Die Herausbildung der deutschen Sozialdemokratie
Der dritte Teil unserer Reihe zur Geschichte der Arbeiter:innenbewegung befasst sich mit den Vorläufern der Sozialdemokratie in Deutschland. Während der 1860er Jahre kommt es infolge einer beschleunigten wirtschaftlichen Entwicklung auch zu einem Aufblühen der Arbeiter:innenbewegung. Aus Bildungsvereinen gehen bald die ersten politischen Zusammenschlüsse von Arbeiter:innen hervor. Prägend für diese ersten Versuche einer politisch selbstständigen Organisation der Arbeiter:innenklasse in Deutschland ist neben August Bebel und Wilhelm Liebknecht zunächst vor allem Ferdinand Lassalle. Seine Ideen gewinnen einen großen Einfluss in der deutschen Bewegung und sind gleichzeitig Gegenstand scharfer Kritik von Seiten der Marxisten. 1875 kommt es trotz der fortbestehenden politischen und theoretischen Differenzen zur folgenreichen Vereinigung der deutschen Arbeiter:innenbewegung in Gotha, die die Bedingungen für das Anwachsen der deutschen Sozialdemokratie schafft.
Die Vorläufer der Sozialdemokratie
Während der Revolution von 1848/49 hatten sich die deutschen Arbeiter:innen das erste Mal in nennenswertem Umfang auf die politische Bühne gewagt und sich organisiert. In Form von Arbeiterbildungsvereinen entwickelte sich eine Bildungsbewegung der Arbeiter:innen, die sich während der Revolution politisierte und mit der allgemeinen deutschen Arbeiterverbrüderung sogar eine nationale Vereinigung hervorbrachte.1 Um der nach der Niederlage der Revolution einsetzenden Repression zu entgehen, mussten die Vereine ihre politische Betätigung einstellen und ihre Beziehungen zueinander beenden. Viele gingen während dieser Phase des Rückzugs zugrunde. Ganz konnte die Arbeiter:innenbewegung jedoch nicht besiegt werden. Bereits 1857 – kurz vor dem Beginn der ersten industriellen Krise in Deutschland – kam es aufgrund von Reallohnverlusten zu einer Welle von Streiks, die sich über viele Produktionszweige hinweg ausbreitete. 1857/1858 erfasste die durch Bankenpleiten in den USA ausgelöste erste globale Wirtschaftskrise das Deutsche Reich und verdeutlichte dessen fortgeschrittene Integration in die Konjunktur des kapitalistischen Weltmarktes.2
Anfang der 1860er Jahre kam es zu einem neuen Aufblühen des Vereinswesens. Den Hintergrund dafür bildete die Expansion der Industrie, wodurch auch die industrielle Arbeiterklasse zunächst moderat anwuchs. Linksbürgerliche Reformer wie Hermann Schulze-Delitzsch unterstützen die Bemühungen der Arbeiter:innen, wollten deren Aktivität jedoch auf soziale Belange wie die Bildung von Konsumgenossenschaften oder Kreditvereine beschränkt sehen und eine politische Betätigung der Arbeiter:innenklasse verhindern. Dies stieß aber auf eine wachsende Gegnerschaft von sich politisierenden Arbeiter:innen. Diese distanzierten sich zunehmend von bürgerlich-sozialreformerischen Kräften, als sich mit der Industrialisierung auch der Klassenkampf entfaltete. Aus diesem Streben nach politischer Unabhängigkeit vom philanthropischen Bürgertum ging 1863 der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein (ADAV) hervor.3
Der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein (ADAV)
Am 23.5.1863 fand der Gründungskongress des ADAV statt, zu dem eine Gruppe Leipziger Arbeiter eingeladen hatte. Diese wandten sich ratsuchend an Ferdinand Lassalle, der ein Jahr zuvor mit einem Vortrag vor Berliner Arbeitern auf sich aufmerksam gemacht hatte. In diesem Vortrag mit dem Titel Über den besonderen Zusammenhang der gegenwärtigen Geschichtsperiode mit der Idee des Arbeiterstandes4 entwickelte Lassalle, dem Kommunistischen Manifest nicht unähnlich, die Vorstellung einer revolutionären Mission der Arbeiterklasse. Kurz zuvor hatte er sich mit seinen liberalen Klassengenossen von der bürgerlichen Fortschrittspartei verworfen und suchte nun nach neuen Betätigungsmöglichkeiten in Opposition zum Liberalismus. Die Arbeiter, auf deren Initiative der ADAV gegründet wurde, strebten dagegen den Zusammenschluss ihrer versprengten Kräfte und eine stärkere inhaltliche Einheitlichkeit an. Sie richteten ihr Anliegen an Lassalle, da dieser ein Feind der Liberalen war und die nötige Autorität zu haben schien, um eine solche Vereinigung herbeizuführen.
