Den Möglichkeitssinn schärfen

11. September 2021

An den landeseigenen Krankenhäusern in Berlin wird gestreikt. Neben den an die Arbeitgeber:innen gerichteten Forderungen nach mehr Personal, nach Entlastung und nach einer Eingliederung der Beschäftigten der Vivantes Töchter in den TVöD pocht die Bewegung auch auf weitergehende Veränderungen: Selbstkostendeckung statt Fallpauschalen-Finanzierung, Rekommunalisierung und ein bedarfsgerechtes Gesundheitssystem. Die beeindruckende Fähigkeit der Krankenhausbeschäftigten zur Selbstorganisation und Koordination, auf der die aktuellen Kämpfe basieren (vgl. unser Interview mit einer Intensivpflegerin bei Vivantes), zeigt jedoch, dass es in den Kämpfen ein Potenzial dazu gibt, einen Horizont zu entwickeln, der über immanente Flickschusterei an einem Gesundheitssystem in einer kapitalkranken Gesellschaft hinausgeht.

Selbstkostendeckung gestern und heute

Als finanzielle Grundlage einer bedarfsgerechten Versorgung wird in den Kämpfen im Krankenhauswesen immer wieder eine Neuauflage des sogenannten Selbstkostendeckungsprinzips ins Feld geführt. Ein solches hatte es im westdeutschen Krankenhauswesen bereits ab 1972 mit der Einführung des Krankenhausfinanzierungsgesetztes (KHG) gegeben. Die Krankenhäuser hatten einen Anspruch darauf, dass nachgewiesene Betriebskosten von den Krankenkassen erstattet und Investitionskosten durch die öffentlichen Haushalte (Bund und Länder) gedeckt werden. So konnten die Krankenhäuser der Idee nach weder Verluste noch Gewinne einfahren. Die Durchsetzung dieses Prinzips innerhalb einer kapitalistischen Gesellschaftsformation war allerdings einer sehr speziellen ökonomischen und politischen Konstellation geschuldet, in der es darum ging, überhaupt für eine bundeseinheitliche wirtschaftliche Sicherung der Krankenhäuser zu sorgen.1 Der langwierige politische Prozess, der zur Einführung des Selbstkostendeckungsprinzips im KHG führte,2 war noch unbeeindruckt von den ökonomischen Krisen der Jahre 1973/75. Es handelte sich mehr oder weniger um einen der letzten Akte einer Sozialpolitik, die mit dem Wind der Nachkriegsprosperität im Rücken – konkret: den wirtschaftlichen Aufschwung nach der kleinen Krise 1966/67 – auf den Aufbau von Versorgungsstrukturen setzte. Auf der Basis eines veränderten Grundgesetzes konnte die sozialliberale Koalition das KHG, getragen von einer öffentlichen Meinung, die im Krankenhauswesen dringenden Reformbedarf sah, in Angriff nehmen.

Mitte der 1970er Jahre war der Spaß schon wieder vorbei. Die Staatsverschuldung hatte sich von 1970 bis 1975 mehr als verdoppelt. Die Konsolidierung der Staatshaushalte erhielt Priorität. Die Gefahr einer „Kostenexplosion“ im Gesundheitswesen wurde beschworen, die den folgenden und nachhaltigen Umschwung zu einer Kostendämpfungspolitik im Gesundheitswesen legitimierte. Mit der wirksamen Deckelung der Krankenhausbudgets durch das Gesundheitsstrukturgesetz von 1992 ging das Selbstkostendeckungsprinzip endgültig in die Binsen. Auch die Einführung des Fallpauschalensystems ab 2003 wurde damit begründet, dass durch den so erzeugten Wettbewerb Kosten gespart werden könnten.

