diesbezügliche Aussagen entweder ignoriert oder als wahlweise exoterische, weltanschauliche oder geschichtsphilosophische Überreste aus seinem Theoriegebäude herausgelöst. So hat auch das Heimatland der akademischen Marxologie bis heute keine Arbeit über die politischen Schriften Marxens hervorgebracht, die auch nur annähernd die Qualität der umfangreichen Studie von Hal Draper zu Marx’ Revolutionstheorie erreicht.
  • 6. Klopotek: Ungenau
  • 7. Hal Draper: Karl Marx’s Theory, Vol.II, New York 1986, 53.
  • 8. Karl Kautsky: Der Weg zur Macht, Kapitel 9, 1909.
  • 9. Siehe dazu Mike Macnair: Revolutionary Strategy, 2008, 54f.
  • 10. So thematisierte Engels bereits 1879 in einem Rundschreiben an Bebel, Liebknecht und Bracke erste opportunistische Tendenzen in der Partei – namentlich den Bruch mit der Parteidisziplin durch die Abstimmung für einen Regierungsetat. Marx machte dafür den in der Partei um sich greifenden „parlamentarischen Idiotismus“ (MEW 34: 413) verantwortlich und die Bestrebungen, die proletarische Programmatik zugunsten der Ansprache des Kleinbürgertums aufzugeben sowie schließlich den Sozialismus zur Versicherung der Herrschenden zu einem entfernten Endziel zu erklären (Ebd.: 394ff.).
  • 11. vgl. Hal Draper: Karl Marx’s Theory of Revolution, Vol. IV, New York 1990. LK Geschichte der Arbeiter:innenbewegung: Die internationale Arbeiterassoziation, 2021.
  • 12. Karl Kautsky: Der politische Massenstreik, Kapitel 1, 1914.
  • 13. vgl. Claus Offe, Helmut Wiesenthal: Two Logics of collective Action. Theoretical notes on social class and organizational form, 1980.
  • 14. Dieses Element von Klassenorganisierung hat bereits Marx im Elend der Philosophie angesprochen, wenn er über die Verwunderung der englischen Ökonomen berichtet, angesichts der Tatsache, dass “die Arbeiter einen großen Teil ihres Lohnes zugunsten von Assoziationen opfern, die in den Augen der Ökonomen nur zugunsten des Lohnes errichtet wurden.” (MEW 4: 180) Unmittelbare individuelle ökonomische Interessen werden zugunsten von politischen Klasseninteressen zurückgestellt, was nur anhand einer Kultur der Solidarität rational werden kann. Endnotes heben diese Funktion einer kulturellen Klassenidentität in ihrem Text zur Geschichte der Arbeiter:innenbewegung A History of Separation hervor und meinen die “moral community” der Arbeiter:innen sei letztlich eine “ad-hoc construction” gewesen (Endnotes 4, Unity in Separation: 102, 2015). Wir können Vivek Chibbers Auffassung mehr abgewinnen, der die Schaffung einer solidarischen Klassenidentität zwar als “social intervention” bezeichnet, zugleich aber festhält, dass es sich bei ihr keineswegs um eine Konstruktion handle, sondern jene stets in materiellen Interessen grundiert sei (vgl: Vivek Chibber: Rescuing the Class from the Cultural Turn, in: The Catalyst, Vol. 1, 2017).
  • 15. Vgl. Robert Brenner: The paradox of Social Democracy, 2016.
  • 16. “Mit der Entwicklung eines Apparates wird eines der zentralen Merkmale der Klassengesellschaft in die Arbeiterorganisationen übertragen: die gesellschaftliche Arbeitsteilung. Diese weist im Kapitalismus der Arbeiterklasse die Arbeit der unmittelbaren Produktion zu, während die Produktion und Aneignung von Kultur - wie auch alle Aufgaben der Akkumulation - quasi das Monopol anderer sozialer Klassen und Schichten sind.” (Ernest Mandel: Organization and the Usurpation of Power, in: Power And Money. A Marxist Theory of Bureaucracy, London 1992, S. 60) “Die Entstehung einer neuen Arbeitsteilung zwischen Apparat und Mitglied führt auf der Ebene der Mentalitäten (Ideologie) fast zwangsläufig zu Phänomenen des Organisationsfetischismus. Angesichts der extremen Arbeitsteilung, die in der bürgerlichen Gesellschaft im Allgemeinen vorherrscht, neigt die Tatsache, dass die Menschen in einem winzigen Tätigkeitsbereich gefangen sind, dazu, sich in einer Betrachtung dieser Tätigkeit als Selbstzweck zu äußern. Dies gilt insbesondere für diejenigen, die sich mit einem Apparat identifizieren, die permanent in ihm leben und ihren Lebensunterhalt aus ihm beziehen: die Vollzeitbeschäftigten, die potenziellen Bürokraten.” (Ebd. 66)
  • 17. Aaron Eckstein, Ruth Jackson, Stefan Torak: Keine Mystik in Zeiten der Schwäche, 2021.