In seinem offenen Antwortschreiben5 entwarf Lassalle sein Programm für eine unabhängige Arbeiterpartei in Deutschland, das vom ADAV komplett übernommen wurden. Lassalle wurde zum Präsidenten gewählt und mit weitreichenden Machtbefugnissen ausgestattet – ein Umstand für den ihm Marx den Titel eines „Arbeiterdiktators“6 verlieh. Dies machte den ADAV zu einer lassalleanischen Sekte, die er auch nach dem raschen Ableben Lassalles in Folge eines Duells ein Jahr später blieb. Lassalles Denken übte fortan einen bedeutenden Einfluss auf die frühe Arbeiter:innenbewegung aus. Es ist zurecht als eine Form des Staatssozialismus bezeichnet worden und scheint zumindest untergründig in der heutigen Linken als Staatsillusionen fortzuwirken.
Seinen Einfluss verdankte er auch seinen starken rhetorischen Fähigkeiten und einer agitatorischen Einfachheit. Sie lässt sich dahingehend zusammenfassen: „Kampf für das allgemeine Wahlrecht, um damit Staatshilfe für Produktivgenossenschaften zu erreichen.“ Sein Fokus auf das allgemeine und direkte Wahlrecht und auf nichts anderes – „Blicken Sie nicht nach rechts noch links, seien sie taub für alles, was nicht allgemeines und direktes Wahlrecht heißt“ empfahl er den Leipziger Arbeitern – handelte ihm von niemand geringerem als Eduard Bernstein den Vorwurf ein, das Endziel der Bewegung zugunsten unmittelbarer Erfolge aus den Augen zu verlieren.7
In Lassalles Denken verbindet sich eine abstrakte ökonomische Theorie (das sog. „eherne Lohngesetz“) mit einer idealistischen Staatsaufffassung. Das „eherne Lohngesetz“ übernimmt Lassalle von der politischen Ökonomie Ricardos. Es besagt, dass die Arbeiter nur einen Teil ihres Arbeitsprodukts in Form des Lohns erhalten und dass dieser Betrag um das – historisch relativ variable – Minimum schwankt, welches notwendig ist, damit sich ein Arbeiter reproduzieren kann. Diese Auffassung ist abstrakt, da dies keine Spezifik der kapitalistischen Produktionsweise ist, sondern der Arbeiter in keiner Produktionsweise je den vollen Ertrag seiner Arbeit erhält. Die historisch neuen Bewegungsgesetze des Kapitalismus, welche die Lebensbedingungen der modernen Arbeiter:innenklasse bestimmen, werden von Lassalle dagegen gar nicht erfasst. Das hat Konsequenzen für die von ihm angestrebten Politik. Da sich nach seiner Auffassung die ökonomische Situation der Arbeiter:innenklasse innerhalb der bestehenden Produktionsverhältnisse gar nicht verbessern lasse, erscheint der gewerkschaftliche Kampf und der Aufbau von Hilfskassen sinnlos. Die Arbeiterklasse in ihrer „hilflose[n] Lage“8 müsse sich an den Staat wenden. Denn Abhilfe könnten nur staatlich geförderte Produktivgenossenschaften bringen, durch die „der Arbeiterstand sein eigener Unternehmer“9 würde. Dadurch falle die „Scheidung zwischen Arbeitslohn und Unternehmergewinn“ und die Arbeiter würden endlich den vollen Ertrag ihrer Arbeit erhalten. Bernstein zufolge kam in dieser Idee das Unverständnis Lassalles über die Zwänge der kapitalistischen Produktion zum Vorschein, die sich auch gegenüber den Genossenschaften Geltung verschaffen und den Arbeitern vermittels der Konkurrenz die Aufteilung ihres Produkts in Lohn und Profit unter Drohung des Untergangs aufzwingen würden.10
Aber wie kam Lassalle auf die Idee, der Staat, noch dazu der absolutistische Polizeistaat Preußen, könnte die Sache der Arbeiter:innenemanzipation in seine Hände nehmen? Dieser Gedanke resultiert aus dem „veritablen Kult“ (Bernstein), den Lassalle um den Staat macht. So erklärt er in einer regelrechten Vergottung des Staates:
„Der Zweck des Staates ist somit der, das menschliche Wesen zur positiven Entfaltung und fortschreitenden Entwicklung zu bringen, mit anderen Worten, die menschliche Bestimmung, d. h. die Kultur, deren das Menschengeschlecht fähig ist, zum wirklichen Dasein zu gestalten; er ist die Erziehung und Entwicklung des Menschengeschlechts zur Freiheit.
