The Proof of the Riot-Pudding...

21. August 2021

Anmerkungen zu Clovers historisch-materialistischer Theorie proletarischer Kämpfe

Mit seiner kürzlich auf Deutsch erschienenen Theorie des Riots versucht Joshua Clover die proletarischen Kämpfe der Gegenwart vor dem Hintergrund der krisenhaften Transformationen des Kapitals zu interpretieren. Gerade wenn man das Anliegen teilt, eine historisch-materialistische Theorie zu entwickeln, die den Kämpfen orientierend zur Seite steht, muss man sich von Clovers historischem Schema, das seiner Theorie zugrunde liegt, verabschieden.

Historisch-materialistische Theorie begreift die Gegenwart in Hinblick auf ihre Veränderbarkeit. Sie ist in diesem Sinne revolutionäre Theorie, ein Beitrag zu dem praktischen Versuch, den Sprung aus der naturwüchsigen Vorgeschichte in die Geschichte der freien Assoziation zu schaffen. Das verweist auf ihre Grenze. Sie verliert ihre Gültigkeit und Zuständigkeit dort, wo die Momente von Freiheit oder Spontaneität ins Spiel kommen. Sie kann nur (im besten Fall) Erklärungen dafür liefern, wie auf dem Boden der Vorgeschichte Kämpfe entstehen, und aufzeigen, aus welchen Widersprüchen sie erwachsen. Die revolutionäre Qualität von Kämpfen – seien es (Massen-, General-, Frauen- oder Bildungs-)Streiks, Riots, Aufstände, Sabotagen oder Bossnappings – bestimmt sich aber nicht aus ihrem Herkommen, sondern aus dem, wohin sie führen. Revolutionäre Theorie historisch-materialistischer Prägung kann also – streng genommen – keine positive Theorie der revolutionären Kämpfe sein. Diese brechen mit der „schäbigen materialistischen Doktrin der kapitalistischen Realität, dass nämlich das Sein das Bewusstsein bestimmt“ (Krahl 2008: 206) – und wo das passiert, ist der historische Materialismus am Ende. Er kann nur Theorie für revolutionäre Kämpfe sein, sie auf die Punkte verweisen, an denen der Hebel anzusetzen wäre, negativ benennen, was es zu überwinden, womit es zu brechen gilt. Die nach vorne offene Praxis braucht die Theorie, um sich Klarheit über die gesellschaftlichen Bedingungen und die Widersprüche zu verschaffen, aus denen die Kämpfe hervorgehen, in die sie verstrickt sind, und die, damit der ewige Antagonismus ein Ende hat, aufgehoben werden müssen. Sie bleibt damit den Kämpfen nicht äußerlich, sondern trägt zu ihnen bei, indem sie ihnen hilft, ein Bewusstsein ihrer selbst zu bilden.

Wenn das stimmt – das Fragezeichen steht Punkt bei Fuß –, wäre daran Joshua Clovers historisch-materialistische Theorie des Riots als Form oder Taktik proletarischen Kämpfens zu messen. Der „Riot für KommunistInnen“ – das ist der Werbeslogan, das ist die Zielgruppe (vgl. Clover 2021: 15). Aber, fragt sich die adressierte Kommunist:in, ist Clover in der Lage, die gesellschaftlichen Bedingungen, aus denen proletarische Kämpfe hervorgehen, angemessen zu begreifen? Verschafft uns die Theorie Klarheit über die Widersprüche, die sich in den gegenwärtigen proletarischen Kämpfen artikulieren? Und kann sie helfen, den Kämpfen Orientierung zu geben?

 

Theorie des Riots in a nutshell

Clover verfolgt mit seiner Theorie das Ziel, den Riot aus der Schmuddelecke zu holen (vgl. Clover 2021: 183), indem er ihn als Ausdruck der globalen Transformationen des Kapitals versteht (17) und als Form des Klassenkampfs dechiffriert. Er verbindet historische Verschiebungen in den kollektiven Handlungsformen der Proletarisierten, die Abfolge Riot-Strike-Riot Prime, mit historischen Verschiebungen in der Bewegung des Kapitals, der Abfolge Zirkulation-Produktion-Zirkulation Prime. Diese beiden Schemata decken die Zeit vom Frühkapitalismus bis zum heutigen „Erschöpfungskapitalismus“ (199) ab. Der Zusatz „Prime“ soll dabei auf das historisch Neue der gegenwärtigen Ära der Aufstände verweisen. Die Verbindung der beiden Schemata wird zunächst über die Marxsche Krisentheorie hergestellt (vgl. 29ff.): Der „Akkumulationsbogen“ (127ff.) des produktiven Kapitals sei gegen Anfang der 1970er Jahre an sein Ende gekommen und in die Entstehung einer (rassifizierten) Surplus-Bevölkerung und einen deindustrialisierten und finanzialisierten Kapitalismus ausgelaufen. Letztlich funktioniert die Verbindung von krisenhafter Kapitaldynamik mit Formen kollektiven Handelns allerdings nur über die Einsicht, dass erstere die Proletarisierten vor bestimmte Reproduktionsprobleme stellt (vgl. 50ff./72). Bei Streiks und Riots bzw. Produktions- und Zirkulationskämpfen handle es sich um „Taktiken […], derer sich die Menschen bedienen, wenn ihre Reproduktion bedroht ist. Der Streik und der Riot sind zweckmäßige Reproduktionskämpfe in der Sphäre der Produktion bzw. der Zirkulation.“ (51)