  • 18. Rosa Luxemburg: Massenstreik, Partei und Gewerkschaften, Kapitel 4, 1906.
  • 19. Endnotes: Spontanteity, Mediation, Rupture, in: Endnotes #3, 2013.
  • 20. Klopotek: Undogmatisch
  • 21. Robert Schlosser: Anmerkungen zur Organisations- und Strategiedebatte, 2021.
  • 22. Freundinnen und Freunde der klassenlosen Gesellschaft: Umrisse der Weltcommune, in: Kosmoprolet #5, 2018.
  • 23. Damit meinen wir den Umstand, dass jede/r Einzelne auf Gedeih und Verderben von seinem Lohneinkommen abhängt und gegenüber dem einzelnen Kapitalisten und der kapitalistischen Klasse strukturell im Nachsehen ist. Kollektive Gegenwehr ist für Lohnarbeiter:innen deshalb mit hohen Risiken verbunden (Lohnarbeitsverlust mit allen Folgen etc.), Risiken, die auf Basis einer kollektiven Identität eher eingegangen werden und durch Organisation praktisch abgefedert werden müssen. Ansonsten liegt es viel näher den Kopf einzuziehen, nach oben zu buckeln und nach unten zu treten.
  • 24. vgl. Johannes Hauer: Das alte Schmierenstück. Zur Mythisierung eines Arbeitskampfes, 2014.
  • 25. Fredo Corvo: Bolschewismus als alternative zu selbstgewählter Ohnmacht?, 2021.
  • 26. Mike Macnair: Revolutionary Strategy, 2008, S. 118.
  • 27. Eine solche Avantgardefunktion auszuüben bedeutet nicht, über Fehler erhaben zu sein, sondern die Selbstverpflichtung darauf, Fehler korrigieren zu wollen, die eigenen Fähigkeiten zu entwickeln und eine grundlegende Offenheit für die “Innovationen im Klassenkampf” durch die spontane Massenpraxis zu bewahren.
  • 28. Fredo Corvo: Bolschewismus als alternative zu selbstgewählter Ohnmacht?, 2021.
  • 29. Ebd., auch alle weiteren nicht ausgewiesenen Zitate in diesem Abschnitt.
  • 30. http://www.trend.infopartisan.net/trd1116/t211116.html[/fn], damit würden wir uns für Deutschland auf dem Niveau der alten SPD bewegen. Fredo Corvos Bezugspunkt ist aber dezidiert nicht diese Form der politischen Massenorganisation, sondern die KAPD, die einen sehr viel überschaubareren Kreis an sehr bewussten Arbeiter:innen organisierte. Uns fällt es hier schwer, seinen Optimismus hinsichtlich dieser Herangehensweise zu teilen. Historisch jedenfalls spricht aus unserer Sicht ziemlich wenig für den Erfolg einer solchen Organisationspraxis und der mit ihr einhergehenden Strategie.Die KAPD verstand sich als Vertreterin einer „rein revolutionäre[n] Linie“KAP und Union, in: KAZ (Berlin), Zit. n. Arnold, Volker (1985): Rätebewegung und Rätetheorien in der Novemberrevolution, S. 166
  • 31. Programm der KAPD, 1920
  • 32. Ebd.
  • 33. Die Konflikte innerhalb der KAPD/AAU, die zu zahlreichen Abspaltungen und Ausschlüssen führten, drehten sich vor allem um das Verhältnis der Partei zur Arbeiterunion sowie um die Frage der Beteiligung an tagesaktuellen nicht revolutionären Kämpfen. Die erste Abspaltung vollzog sich in der Arbeiterunion Ostsachsen um Otto Rühle. Rühle war ein Verfechter der Einheitsorganisation, die auf der Idee beruhte, dass die herkömmliche Trennung von Partei und Gewerkschaften in der Arbeiterbewegung überkommen war. Es formierte sich insbesondere in Sachsen und Hamburg eine starke Opposition gegen die parteiförmige Organisation der KAPD im Allgemeinen und gegen die Unterordnung der AAU unter deren Direktive. Nach Rühles Ausschluss aus der Partei gründeten diese Unionen im Oktober 1921 einen eigenen Zusammenschluss, die Allgemeine Arbeiter-Union Einheitsorganisation (AAUE). Damit war nicht nur der Führungsanspruch der KAPD in Frage gestellt, sondern auch die Arbeiter-Unionen gespalten. Ein halbes Jahr später geriet die Partei abermals in die Krise: Die Berliner KAPD zerstritt sich u. a. über der Frage über die Teilnahme an Lohnstreiks und mehrere Mitglieder, darunter der Mitbegründer der KAPD Karl Schröder, die in der Beteiligung an Lohnstreiks ein Abgleiten in den Reformismus witterten, wurden ausgeschlossen. Dieser Prozess der Spaltungen setzte sich sowohl innerhalb der KAPD/AAU als auch in der AAUE insbesondere bis 1923 weiter fort.