Dies ist die eigentliche sittliche Natur des Staates, meine Herren, seine wahre und höhere Aufgabe. Sie ist es so sehr, daß sie deshalb seit allen Zeiten durch den Zwang der Dinge selbst von dem Staat, auch ohne seinen Willen, auch unbewußt, auch gegen den Willen seiner Leiter, mehr oder weniger ausgeführt wurde.“11
Da die Arbeiterklasse für Lassalle die Rolle des Fortschrittes einnimmt, kommen Staat und Arbeiterklasse für ihn zu einer ideellen Deckung. Dazu kommt, dass es die „notleidenden Klassen“ seien, die nach Lassalles Rechnung die übergroße Mehrzahl der Staatsbürger ausmachen und deshalb auch praktisch mit dem Staat identisch seien.12 Hier offenbart sich ein Mangel an klassenanalytischem Verständnis, der weitreichende politische Implikationen hat. Lassalle bestimmt die „notleidenden Klassen“ in Deutschland rein nach ihrem Einkommen. Was er dabei vollkommen unterschlägt, ist die innere Klassengliederung der Gesellschaft und deren Konsequenzen für eine politische Strategie.
In Deutschland lebt zu dieser Zeit nur circa ein Drittel der arbeitenden Bevölkerung von der Industrie, während zwei Drittel noch in der Landwirtschaft beschäftigt sind und dort unter quasi feudalen Verhältnissen von den Grundherren und nicht von den Kapitalisten ausgebeutet werden. Nun richtet sich Lassalles Politik aber einseitig gegen die (liberale) Bourgeoisie, mit dem Staat der Feudalherren dagegen sucht er den Kompromiss. Dazu kommt, dass die patriarchale Wirtschaft auf dem Land, die dortigen Arbeiter:innen in eine Position der Abhängigkeit bringt, die sie für die Arbeiter:innenbewegung schwer erreichbar macht. „Das Ackerbauproletariat ist derjenige Teil der Arbeiterklasse, dem seine eignen Interessen, seine eigne gesellschaftliche Stellung am schwersten und am letzten klarwerden, mit andern Worten, derjenige Teil, der am längsten ein bewußtloses Werkzeug in der Hand der ihn ausbeutenden, bevorzugten Klasse bleibt.“13
Und so ergibt sich, dass Engels, der die Gewinnung des allgemeinen Wahlrechts in England als gleichbedeutend mit der Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat angesehen hatte, in der einseitigen Fokussierung auf den Wahlrechtskampf in Deutschland eine gefährliche Sackgasse erkannte: „Was würde das Resultat des allgemeinen Stimmrechts in Deutschland sein, wo der Feudaladel noch eine wirkliche soziale und politische Macht ist und wo zwei Ackerbautagelöhner auf einen industriellen Arbeiter kommen? Die Bekämpfung der feudalen und bürokratischen Reaktion - denn beide sind bei uns jetzt untrennbar - ist in Deutschland gleichbedeutend mit dem Kampf für geistige und politische Emanzipation des Landproletariats - und solange das Landproletariat nicht in die Bewegung mit hineingerissen wird, solange kann und wird das städtische Proletariat in Deutschland nicht das geringste ausrichten, solange ist das allgemeine, direkte Wahlrecht für das Proletariat keine Waffe, sondern ein Fallstrick.“14
Wofür die Arbeiterklasse zunächst zu kämpfen habe, sei die politische Freiheit in einer demokratischen Republik. Sie müsse also nicht das Bündnis mit dem Absolutismus, sondern mit dem liberalen Bürgertum suchen, wo dieses gegen den Obrigkeitsstaat kämpfe. Erst die Eroberung der politischen Freiheiten würde es der Arbeiterklasse erlauben, sich zur Klasse zu bilden: „Ohne diese Freiheiten kann sie selbst sich nicht frei bewegen; sie kämpft in diesem Kampf für ihr eigenes Lebenselement für die Luft, die sie zum Atmen nötig hat.“15 In diesem Kampf müsse die Arbeiterpartei jedoch nicht als „der bloße Schwanz der Bourgeoisie, sondern als eine durchaus von ihr unterschiedene, selbständige Partei auftreten. (…) Sie wird ihre eigene Organisation gegenüber der Parteiorganisation der Bourgeoisie festhalten und fortbilden und mit der letzteren nur unterhandeln wie eine Macht mit der andern. Auf diese Weise wird sie sich eine achtunggebietende Stellung sichern, die einzelnen Arbeiter über ihre Klasseninteressen aufklären und bei dem nächsten revolutionären Sturm (…) zum Handeln bereit sein.