Die Rückkehr des Riots in der Gegenwart soll „den Zustand des Kapitalismus an sich bezeugen“ (29). Er wird der weiter gefassten Kategorie des „Zirkulationskampfes“ untergeordnet und dieser wiederum als „Signalform kollektiven Handelns in der Gegenwart“ verstanden (ebd.). Es geht Clover damit auch darum, die Gegenwart über eine Art Zentralprinzip, den Zirkulationskampf, zu begreifen, und mit der Theorie des Riots eine „Theorie der Gegenwart“ (17) zu schreiben. Auch wenn Clover sich über die Unterkomplexität seines Schemas im Klaren ist, geht er davon aus, dass es einen theoretischen Rahmen liefert, der historische Konjunkturen im Repertoire der Kämpfe mit der Marx’schen Werttheorie und der konkreten Entwicklung des Wertgesetzes ins Verhältnis setzt und dadurch erklärende Kraft entfaltet (vgl. Clover 2020: 126).

Der Geltungsbereich des Schemas wird allerdings auf die kapitalistischen Metropolen begrenzt, die sich früh industrialisiert haben und sich heute im Prozess der Deindustrialisierung befinden (Clover 2021: 16). Kritiken, die das Schema mit dem Hinweis auf jüngste Streikaktivitäten, also „Produktionskämpfe“, in sogenannten Entwicklungs- und Schwellenländern empirisch widerlegen wollen, weicht Clover damit vorsorglich aus.

Fragen wir also lieber etwas treffsicherer, inwiefern uns die Theorie des Riots helfen kann, die deutschen Zustände zu begreifen. Auch wenn das hiesige Kapital nicht im selben Ausmaß und etwas später von der Deindustrialisierung erfasst wurde als das Kapital anderer Metropolen, fällt Deutschland doch zweifelsohne in den Geltungsbereich der Theorie. Schon ein kurzer Blick auf die deutschen Zustände lässt es allerdings alles andere als naheliegend erscheinen, eine Theorie des Riots könnte dazu beitragen, sie zu begreifen. Wenn der Riot das Zeichen der Zeit ist, ist Deutschland aus der Zeit gefallen. Obwohl die Proletarisierten auch hierzulande schon lange weitreichenden Angriffen durch das Kapital ausgeliefert sind – Aufstandsstimmung will nicht recht aufkommen. Lediglich die Randale rund um den G20-Gipfel in Hamburg 2017 motivierte bisher dazu, nach theoretischem Rüstzeug zu suchen, das eine irgendwie materialistische Rechtfertigung des spontanen Plünderns und Zündelns bieten könnte. Weder zur Jahrtausendwende, als die deutsche Wirtschaft zum ‚kranken Mann Europas‘ erklärt und ihr von VW-Chefarzt Peter Hartz die Agenda 2010 als Radikalkur verschrieben wurde, noch im Gefolge der Krise ab 2008 kam es hier zu nennenswerten proletarischen Aufständen, erst recht nicht zu solchen, die eine politische Trendwende provoziert hätten.1

Wie passen solche Entwicklungen, die immerhin in einem der Kernländer der kapitalistischen Welt zu beobachten bzw. nicht zu beobachten sind, in Clovers Krisenerzählung? Die schon empirisch fragwürdige Blickverengung auf die Gegenwart als „neue Ära des Riots“ (17) führt zu (krisen-)theoretischen Leerstellen, die wiederum die strategisch-praktische Tauglichkeit der Theorie infrage stellen. Gerade wenn man das Anliegen teilt, die Kämpfe der Gegenwart im Rahmen einer Analyse der krisenhaften Transformationen des Kapitals zu interpretieren, um ihnen orientierend zur Seite zu stehen, muss man sich von Clovers Schema verabschieden.