Die gegenwärtige Konstellation, in der für eine bedarfsorientierte Versorgung und eine entsprechende Finanzierung gestritten werden muss, ist eine völlig andere als zu Beginn der 1970er Jahre. Die gesamtökonomische Lage ist äußerst fragil – und das war sie bereits vor der Pandemie, die die Lage der Staatsfinanzen nur weiter verschärft hat. Selbst in bürgerlichen Kreisen machte das Stichwort der „säkularen Stagnation“ die Runde. In den letzten zwölf Jahren mussten die Staaten zwei Mal massiv intervenieren, um einen größeren Entwertungsschub abzuwenden. Entsprechend findet das Konzept der Selbstkostendeckung im Gesundheitswesen anders als damals in den politisch und ökonomisch entscheidenden Kreisen so gut wie keine Unterstützung. Selbst während der Corona-Pandemie konnte sich die Exekutive nicht dazu durchringen, von einer Finanzierung durch Pauschalen – sogenannte Freihaltepauschalen – abzurücken. Gegen die Profitklemme des Kapitals und die Verschuldung des Staates ein bedarfsorientiertes Finanzierungsmodell durchzusetzen, bräuchte es also eine enorme politische Kraftanstrengung und eine breit getragene Bewegung.3

Auf den ersten Blick könnte die jüngere Krankenhauspolitik dieser Einschätzung widersprechen: Es kam in den letzten Jahren zu durchaus überraschenden krankenhauspolitischen Beschlüssen, mit denen auf die vorangegangenen Proteste und Arbeitskämpfe an den Krankenhäusern reagiert wurde. Mit dem Pflegepersonal-Stärkungsgesetz (PpSG) von 2018 wurden Pflegepersonaluntergrenzen und Pflegebudgets an den Krankenhäusern eingeführt. In der Praxis bedeuten die Untergrenzen allerdings herzlich wenig Positives. Mit den Pflegebudgets wurden die Kosten für das Pflegepersonal auf bettenführenden Stationen aus dem Fallpauschalensystem herausgenommen. Dieser Teil der Personalkosten wird aktuell wieder durch eine Art Selbstkostendeckungsprinzip refinanziert. Aber: Dass das möglich war, dürfte vor allem dem Umstand geschuldet sein, dass Politik und Kostenträger genau wissen, wie begrenzt gegenwärtig die Möglichkeiten des Personalaufbaus in der Pflege sind. Es gibt schlicht kaum (qualifizierte) Pflegekräfte, die unter den gegebenen Bedingungen langfristig arbeiten wollen und können. Darauf verweist etwa auch der Charité-Vorstand in der aktuellen Auseinandersetzung: Man könne keine Entlastung versprechen, wenn ‚der Arbeitsmarkt‘ kein Personal hergibt. Die von den Krankenkassen nach Verabschiedung des PpUG wieder reflexartig in den Raum geworfene Warnung vor einer „Kostenexplosion“ ist deshalb reines Diskursgeklimper. Zudem handelt es sich bei der Kombination aus Personaluntergrenzen und Pflegebudgets nur um eine Übergangslösung – wider alle Erfahrung und Vernunft wird bereits weiter diskutiert, ob nicht auch Fallpauschalen für die Pflege (sogenannte Pflege-DRGs) eingeführt werden sollen. Einem von Ver.di, dem Deutschen Pflegerat und der Deutschen Krankenhausgesellschaft vorgelegten Entwurf für ein bedarfsorientiertes Personalbemessungsinstrument (PPR 2.0) hat Jens Spahn kürzlich eine Absage erteilt. Substanzielle Verbesserungen sind also auch nach Corona nicht in Sicht.

Un/Möglichkeiten

In der gegenwärtigen Phase kapitalistischer Entwicklung scheint eine bedarfsgerechte Krankenversorgung unter erträglichen Arbeitsbedingungen und auf Grundlage einer geschlechtergerechten Arbeitsteilung kaum realisierbar. Das Gesundheitswesen lässt sich so wenig wie andere Arbeitsbereiche von den politischen und ökonomischen Bedingungen der Kapitalakkumulation abkoppeln. Unter diesen Bedingungen erscheint die Gesundheitsversorgung entweder bloß als Kostenfaktor, der klein gehalten werden muss, oder als weiterer Produktionsprozess, der der Profitlogik dienstbar zu machen ist. Diese strukturelle Sorglosigkeit des Kapitals macht es unmöglich, unter seiner Vorherrschaft anfallende Sorgeaufgaben angemessen zu erledigen – darauf macht die feministische Kapitalismuskritik schon lange aufmerksam.