“ Und hierin, der Herausbildung einer eigenständigen Arbeiterpartei den Anstoß gegeben zu haben, besteht Lassalles historischer Verdienst. Ein Verdienst, über den sich nicht nur die führenden Köpfe der sozialdemokratischen Bewegung wie Karl Kautsky16, Rosa Luxemburg17 und Lenin18 einig waren, sondern den auch seine schärfsten Kritiker anerkannten. So erklärte Marx Lassalles Nachfolger Johann Baptist von Schweitzer gegenüber: „Nach fünfzehnjährigem Schlummer rief Lassalle - und dies bleibt sein unsterbliches Verdienst - die Arbeiterbewegung wieder wach in Deutschland.“ Und Engels schrieb nach dem plötzlichen Tod Lassalles an Marx: „politisch war er sicher einer der bedeutendsten Kerle in Deutschland. (…) Welcher Jubel wird unter den Fabrikanten und unter den Fortschrittsschweinhunden herrschen, Lassalle war doch der einzige Kerl in Deutschland selbst, vor dem sie Angst hatten.“19
Der ADAV war jedoch seiner Zeit voraus und fand nur geringen Widerhall innerhalb der erwachenden Arbeiter:innenbewegung, die noch nicht zu einer eigenständigen politischen Organisation hinstrebte. In den ersten vier Jahren seiner Existenz konnte er die Anzahl seiner Mitglieder lediglich auf 8.000 steigern und blieb auch bis zur Vereinigung zur Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschland (SAPD) 1875 eine unbedeutende politische Kraft.20 Er war das Produkt eines wachsenden Klassenbewusstseins des Proletariats, jedoch bildeten die politisch bewussten Teile der Klasse noch eine kleine Minderheit. Zudem machte sich bald Unmut über den Nachfolgediktator Schweitzer breit, der noch autokratischer und pro-preussischer agierte als sein Vorgänger. Schweitzers Führungsstil entfremdete viele Arbeiter:innen, die wie Wilhelm Bracke, Theodore York oder August Geib die Verbindung zu Bebel und Liebknecht und deren Verband Deutscher Arbeitervereine suchten und diese drängten, eine Vereinigung der Kräfte herbeizuführen. Ein Durchbruch für eine autonome Klassenpolitik des Proletariats in Deutschland sollte erst mit der Gründung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei 1869 erfolgen.
Der Verband deutscher Arbeitervereine (VDAV)
Repräsentativer für den Bewusstseinsstand der fortgeschrittenen Arbeiter:innen zu dieser Zeit waren die Arbeiterbildungsvereine, die zunächst nicht direkt politisch in Erscheinung traten. Im Mai 1863 gründeten 110 Delegierte aus 45 Städten in Frankfurt den Verband deutscher Arbeitervereine (VDAV). Der Verband unterschied sich in wesentlichen Aspekten vom ADAV. Zunächst behielt er während der ersten Jahre seiner Existenz enge Bindungen mit den bürgerlichen Radikalen und war überhaupt weniger politisch orientiert. Zudem war der Verband loser und demokratischer organisiert als der ADAV. Dessen diktatorische Verfasstheit war der Hauptgrund für die Distanz der im VDAV organisierten Arbeiter vom lassalleanischen Zusammenschluss. Dass der VDAV repräsentativer für den Bewusstseinsstand der deutschen Arbeiterschaft war, zeigt ein Blick auf seine Mitgliedszahlen: 1865 war der VDAV mit 23.000 Mitgliedern dreimal so groß wie der ADAV.21
Im Verlauf der späten 1860er Jahre begann sich der VDAV zu politisieren. 1865 verabschiedete der landesweite Kongress, der einmal im Jahr zusammentrat, eine Resolution für das allgemeine und gleiche Wahlrecht für Männer. 1867 wurden große Schritte auf dem Weg zur Parteibildung unternommen, indem der Kongress von nun an jedes Jahr einen Präsidenten mit der Leitung der Organisationsangelegenheiten betrauen sollte. Mit August Bebel wurde zudem als erster Präsident ein Garant für die weitere Politisierung des Verbands in das Amt gewählt. Bebel hatte bereits zuvor erfolgreich für die Bezahlung der Mitglieder des Zentralkommittees gekämpft, so dass diese ihre Energie vollständig der Vereinsarbeit zur Verfügung stellen konnten. Im Zuge des fünften Kongresses entwarfen er und Wilhelm Liebknecht schließlich ein Programm, welches die Selbstbefreiung der Arbeiterklasse, die Untrennbarkeit der sozialen und politischen Freiheiten und die Gegnerschaft zum kapitalistischen Privateigentum an den Produktionsmitteln zum Inhalt hatte. Mit der Annahme dieses Programms band sich der VDAV an die Erste Internationale. Eine weitere Resolution wies die Staatshilfe zurück und rief dagegen zur Bildung von Arbeiterunterstützungskassen durch die Gewerkschaften auf. Die Ablehnung der Staatsunterstützung und die angestrebte Bindung an die Gewerkschaftsbewegung war dann auch ein wesentlicher Unterschied zum ADAV.