 

Die ausgesparte Hälfte

[J]ede Darstellung des Repertoires der Kämpfe in der Gegenwart“, so Clover in seinem Nachwort, müsse „zunächst eine klare Darstellung der materiellen Veränderungen haben [...], die Tatsachen erklären können“ (189). In seiner Darstellung der materiellen Veränderungen, die seit der Endphase des produktiven Akkumulationsbogens stattgefunden haben, spielen die Deindustrialisierung, die Tendenz zur Entstehung eines (rassifizierten) Surplus-Proletariats und die Finanzialisierung der Kapitalkreisläufe die zentrale Rolle. Das ist verbunden mit der Annahme, die Arbeit habe sich „dem Kapital folgend […] in die Zirkulation verlagert“ (145). Die entsprechende „Zirkulationsarbeit“ besteht für Clover neben Finanz-/Versicherungs-/Immobiliensektor (FIRE-Sektor) vor allem in Arbeiten der räumlichen Zirkulation von Waren, also Logistik, Transport und (Einzel-)Handel.

Eine andere strukturelle Verschiebung erheblichen Ausmaßes wird nur am Rande erwähnt: Mit Verweis auf den Endnotes-Text „Elend und Schulden“ schreibt er über das Ende des Akkumulationsbogens: „In einer Art großer Umkehrung drängte die Deindustrialisierung […] weite Bevölkerungsteile wieder aus der Industrie und damit dem Produktionsprozess heraus und in den Dienstleistungssektor oder in die Unterbeschäftigung bzw. die Arbeitslosigkeit.“ (129f.) Der Übergang zu einer dienstleistungslastigen Ökonomie verschwindet dann jedoch wieder aus seiner Theorie,2 da der sogenannte Dienstleistungssektor keinen Platz im Schema hat.

Dieser Sektor ist, das ist keine Frage, äußerst heterogen und von vielen Differenzlinien durchzogen (gut/schlecht entlohnt, hoch/niedrig qualifiziert, nicht-/personenbezogen, formell/informell etc. pp.). Er fungiert eher als ein Sammelbecken für all jene Arbeiten, die nicht in der agrarwirtschaftlichen oder der industriellen Produktion aufgehen – in diesen Bereichen arbeiten in Deutschland immerhin ca. drei Viertel aller Erwerbstätigen und in allen kapitalistischen Metropolen zwischen 70 und 80 Prozent (vgl. Benanav 2020). Eine klare, einheitliche Definition davon, was eine Dienstleistung ist, gibt es entsprechend nicht. Und so fällt auch ein Teil dieses Sektors mit jenen Arbeiten zusammen, die Clover als „Zirkulationsarbeit“ klassifiziert.

Versuchen wir zunächst eine grobe Annäherung in Zahlen. Die Beschäftigung in den Bereichen der „Zirkulationsarbeit“ beläuft sich in Deutschland (2019) auf zusammen 9.082.000 und damit ca. 21% der Erwerbstätigen.3 Mit den Beschäftigten aus dem primären und sekundären Sektor (zusammen 11.500.000) kommt man nicht einmal auf die Hälfte aller Erwerbstätigen in Deutschland, die durch Clovers ökonomie- und krisentheoretische Zentralkategorien abdeckt sind – und das in einem exportorientierten Land, das noch nicht einmal am stärksten von der Tendenz zur Deindustrialisierung erfasst wurde. Eine „klare Darstellung der materiellen Veränderung“ darf sich so eine Lücke nicht erlauben, insbesondere dann nicht, wenn der ausgesparte Teil der Beschäftigung das Auffangbecken für die von der Deindustrialisierung Betroffenen bildet4 und gleichzeitig krisentheoretische Implikationen hat, die mit den Besonderheiten der Arbeitsprozesse zu tun haben, die häufig nur schwer oder unter Qualitätseinbußen technisch rationalisiert werden können.5

Worum geht es bei diesem ausgesparten Teil? Zum einen um die auch nicht unerheblichen 5.264.000 Beschäftigten im Bereich von Unternehmensführung und -organisation (KldB 71) von diesen Kontrolltätigkeiten, die von Funktionsträger:innen der herrschenden Klasse ausgeübt werden, sei hier abgesehen (vgl. aber Smith 2020: 92ff.); zum anderen um Arbeiten a) im Bereich von Schutz, Sicherheit, Überwachung und Reinigung (1.965.000); b) im Bereich von Tourismus, Hotel- und Gaststättengewerbe (1.235.000); c) im Bereich Geisteswissenschaften, Kultur, Gestaltung (1.330.000) sowie d) Naturwissenschaft, Geografie und Informatik (1670.000); und last but not least e) im Bereich Gesundheit, Soziales, Lehre, Erziehung (8.350.000). Allein der letzte Bereich, in dem zentrale Care-Arbeiten angesiedelt sind, der also den Kern der lohnarbeitsförmigen Care-Ökonomie ausmacht, ist in Deutschland größer als das gesamte produzierende Gewerbe (ohne Baugewerbe).