  • 34. Henry Jacoby (1971): Utopie als Gegenbild, in: Rühle, Otto: Baupläne für eine neue Gesellschaft, S. 253.
  • 35. Anton Pannekoek: Weltrevolution und kommunistische Taktik, 1920.
  • 36. Paul Mattick, zit. n. Corvo.
  • 37. ebd.
  • 38. Michael Bakunin, zit. n. Franz Mehring: Karl Marx. Geschichte seines Lebens, 5. Kapitel.
  • 39. Michael Bakunin: Briefe an Albert Richard über die Alliance 1868/1870, in: Michael Bakunin, Gesammelte Werke, Band III; Berlin 1924. Seite 97ff.
  • 40. Anton Pannekoek: Weltrevolution und kommunistische Taktik, 1920.
  • 41. Eine solche politische Mehrheit muss allerdings nicht mit einer parlamentarischen Mehrheit identisch sein, siehe Mike Macnair: Revolution and Reforms, 2019.
  • 42. Angry Workers of the World: Aufstand und Produktion, 2016.
  • 43. Ebd.
  • 44. Freundinnen und Freunde der klassenlosen Gesellschaft: Umrisse ...
  • 45. Um das Argument noch einmal historisch rückzubinden: Rabinowitch hebt in seiner Untersuchung den erfolgreichen Kampf der Bolschewiki um den Einfluss in der Petrograder Garrison für den späteren Erfolg der Revolution hervor. Alle Parteien rangen um Einfluss auf die in Petrograd stationierten Soldaten: „Aber mehr als jede andere Partei widmeten die Bolschewiki dieser Sache Aufmerksamkeit und einen enormen Aufwand. (...) Die anhaltende bolschewistische Kampagne zur Erlangung von Einfluss in der Garnison begann fast unmittelbar nach der Entstehung legaler bolschewistischer Parteiorganisationen. (...) Die Versuche der Bolschewiki, in der Petrograder Garnison Fuß zu fassen, waren keineswegs sofort erfolgreich. Im März wurden solche Bemühungen durch einen Mangel an ausgebildeten Agitatoren behindert (und in jedem Fall waren die Truppen wahrscheinlich damit zufrieden, dem Sowjet zu folgen). (...) Von da an fand das revolutionäre Programm der Bolschewiki eine immer größere Anhängerschaft. (...) Mitte Mai muss die Wirkung dieser Propaganda bereits spürbar gewesen sein. (...) In den meisten größeren Einheiten der Garnison waren Parteizellen gegründet worden.” (Alexander Rabinowitch: Prelude to Revolution, Bloomington 1991, S. 49ff.)
  • 46. Eckstein et. al.: Keine Mystik ...
  • 47. Vgl. Macnair: Revolutionary Strategy, 28f.
  • 48. Eckstein et. al.: Keine Mystik
  • 49. Rosa Luxemburg: Eine taktische Frage, 1899.
  • 50. Wolfgang Abendroth, zit. n. Richard Heigel: Wolfang Abendroths Parteitheorie, in: Utopie kreativ, Nr. 187, 2006, S. 415.
  • 51. Jenseits dessen sollten wir aber jede Entwicklung in Richtung eines politischen Zusammenschlusses von Arbeiter:innen unterstützen und darin nach Möglichkeit mitwirken.
  • 52. Ein Ansatz, die organisatorischen Veränderungen und das Zusammenwirken multipler Organisationen und Organisationsweisen zu denken, findet sich bei Rodrigo Nunez: Neither vertical nor horizontal. A Theory of Political Organization, London 2021.
  • 53. Arbeitskreis Gilets Jaunes der translib: 100 Euro und ein Mars, 2020.
  • 54. Ein Ansatz, die organisatorischen Veränderungen und das Zusammenwirken multipler Organisationen und Organisationsweisen zu denken, findet sich bei Rodrigo Nunez: Neither vertical nor horizontal. A Theory of Political Organization, London 2021.
  • 55. Donald Parkinson: Nothing new to look at here. Towards a critique of communization, 2015.
  • 56. In diesem Punkt scheint es zumindest mit Klaus Klamm eine gewisse Übereinstimmung zu geben, der in dem jüngst erschienen Beitrag zur Debatte eine systematischere Ausrichtung der theoretischen Arbeit vorschlägt.