Mit der Annahme dieser programmatischen politischen Resolutionen wurde der Verband seinem Wesen nach eine politische Partei. Infolge dieser Politisierung verlor er jedoch gut die Hälfte seiner Mitglieder, die sich teilweise in einem unpolitischen Deutschen Arbeiterbund zusammenschlossen. Dies betraf sicherlich einige der bürgerlichen Philanthropen, aber auch Arbeiter:innen und ganze Vereine zogen sich zurück. Die Schranken, an die die politisch-bewussten Arbeiter:innen zu dieser Zeit stießen, sind auch ein Ausdruck der schwierigen Bedingungen unter denen sich die Arbeiterklasse in dieser Phase organisieren musste.
Die Gründung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP)
Der politisierte Verband hatte eine kurze Lebensdauer und löste sich nach nur einem Jahr in die sich 1869 in Eisenach gründende Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SDAP) auf. Der Hintergrund für die Gründung der SDAP war einerseits die zunehmende Politisierung Bebels und Liebknechts, die sich von ihrer Allianz mit den Liberalen in der Sächsischen Volkspartei entfremdeten und auf die Linie der politischen Selbständigkeit der Arbeiter:innenklasse einschwenkten. In einer programmatischen Rede erklärte Liebknecht diesen Schritt: „Weil die soziale und politische Frage untrennbar sind, erheischt das Interesse der Arbeiter, daß sie sich von ihren sozialen Gegnern auch politisch trennen.“
1869 kam es zum Bruch von mehreren Dutzend ADAV-Mitgliedern mit ihrer Organisation und der Einberufung des Gründungskongresses der SDAP im August. 263 Delegierte kamen zusammen, die reklamierten für 155,486 organisierte Arbeiter zu sprechen, was zu dieser Zeit vermutlich viel zu hoch gegriffen war.22 Die neue Partei entschied mit dem Personenkult der Lassalleaner grundlegend zu brechen und wählte keinen Präsidenten, sondern betraute eine Lokalorganisation mit der Führung der Geschäfte zwischen den Kongressen. Eine weitere Maßnahme verbot die Annahme von editorischen Tätigkeiten in den Parteiorganen parallel zur Mitgliedschaft im Exekutivkomittee der Partei. Das auf dem Eisenacher Parteitag verabschiedete Programm schließlich wurde von Bracke nach Vorbild des von Marx für die 1. Internationale erstellten Programms entworfen. Ihm fügten die Lassalleaner noch eine Forderung nach Staatsunterstützung für Genossenschaften hinzu.
Die organisatorische Struktur dieser neuen Partei war ein Mittelweg zwischen der losen Organisation des VDAV und des despotischen Zentralismus des ADAV.23
Bebel bewirkte, dass den starken Lokalorganisationen eine zentrale Organisation zur Seite gestellt wurde, die verhindern sollte, dass sich die neue Partei in nur lokal orientierte Interessensverbände fragmentierte. Zudem wurde ein regelmäßiger Mitgliedsbeitrag eingeführt, um die Parteigeschäfte finanzieren zu können. Die Parteiaktivitäten umfassten die parlamentarische Arbeit, die als eine Bühne für die eigene Agitation dienen sollte, die Unterstützung der Gewerkschaften, die Organisation der Parteikongresse und die Entwicklung des Pressewesens. Letzteres nahm eine besondere Stellung in der Strategie der Partei ein, was sich darin reflektierte, dass die Mitgliedsbeiträge über das Abonnement der Parteizeitung eingetrieben wurden. Das Ziel war es, die Parteimitglieder vermittels der Parteipresse über die wichtigsten gesellschaftlichen Belange zu informieren.