Insbesondere die sogenannte Gesundheitswirtschaft gilt in den Metropolen schon lange als Wachstumsmotor. Und dieser Bereich expandiert weiter. Für die USA liegen Prognosen von 2020 für die Zeit bis 2024 vor: „In Übereinstimmung mit längerfristigen Trends wird erwartet, dass sich in diesem Zeitraum das Netto-Beschäftigungswachstum in den USA – 19 von 20 neuen Stellenfast ausschließlich auf den Dienstleistungssektor konzentrieren wird, eine kunterbunte Sammlung von Berufen und Arbeiten, die in den meisten entwickelten Ökonomien bereits über 80 Prozent der Beschäftigung ausmachen. Interessanterweise werden rund 40 Prozent des Beschäftigungswachstums auf den sogenannten Gesundheitssektor entfallen, eine Kategorie, unter die medizinische ebenso wie Dienstleistungen der sozialen Assistenz fallen, was alles Mögliche bedeuten kann, von der Kinderbetreuung über den Katastrophenschutz bis zur beruflichen Wiedereingliederung.“ (Smith 2020: 115f.) Smith kommt zu einer weiteren beachtenswerten Schlussfolgerung: „Für jede neu geschaffene Stelle im Logistik-Sektor, den der Historiker der Arbeiterbewegung Kim Moody als aufstrebend und fabrikartig kennzeichnet, werden sechs Beschäftigte kellnern, putzen, Kinder betreuen oder Pflegebedürftige waschen.“ (ebd.: 118)

Diese von Clover ausgeklammerte Abzweigung vom Ende des „Akkumulationsbogens“ geht weder in „Zirkulationsarbeit“ noch in industrieller Güterproduktion auf. Sie enthält außerdem jene (entlohnten) Care-Arbeiten, die auch für die Reproduktion der Proletarisierten wichtig sind und teilweise in bedeutendem Maße im öffentlichen Sektor verortet werden können. Es geht hierbei um arbeitsintensive Tätigkeiten, die nur schwer technologisch zu rationalisieren sind, also um Arbeitsprozesse mit geringer Produktivität – wobei bereits fraglich ist, ob ‚Produktivität‘ hier überhaupt sinnvoll gemessen werden kann. Die Besonderheit dieser Arbeitsprozesse hat zahlreiche ökonomietheoretische Rattenschwänze: Das industrielle Modell, Lohnzuwächse an Produktivitätszuwächse zu koppeln, funktioniert hier nicht; Profite gehen notwendig auf Kosten der Löhne und der Arbeitsbedingungen; es handelt sich häufig um ein öffentlich getragenes Angebot und/oder die Nachfrage wird staatlich geregelt; krisentheoretisch stellt sich etwa die Frage, welche Rolle personenbezogene Dienstleistungen für das Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate spielen, das in der Regel auf der Grundlage von Prozessen industrieller Güterproduktion durchexerziert wird. All das soll hier nicht vertieft werden. Wichtig ist, dass sich gerade in einigen kapitalistischen Metropolen in jüngerer Zeit in diesen Arbeitsbereichen wirkungsvolle Kämpfe entwickelt haben – in Deutschland etwa in den Krankenhäusern,6 in den USA im Schulwesen7 , die selbst oft das Label des Streiks mit sich führen und gerade in Deutschland relevanter sind als Kämpfe in der Form von Riots.

Dadurch, dass Clover den ökonomischen Strukturwandel in Richtung personenbezogener Dienstleistungen ausspart und nicht sieht, dass das „neue Proletariat“ (35) vor allem Dienstleistungsproletariat ist, erscheinen ihm diese Streiks lediglich als Ausdruck des im Niedergang befindlichen Alten im vermeintlich unbedeutenden öffentlichen Sektor: „In den deindustralisierten Ländern ist der Arbeitskampf in Form des Streiks marginal geworden; sein Überleben und auch sein Wiederaufleben, z.B. durch die Lehrer:innen-Gewerkschaften in den USA, ist auf den vergleichsweise kleinen öffentlichen Sektor beschränkt.“ (Clover 2020: 123) Versteht man die Kämpfe in diesen Bereichen jedoch als Ausdruck jüngerer ökonomischer Veränderungstendenzen, dann werden sie als Ausdruck von etwas Neuem lesbar. Neu ist hier zum einen die „Feminisierung der Arbeitskonflikte“ (vgl. Artus/Pflüger 2015). Neu ist aber auch der Umstand, dass es um Arbeiten geht, die sich ihrem Inhalt nach auf die soziale Reproduktion der Proletarisierten beziehen. Den Kämpfenden und Streikenden geht es deshalb nicht nur um ihre eigenen Reproduktionsprobleme, nicht nur um höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen, sondern in den Kämpfen rückt der Gebrauchswert der Arbeit für andere in den Fokus. „Mehr von uns ist besser für alle“ – so ein zentraler Slogan der streikenden Pflegekräfte. Das hierin angelegte Potenzial zur Entwicklung von Klassensolidarität droht aus Clovers Perspektive verborgen zu bleiben, da sich die Frage nach dem Neuen gar nicht erst stellt.