Wenn es aber stimmt, dass eine für alle Beteiligten bedarfsgerechte Versorgung nicht innerhalb des Gegebenen zu haben ist, dann rücken zwei Fragen in den Vordergrund. Erstens: Wie lassen sich innerhalb der aktuellen Auseinandersetzungen neben den tarifbezogenen Forderungen weiterreichende, im wörtlichen Sinne radikale Transformationsperspektiven entwickeln und aktionspraktisch einbeziehen? Die Aufnahme der Forderung nach einer geschlechtergerechten Verteilung von Sorgearbeiten insgesamt und der Versuch, Verbindungen zur Klimabewegung aufzubauen (vgl. das Interview mit der Pflegekraft), zeigen, dass es bereits Entwicklungen in diese Richtung gibt. Wie lassen sie sich weitertreiben und in welchen praktischen Formen des gemeinsamen Kämpfens können sie Ausdruck finden?

Zweitens: Welches Potenzial besitzen die gegenwärtigen Kämpfe, über das Gegebene hinauszugehen? Wie wiederum dem Interview mit der Pflegekraft zu entnehmen ist, zeichnet sich ein solches Potenzial in den Erfahrungen der Vernetzung, Kooperation und Koordination mit den Gesundheitsarbeiter:innen des eigenen und auch anderer Betrieben ab. Die Koordination des Ausstands an der Basis und die selbstbewusst ausgesprochene Fähigkeit, diesen selbst nach Kriterien der Patientensicherheit gestalten zu können, verweisen auf die reale Möglichkeit, eine bedarfsorientierte Versorgung insgesamt selbst organisieren zu können und die Chefetagen – egal, ob sie durch einen privaten Konzern oder den kommunalen Staatsapparat gestellt werden – abzuschaffen. Es wäre fatal, wenn diese Erfahrungen und Fähigkeiten, die in der Auseinandersetzung gemacht und entfaltet werden, am Ende nur im Lichte ihrer Bedeutung für die Durchsetzung der tarifvertraglichen Forderungen gesehen und damit quasi gewerkschaftlich-systemimmanent vereinnahmt werden.4 Solche überschießenden Momente müssten vielmehr mit Blick auf die reale Möglichkeit und die Notwendigkeit radikaler Transformation vor der systemkonformen Kanalisierung gerettet, benannt, sichtbar gemacht und gestärkt werden. Sie wären zu der Frage ins Verhältnis zu setzen, die an dieser Stelle bereits von einem Physiotherapeuten aufgeworfen wurde: „wie wir eine kollektive Praxis aufbauen können, die darauf abzielt, das Gesundheitswesen in unsere Hände, also die Hände der dort Arbeitenden und der Patientinnen zu bekommen.“

Antworten auf diese Fragen können und sollen nicht hier, aus der Distanz, entwickelt werden. Sie müssten sich nicht zuletzt aus den praktischen Erfahrungen der Kämpfe speisen.

  • 1. Bis zur Grundgesetzänderung 1969 fehlten dem Bund Regelungskompetenzen in der Krankenhausfinanzierung.
  • 2. Vgl. hierzu ausführlich: Kühn, Hagen (1980): Politisch-ökonomische Entwicklungsbedingungen des Gesundheitswesens. Eine Untersuchung am Beispiel der Krankenhauspolitik in der Bundesrepublik Deutschland von 1958 bis 1977/78. Königstein/Ts.: Verlag Anton Hain, Teil C.
  • 3. Einen kleinen Vorgeschmack auf mögliche Gegenbewegungen bietet die Mittelstandsvereinigung der CDU/CSU. Die Bild berichtete im Zusammenhang mit dem Streik der Bahnbeschäftigten vom Beschluss der Vereinigung in Bereichen wie dem Bahn- und Luftverkehr sowie der medizinischen Versorgung und Pflege die Arbeitskampfregel verschärfen zu wollen, um zu verhindern, dass „unbeteiligte Dritte übermäßig belastet werden“.
  • 4. In der Wildcat machte kürzlich ein Kollege aus der Pflege auf die Gefahren einer Engführung der Auseinandersetzung auf eine tarifvertragliche Regelung aufmerksam: Die über die tariflichen Forderungen hinausgehenden Probleme würden vom Tarifvertrag abgespalten: „Für einen Teil der ‚Probleme‘ (und der KollegInnen!) gibt es Verbesserungen und meist komplizierte Regelungen – der ‚Rest‘ wird vertagt (oder war gar nicht Thema). Der (Kampf für den) Tarifvertrag ist dann kein Ausgangspunkt für weitere Kämpfe, sondern beendet eine Mobilisierung.“ (Wildcat 107, S. 18)