Als 1871 der Deutsch-Französische Krieg ausbrach, spaltete sich die Arbeiterbewegung in ein pro-deutsches Lager um den ADAV und Teile der SDAP, während sich unter Führung der sächsischen Lokalgruppen ein anti-deutsches Lager herausbildete, dessen prominente Vertreter Liebknecht und Bebel waren. Bei der Abstimmung im Norddeutschen Bund stimmten die beiden gegen die Bewilligung von Kriegskrediten, während die Lassalleanischen Vertreter dafür votierten. Als sich mit der Gefangennahme Napoleons und der Ausrufung der dritten Republik der deutsch-französische Krieg jedoch in einen Verteidigungskrieg der neuen Republik gegen Preußen wandelte, stellte sich die Arbeiter:innenbewegung geschlossen gegen die Regierung Bismarck. Infolge dieser Antikriegshaltung wurde die sozialdemokratische Arbeiter:innenbewegung mit Verhaftungen und der Unterdrückung ihrer Zeitungen überzogen. Bebel und Liebknecht wurden in einem berüchtigten Hochverratsprozess zu jeweils zwei Jahren Gefängnis verurteilt und die Haltung der Sozialdemokratie als „vaterlandslos“ gebrandmarkt. Bismarck, der in der Sozialdemokratie nichts geringeres als einen Kriegsgegner erkannte, entwickelte den Plan, die Repression mit sozialpolitischen Maßnahmen zu verbinden: „1. Denjenigen Wünschen der arbeitenden Klassen (…), welche (…) eine Berechtigung haben, durch Gesetzgebung und Verwaltung entgegenkommen, soweit es mit den allgemeinen Staatsinteressen verträglich ist, 2. Staatsgefährliche Agitationen durch Verbots- und Strafgesetze hemmen, soweit es geschehen kann, ohne ein gesundes öffentliches Leben zu verkümmern.“24
Langfristig bedeutsamer für die Entwicklung der Sozialdemokratie als die Auseinandersetzung um die Kriegsfrage war jedoch die Reichseinigung infolge des Krieges, die die Führer der SDAP allesamt im Gefängnis erlebten. Die Vereinfachung der Tarifgesetze, die Standardisierung der Währungen und des innerdeutschen Verkehrs erwirkten eine rasante Ausdehnung des Marktes und führten zu einem allgemeinen wirtschaftlichen Boom – den „Gründerjahren“. Mit der Wirtschaft wuchs auch die städtische Bevölkerung, besonders die industrielle Arbeiter:innenklasse stark an und es kam zwischen 1871 und 1873 zu einer Welle von Streiks, die erst 1890 übertroffen werden sollte.25
Infolge dieses Wachstums kam es auch zu einem Aufschwung der ökonomischen Kämpfe der Arbeiter:innen und ihrer gewerkschaftlichen Organisationen, die sich auch immer stärker in den traditionellen Handwerksberufen ausbreiten konnten. Dies wiederum setzte der gewerkschaftsfeindlichen ADAV stark zu, die viele Mitglieder verlor. Auch für die liberalen Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine, die einen klassenversöhnlerischen Kurs verfolgten, leitete die Entfaltung des Klassenkampfes den Niedergang ein.26 Dagegen baute die SDAP ihre Parteiorganisation weiter aus und schuf den strukturellen Rahmen für die spätere Vereinigung mit dem ADAV. Sie beschloss beispielsweise bei ihrem Stuttgarter Kongress von 1870 ihren Abgeordneten Reisekosten zu zahlen, um so die Parlamentsarbeit von Arbeitern zu unterstützen, die sonst aufgrund ihrer ökonomischen Situation nicht dazu in der Lage gewesen wären (es gab zu dieser Zeit keine Abgeordnetengehälter).