Gleichzeitig wirft der Blick auf diese Entwicklungen die Frage auf, warum das Dienstleistungsproletariat nicht viel öfter kollektiv in Aktion tritt. Die Besonderheiten in diesem heterogenen Feld zu begreifen – insbesondere die Faktoren, die Arbeitskämpfe (und ihr emanzipatorisches Potenzial) stärken und schwächen können –, ist eine Aufgabe, der sich die revolutionäre Theorie noch zu stellen hat.8

 

Zirkuläre Konfusion

Wenn die Kategorie der Zirkulationsarbeit und damit auch die der Zirkulationskämpfe den Blick derart verengen, was findet Clover dann an ihnen? Einerseits erlauben sie es, Riots als Klassenkämpfe zu verstehen. Andererseits versucht Clover mit dem Begriff des Zirkulationskampfes das Gemeinsame dieser Kämpfe zu markieren. Die Zirkulation wird zu einer Dimension ihrer Einheit. Der Preis für diese Konstruktion ist allerdings eine extreme Aufweichung des Begriffs. Wie Clover wiederum im Nachwort klarstellt, umfasse die Zirkulation „die formale Zirkulation (Übertragung des Eigentums), die physische Zirkulation von Waren, die bereits im Produktionsprozess valorisiert wurden […], die zu diesem Zweck notwendige Arbeit, den Raum des Marktes, in dem diese Dinge geschehen, und den Konsum von Gütern und Dienstleistungen“ (Clover 2021: 187). Den Konsum als Zirkulation zu verstehen, ist schon eine sehr eigenwillige Abweichung von der Marxschen Terminologie. Auch an dieser Stelle zeigt sich, dass Dienstleistungen, die durch die Gleichzeitigkeit von Produktion und Konsumtion gekennzeichnet sind, nicht ins Schema passen. Es kennt nur die wertschaffende Produktion materieller Güter in der Fabrik und deren anschließende, zeitlich und räumlich getrennte sowie unproduktive Zirkulation durch den (physischen) Raum des Marktes.9 Der „Raum des Marktes“ fasst implizit wiederum alles, was nicht in der Fabrik stattfindet, die Verkehrskreuzung, die öffentliche Parkanlage, die Pipeline, den privaten Haushalt, in dem individuell konsumiert wird. Produktion und Zirkulation, Fabrik und Markt – keine Privatsphäre, kein politischer Raum, keine Kitas, keine Schulen, keine Krankenhäuser. Gleichzeitig fliegen hier die Dimensionen von gesellschaftlicher Form und stofflichem Inhalt kapitalistischer Reichtumsproduktion wild durcheinander. Clover setzt den kapitalistischen Produktionsprozess mit der Industrie gleich (vgl. etwa 130). Was in stofflicher Hinsicht Zirkulation von materiellen Gütern durch den Raum, also in Clovers Terminologie Zirkulationsarbeit ist, kann aber der Form nach ein kapitalistischer Produktions-, also Verwertungsprozess sein. Auch Dienstleistungen können in der Form des industriellen Kapitals prozessieren, also Wert schaffen, so dass, wie oben ausgeführt, die Deindustrialisierung der kapitalistischen Produktion mit ihrer teilweisen ‚Tertiarisierung‘ einhergehen kann – das entgeht Clover.