1871 etablierte die SDAP das System der sogenannten Vertrauensmänner, welches später von der vereinigten Sozialdemokratie fortgeführt wurde und sich insbesondere während der Zeit der Sozialistengesetze bewährte, wo die Vertrauensmänner den Kontakt zwischen den verschiedenen Parteiorganisationen aufrechterhielten und die verbotene Parteizeitung in das Reich schmuggelten und verteilten. Diese Vertrauensmänner sollten als Bindeglied zwischen den lokalen, regionalen und zentralen Parteiorganen dienen. Ihre Aufgabe bestand darin Nachrichten und Ansinnen in beide Richtungen zu vermitteln. Lokale Beschwerden und Anliegen sollten an die höheren Instanzen weitergeleitet werden, Informationen der Parteiführung und die Parteipublikationen wiederum sollten unter den Mitgliedern verbreitet werden. Außerdem waren die Vertrauensmänner für das Eintreiben der Mitgliedsbeiträge verantwortlich. 1873 gab es 170 Ortsgruppen mit Vertrauensmännern, 1874 bereits 226.
Die Bedeutung der lokalen Organisationen spiegelte sich auch in der Bedeutung wieder, die der Entwicklung der lokalen Presseorgane zugemessen wurde. Neben dem Volksstaat als dem Zentralorgan der Partei, das nach einer Erklärung Brackes dazu dienen sollte, den Arbeiter:innen nicht nur ein Verständnis ihrer Situation, sondern auch ihrer politischen Mission zu vermitteln, entstanden an vielen Orten eine eigenständige Presse. Bereits zu Beginn der 1870er gab es SDAP-Zeitungen in Chemnitz, Braunschweig, Hamburg-Altona, Dresden, Nürnberg, Gotha, Hof, München, Augsburg, Crimmitschau, Führt und Thüringen. Auf den Kongressen nahm die Diskussion über die Parteipresse einen großen Teil der Zeit und Energie ein. Die Debatten entzündeten sich über Fragen der Autonomie der lokalen Blätter und über die Kontrolle, die die Parteiführung über die Presse ausüben sollte.
In beiden Parteien regten sich unter dem Eindruck der nach dem Krieg zunehmenden Verfolgung und Unterdrückung der Arbeiter:innenbewegung der Wille zur Vereinigung in einer Organisation. Die Repression spielte der Vereinigungstendenz in die Hände, da sie einerseits das ambivalente Verhältnis der pro-preußischen ADAV zum preußischen Staat veränderte und andererseits deren lokale Organisationen zerstörte. Baute die Repression die Vorbehalte der SDAP gegen den ADAV ab, wurde die Vereinigung für die Lassalleaner immer mehr zu einer Frage des Überlebens. Dies bereitete den Grund für den Vereinigungskongress, der schließlich im Mai 1875 in Gotha stattfand.
Die Vereinigung der deutschen Arbeiterbewegung in Gotha
130 Delegierte, die rund 25.000 Mitglieder repräsentierten, kamen zwischen dem 22. und 25. Mai 1875 in Gotha zusammen, um die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschland (SADP) zu gründen. 60% der Delegierten waren Vertreter der ADAV und 40% kamen von der SDAP.27 Dieses Kräfteverhältnis schlug sich im Programm der vereinigten Partei nieder, welches alle zentralen Planken der lassalleanischen Ideologie enthielt: das „eherne Lohngesetz“, die Idee der „einheitlichen reaktionären Masse“ (der anderen Klassen gegenüber dem kämpfenden Proletariat) und die staatsfinanzierten Kooperativen. Nicht erwähnt wurde dagegen die Gewerkschaftsbewegung und auch der Internationalismus wurde auf ein dürres Bekenntnis zur „internationalen Völkerverbrüderung“ heruntergebracht. Entsprechend empört zeigten sich Marx und Engels, die sich mit ihrem Unmut gegenüber Bebel, Liebknecht und Bracke nicht zurückhielten. Marx versuchte mittels seiner Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei28 auf die führenden Köpfe der SDAP einzuwirken. Für beide waren die Zugeständnisse an ein konfuses, staatssozialistisches Programm zu groß. Marx hielt es für ein „durchaus verwerfliches und die Partei demoralisierendes Programm“.29 Engels war nicht weniger empört: „Das Ganze ist im höchsten Grad unordentlich, konfus, unzusammenhängend, unlogisch und blamabel.“30 Aus ihrer Sicht hätte die Vereinigung unter diesen Bedingungen nicht vollzogen werden sollen. Engels befürchtete gar, „daß eine Einigung auf dieser Basis kein Jahr dauern wird.“31