Der Zirkulationsbegriff ist allerdings nicht nur theoretisch diffus, sondern auch strategisch fragwürdig. In dieser Hinsicht ist er daraufhin zu prüfen, ob er helfen kann, die Widersprüche der Gegenwart, in die proletarische Kämpfe verstrickt sind, zu fassen und die Erfahrungen der Proletarisierten auf den Begriff zu bringen. Konkreter: Was hilft es den Proleten, ihre Kämpfe als Zirkulationskämpfe zu verstehen? Vermutlich nicht viel. Denn der Begriff geht nicht nur an den Eigendeutungen der Kämpfenden vorbei, deren Forderungen kaum in Zirkulationsbegriffe zu packen sind, sondern lenkt von den gesellschaftlichen Ursachen und Bedingungen der Kämpfe eher ab, sind es doch weiterhin die Produktionsverhältnisse, die das soziale Getriebe prägen, nicht die Zirkulationsverhältnisse. Die Kategorie des „Zirkulationskampfes“ liefert schlicht keine Punkte, an denen eine kommunistische Strategie sinnvoll ansetzen könnte. Die von Clover selbst gelegte Spur, die Reproduktionsbegrifflichkeit aufzugreifen – definiert er die Zirkulationskämpfe doch als Kämpfe, die innerhalb der Marktsphäre um die eigene Reproduktion jenseits des Lohns geführt werden (145) –, scheint hier wesentlich vielversprechender, zumindest wenn man einsieht, dass das Jenseits der Ausbeutung durch das produktive Kapital wesentlich mehr ist als ‚der Markt‘, nämlich auch Natur, Familie, Staat etc. Dann sähe man sich auch nicht dazu genötigt, die Kämpfe in ein Zwei-Seiten-Schema zu pressen. Die Kämpfe der Proletarisierten waren schon immer vielfältig, einfache Schemata sprengend (vgl. etwa zu den Massenstreiks die Kritik von Armstrong 2016). Dieser Vielfalt lässt sich mit der Reproduktionsbegrifflichkeit eher gerecht werden, ohne die Einheit des Problems zu vernachlässigen, die schlicht darin besteht, von allen Mitteln der Re-/Produktion getrennt zu sein.10 Zudem erlaubt sie es, die Probleme der proletarischen Reproduktion zu den verschiedenen Widersprüchen in Beziehung zu setzen, die durch die kapitalistische Produktionsweise erzeugt werden, zu den innerökonomischen (Gebrauchswert-Tauschwert; Produktivkräfte-Produktionsverhältnisse; Lohnarbeit-Kapital; Produktion und Realisierung von Mehrwert; technikintensive-arbeitsintensive Produktion etc.) ebenso wie zu denen, die aus der Ignoranz der Kapitalakkumulation gegenüber ihren naturgebundenen Bedingungen resultieren. Damit ist nicht nur die äußere Natur als Quelle des Reichtums neben der Arbeitskraft gemeint, sondern auch die „Leiblichkeit“ (MEW 23: 181) und damit Sorgeabhängigkeit der letzteren. Eine Krisengeschichte des Kapitals, die Grundlage einer Theorie proletarischer Kämpfe sein soll, kann heute kaum mehr geschrieben werden, ohne die Widersprüche der sozialen Reproduktion und des kapitalistischen Naturverhältnisses mit einzubeziehen – und ohne die Vermittlung und Modifikation dieser Widerspruchskonstellation durch den (Sozial-)Staat mitzudenken.11 Das führt vermutlich zu keinem eleganten Schema, aber wird der Aufgabe einer materialistischen Theorie proletarischer Kämpfe, deren gesellschaftliche Bedingungen zu durchleuchten, doch eher gerecht.

Kurzum: Die Kategorie des Zirkulationskampfes ist nicht in der Lage, die Widersprüche zu adressieren, die den proletarischen Kämpfen der Gegenwart zugrunde liegen. Die zurechtgestutze Krisengeschichte in Verbindung mit einer klassifikatorischen Reduktion des proletarischen Umgangs mit ihr und Widerstands gegen sie verschafft den gegenwärtigen Kämpfen nicht die Klarheit über sich selbst, die heute sowohl möglich als auch nötig wäre. So scheint hier eine Empfehlung erneut am Platz, die schon vor langer Zeit formuliert wurde: „Man täte besser, statt diese begrenzten Formeln zu benutzen, zu untersuchen, aus welchen Gründen die Arbeiterklasse in den verschiedenen Situationen einmal revolutionär auftrat und das andere Mal völlig passiv blieb. Aber auch die Passivität“ – nicht zuletzt jene des Dienstleistungsproletariats – „ist eine Form der Aktion“ (Mattick 1936: 9).

 

Literatur

Armstrong, Amanda (2016): „Disarticulating the Mass Picket“, in: Viewpont Magazin, https://viewpointmag.com/2016/09/06/disarticulating-the-mass-picket/ (Aufruf 17.7.2021).

Artus, Ingrit/Pflüger, Jessica (2015): „Feminisierung von Arbeitskonflikten. Überlegungen zur gendersensiblen Analyse von Streiks“, in: Arbeits- und Industriesoziologische Studien 8/2, S. 92-108

Benanav, Aaron (2020): „Service Work in the Pandemic Economy“, in: International Labor and Working-Class History, https://www.cambridge.org/core/journals/international-labor-and-working… (Aufruf 17.7.2021).

Clover, Joshua (2020): „Riot, Strike, Commune. Gendering a Civil War“, in: New Global Studies 14/2, S. 121-131.

Clover (2021): Riot. Strike. Riot. Die neue Ära der Aufstände, Galerie der abseitigen Künste: Hamburg.

Farris, Sara R. (2015): „Social Reproduction, Surplus Populations and the Role of Migrant Women“, in: Viewpoint Magazin, https://viewpointmag.com/2015/11/01/social-reproduction-and-surplus-pop… (Aufruf 17.7.2021).

Hansen, Bue Rübner (2015): „Surplus Population, Social Reproduction, and the Problem of Class Formation“, in: Viewpoint Magazin, https://viewpointmag.com/2015/10/31/surplus-population-social-reproduct… (Aufruf 17.7.2021).

Krahl, Hans-Jürgen (2008): Konstitution und Klassenkampf. Zur historischen Dialektik von bürgerlichen Emanzipation und proletarischer Revolution. Schriften, Reden und Entwürfe aus den Jahren 1966-1970, 5. veränd. Aufl., Neue Kritik: Frankfurt am Main.

Mattick, Paul (1936): „Probleme der neuen Arbeiterbewegung“, in: Rätekorrespondenz, Heft 15, aaap.be/Pdf/Rätekorrespondenz/Rätekorrespondenz-1936-15.pdf (Aufruf 17.7.2021).

Moody, Kim (2018): „Organize. Strike. Organize“, Jacobin, https://www.jacobinmag.com/2018/05/riot-strike-riot-joshua-clover-review (Aufruf 17.7.2021).

Smith, Jason E. (2020): Smart Machines and Service Work. Automation in an Age of Stagnation, Reaktion Books: London.

Winant, Gabriel (2021): The Next Shift. The Fall of Industry and the Rise of Health Care in Rust Belt America, Havard Universiry Press: Cambridge/London.

  • 1. Von der konformistischen Revolte ‚besorgter Bürger’ sei an dieser Stelle abgesehen.
  • 2. Vgl. zu dieser Kritik auch Moody (2018). Seine Kritik, Clovers Schema kreiere eine Fehldarstellung des gegenwärtigen Kapitalismus im Sinne der Strukturen der Reproduktion des Kapitals, wird hier um das Argument ergänzt, dass (damit) auch die Darstellung der Reproduktion der Arbeitskräfte, der proletarischen Reproduktionsweisen, schräg wird, die das zentrale Scharnier zwischen Krisentheorie und Theorie der Kämpfe bildet.
  • 3. Transport und Logistik: 3.522.000, Handel: 3.857.000, Finanzen und Versicherung (ohne Immobilien): 1.703.000. Zahlen nach Beschäftigungsstatistik des statistischen Bundesamts, Fachserie 1, Reihe 4.1. (2019). Gezählt wurde nach Berufshauptgruppen, wie sie in der Klassifikation der Berufe (2010) festgelegt sind: Transport und Logistik entsprechen den Gruppen 51 und 52; Handel entspricht den Gruppen 61 und 62 und Finanzen und Versicherung entsprechen Gruppe 72 (Berufe aus dem Immobiliensektor sind in Gruppe 61 enthalten).
  • 4. Den shift von der Industrie- zur Dienstleistungsarbeit im Gesundheitswesen hat Winant (2021) für die USA nachgezeichnet.
  • 5. Zudem verschärft die Zunahme der Dienstleistungsarbeit in der globalen Ökonomie die negativen Effekte der Pandemiepolitiken – die ‚shutdowns‘ betreffen vor allem das niedrig entlohnte, prekäre Dienstleistungsproletariat in den Städten (vgl. Benanav 2020: 3).
  • 6. Die Arbeitskampf- und Streikaktivitäten der Pflegekräfte in deutschen Krankenhäusern haben hierzulande immerhin zu einer partiellen Abkehr von der Finanzierung der Krankenhäuser über Fallpauschalen geführt und damit zu einer partiellen Abkehr von dem zentralen Mechanismus der Unterwerfung des Krankenhauswesens unter Profitinteressen. Pflegekräfte auf bettenführenden Stationen werden nun wieder nach dem Selbstkostendeckungsprinzip refinanziert, was zumindest diesen Kreis des Personals aus der Logik von Gewinn und Verlust herausnimmt (die nun allerdings umso stärker das restliche Personal trifft) – eine kleine politische Trendwende, die in anderen europäischen Ländern nicht zu beobachten ist.
  • 7. Zu den USA notiert Smith: „Die bei weitem militanteste Sektion der US-Arbeiter:innenklasse in der jüngsten Vergangenheit waren nicht die Arbeiter:innen in den großen Industrieunternehmen mit hoher Kapitalzusammensetzung, sondern Arbeiter:innen des öffentlichen Dienstes in der Bildungsindustrie. Die letzten Jahre waren durch großflächige, sogar landesweite Streiks von Lehrer:innen vor allem in den politisch konservativen amerikanischen Bundesstaaten gekennzeichnet, wo sie breite öffentliche Unterstützung erfahren haben, oft durch Eltern, die von den Arbeitsniederlegungen betroffen sind. (Smith 2020: 141)
  • 8. In den Care-Debatten wird häufig auf die Hürde hingewiesen, die in der gefühlten Verantwortung für die anvertrauten Sorgebedürftigen besteht. Kaum thematisiert wird jedoch die mögliche Stärke, dass der Standort von Care-Arbeitsbetrieben nicht einfach verlagert werden kann, da die Konsumtion vor Ort stattfinden muss. Inwiefern das Bündnis mit den ‚Kunden‘ und das notwendige Überschreiten der betrieblichen Ebene (notwendig etwa aufgrund der Finanzierungssysteme) zur Entfaltung von Kampfkraft beitragen könnten, wäre zu diskutieren.