Bebel und Liebknecht teilten zwar den Inhalt der Kritik, sie kamen jedoch zu anderen Schlussfolgerungen. Für Bebel waren die Beschlüsse des Kongresses, „das Äußerste, was zu erreichen war.“32 Hatten sie große ideologische Zugeständnisse an die Lassalleaner machen müssen, konnten sie nach seiner Ansicht „in der Personenfrage (…) mit dem Resultat zufrieden sein“.33 So gelang es den Eisenachern ihre organisatorischen Ziele weitgehend durchzusetzen: Die neue Partei war ihrer Struktur nach praktisch identisch mit der alten SDAP. Das diktatorische Präsidentialsystem des ADAV wurde durch das kollektive Gremium des Vorstandes ersetzt, der eine effektive Kontrolle über starke Lokalorganisationen ausüben konnte. Außerdem gelang es, ein Bekenntnis zu einer unabhängigen Lokalpresse durchzusetzen. Schließlich wurde der Parteikongress zum höchsten Entscheidungsgremium bestimmt und zudem mit der Macht versehen, den Vorstand zu kontrollieren. Bebel war sich sicher, unter diesen Bedingungen, die eine lebendige innerparteiliche Demokratie und einen politischen Richtungsstreit ermöglichten, die Lassalleaner für das Programm der Erfurter gewinnen zu können. Deshalb wogen für ihn die programmatischen Zugeständnisse weniger schwer: „Das Ganze ist eine Erziehungsfrage“34 ließ er Engels wissen. Und kam zu der weitaus optimistischeren Ansicht: „Im allgemeinen können wir mit dem Gang der Partei sehr zufrieden sein, jetzt sieht man erst, wie die frühere Bekämpfung die Kräfte zersplitterte, die Partei ist jetzt so gestellt, wie nie zuvor“.35 Die folgenden Jahre sollten erweisen, dass Bebel mit dieser Einschätzung richtig lag. Auch die Repression durch die preußische Regierung konnte das Wachstum der SADP nicht aufhalten. Die vereinigte Partei entwickelte sich zu einer Massenpartei und erzielte bei den Reichtagswahlen 1890 mit 1,5 Millionen Stimmen den größten Anteil aller Parteien. Auf dem Erfurter Parteitag von 1891 setzen sich die Marxisten in der Partei schließlich durch und gaben der Partei mit dem Erfurter Programm eine dezidiert marxistische Zielsetzung.
- 1. Siehe unseren ersten Teil der Reihe.
- 2. Detlef Lehnert: Sozialdemokratie zwischen Protestbewegung und Regierungspartei. 1848-1983, 41ff.
- 3. Vgl. Gary P. Steenson: Not one Man! Not one Penny! German Social Democracy 1863-1914, 6ff.
- 4. Lassalle, Das Arbeiter-Programm (1862)
- 5. Lassalla, Offenes Antwortschreiben (1863)
- 6. MEW 31: 451
- 7. Bernstein, Ferdinand Lassalle. The Open Reply Letter; its economic portion – The Iron Law Of Wages, and productive co-operative societies with state-help. Bernstein, der später Theoretiker des Revisionismus werden sollte und das Bonmot prägte: das Endziel des Sozialismus ist mir nichts, die Bewegung alles, änderte später nicht nur seine politischen Ansichten, sondern revidierte auch sein eigenes Vorwort im Zuge der Neuauflage von 1919/20 entsprechend.
- 8. Lassalle, Das Arbeiter-Programmm (1862)
- 9. Lassalle, Offenes Antwortschreiben (1863)
- 10. Bernstein, Ferdinand Lassalle. The Open Reply Letter; its economic portion – The Iron Law Of Wages, and productive co-operative societies with state-help.
- 11. Lassalle, Das Arbeiter-Programmm (1862)
- 12. Lassalle, Das Arbeiter-Programmm (1862)
- 13. MEW 16: 74
- 14. MEW 16: 74
- 15. MEW 16: 77
- 16. Kautsky, Ferdinand Lassalle: A 25-year memorial (1889)
- 17. Luxemburg, Lassalles Erbschaft (1913)
- 18. LW 4: 168
- 19. MEW 30: 429
- 20. Vgl. Steenson: 12
- 21. Vgl. Steenson: 13
- 22. Vgl. Steenson: 20ff.
- 23. Lehnert: 58
- 24. Bismarck zit. nach Dieter Groh/Peter Brand: „Vaterlandslose Gesellen“ Sozialdemokratie und Nation 1860-1990, 23
- 25. Vgl. Steenson: 27; Lehnert: 63
- 26. Lehnert: 64
- 27. Vgl. Steenson: 31
- 28. MEW 19: 15-32
- 29. MEW 34: 137
- 30. MEW 34: 159
- 31. MEW 34: 130
- 32. Bebel an Engels, 21. September 1875
- 33. Ebd.
- 34. Ebd.
- 35. Ebd.