  • 9. Die werttheoretische Diskussion um produktive und unproduktive Arbeit soll hier nicht aufgemacht werden, deshalb nur eine Randbemerkung: Clover erklärt selbst die Dienstleistung des Transports, die Marx explizit als wertschaffend, also produktiv ausflaggt (vgl. MEW 24: 60f./151), für unproduktiv – mit dem zweifelhaften und spekulativen Argument: „Es muss daran erinnert werden, dass wir, wenn die Arbeit dieser Sektoren [Logistik und Transport] im Allgemeinen produktiv gewesen wären, eine gleichzeitige Zunahme der Akkumulation gesehen hätten, die aber in jeder Hinsicht eindeutig ausgeblieben ist.“ (186) Dieses Ausbleiben ließe sich genauso gut damit erklären, dass das Anziehen der Akkumulationsdynamik in Transport und Logistik, selbst wenn es sich um produktive Arbeiten handelt, nicht in der Lage gewesen ist, die abnehmende Akkumulationsdynamik zu kompensieren.
  • 10. Hier könnte es sich als produktiv erweisen, an Analysen aus den Reihen der Social Reproduction Theory (SRT) anzuschließen. Auch in ihr geht es um eine an Marx anschließende Interpretation von (vergeschlechtlichten und rassifizierten) Klassenkämpfen; auch in ihr wird Bezug genommen auf Marx’ absolutes, allgemeines Gesetz der kapitalistischen Akkumulation und die Entstehung eines Surplus-Proletariats (vgl. Farris 2015; Hansen 2015); auch sie interpretiert Kämpfe jenseits der kapitalistischen Produktionsstätten als Klassenkämpfe. Sie geht die Konstitution revolutionärer Klassenkämpfe von der Frage nach der Differenz im Umgang mit Problemen proletarischer Reproduktion an. Sie ist damit in der Theoretisierung proletarischer Reproduktionsprobleme wesentlich auflösungsstärker als die Theorie des Riots und kann zu einer historisch-materialistischen Theorie der Klassenzusammensetzung mit Blick auf die Reproduktionsweisen verschiedener Teile der Arbeiter:innenklasse beitragen. Allerdings nur, wenn dabei der immer wieder anzutreffende Fehler vermieden wird, soziale Reproduktion, d.h. die Reproduktion der Arbeitskräfte, als gesonderte Sphäre jenseits der wertförmigen Produktion zu begreifen. Tätigkeiten als sozial reproduktiv zu kennzeichnen ist eine Bestimmung in der Dimension des stofflichen Inhalts der Reichtumsproduktion; wie alle konkreten Arbeiten können auch diese in unterschiedlichen Formen (wertproduktiv-entlohnt, öffentlich-entlohnt, nicht-entlohnt) verausgabt werden. Hier gilt es also eine ähnliche Form-Inhalt-Konfusion zu vermeiden wie bei Clovers Kategorien von Produktion und Zirkulation.
  • 11. Der Staat betritt die Bühne der Krisengeschichte bei Clover nur in Gestalt seiner inneren Repressionsorgane, der Polizei, die als Repräsentant des Staates dem rassifizierten Riot und dem Surplus-Proletariat gegenübersteht. Dabei ist doch kaum zu bestreiten, dass er für die erweiterte Reproduktion des Kapitals ebenso wie für die soziale Reproduktion der Arbeiter:innenklasse ein gewichtiger ökonomischer, politischer und ideologischer Faktor ist. Insbesondere in seiner Funktion als Sozialstaat ist er zentral an der Formierung und Verwaltung des Surplus-Proletariats beteiligt (vgl. auch das Interview mit Aaron Benanav), und das nicht nur in seiner strafenden Funktion. Zwei Weltkriege und ihre Bedeutung für die Entwicklung des industriellen Kapitals, der Ausbau des öffentlichen Sektors (der für die Entstehung der sogenannten Mittelschicht wichtig war) und der Sozialstaatlichkeit (im globalen Norden) während des produktiven Zyklus bleiben bei Clover ebenso außen vor wie die Transformationen von (Sozial-)Staatlichkeit als mögliche Ursache für sich verschärfende proletarische Reproduktionsprobleme in der deindustrialisierten Gegenwart und damit als Voraussetzung von Riot Prime. Dabei machen doch schon die Funken, die in den letzten Jahren Riots entfacht haben (Steuererhöhung auf Diesel und Benzin in Frankreich, Preiserhöhung im ÖPNV in Chile, Agrargesetze in Indien), deutlich, dass der Staat aus einer Theorie des Riots kaum herauszuhalten ist.