„Wir brauchen keinen Applaus, sondern Veränderung“
Am 23. August 2021 begaben sich Beschäftigte der Berliner Krankenhäuser Charité und Vivantes und der Vivantes-Töchter in einen dreitägigen Warnstreik. Dem vorangegangen war ein Ultimatum von 100 Tagen, das die Berliner Krankenhausbewegung dem Senat und den Arbeitgebern der landeseigenen Kliniken am 12. Mai gestellt hatte. In dieser Zeit sollten ernsthafte Angebote zur Entlastung und für eine Bezahlung nach dem Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst (TVöD) für alle Beschäftigten der Tochtergesellschaften auf den Tisch gelegt werden. Senat und Arbeitgeber ließen die Zeit ungenutzt verstreichen – die Beschäftigten machten ihre Ankündigung wahr und gingen in den Streik. Vivantes ließ den Ausstand zunächst per einstweiliger Verfügung des Arbeitsgerichts verbieten. Die Begründung: Die medizinische Versorgung der Patienten sei nicht gesichert, da im Vorfeld des Streiks zwischen Vivantes und Ver.di keine Notdienstvereinbarung abgeschlossen worden war. Die Verfügung wurde jedoch kurze Zeit später vor dem Arbeitsgericht gekippt, der Ausstand der Vivantes-Beschäftigten konnte beginnen.
Inzwischen ist klar, dass die Streiks weiter gehen werden. Ver.di veröffentlichte heute (6.9.2021) die Ergebnisse einer Urabstimmung: Etwa 98% der Gewerkschaftsmitglieder der Charité und bei Vivantes votierten für weitere Arbeitsniederlegungen.
Mit diesen jüngsten Auseinandersetzungen setzt sich eine schon länger existierende Bewegung für mehr Personal und Entlastung an den Krankenhäusern fort. Die Kämpfe an der Charité spielten dabei eine Voreiterrolle (zur Geschichte vgl. die Ver.di-Broschüre „Mehr von uns ist besser für alle“). An die Berliner Erfahrungen anschließend, formierte sich ab 2017 auch im Saarland eine Bewegung für einen Tarifvertrag Entlastung. In diesen Bewegungen war es nicht nur eine Neuheit, dass auf Grundlage von Notdienstvereinbarungen gestreikt wurde, in denen dem Arbeitgeber die Verantwortung für die Patientensicherheit übertragen wurde. Neu war auch das Modell der Tarifberater:innen bzw. der Teamdelegierten, das die Teamförmigkeit der alltäglichen Arbeit aufgreift und eine starke Rückkopplung der Tarifverhandlungen an die Basis ermöglicht.
Über die jüngsten Kämpfe sprachen wir mit Anja Voigt, Intensivpflegerin bei Vivantes, beteiligt am Berliner Bündnis „Gesundheit statt Profite“, Ver.di-Mitglied und Teil der Tarifkommission.
Communaut: Bevor ihr in den Streik getreten seid, habt ihr dem Senat und den Arbeitgebern ein hunderttägiges Ultimatum gestellt, damit sie euch ein Angebot für Tarifverträge unterbreiten. Da sich auf deren Seite überhaupt nichts bewegt hat, kam es jetzt zum dreitägigen Warnstreik. Wie kamt ihr darauf, das Ultimatum als Kampfmittel zu wählen?
Unser Gedanke dahinter war, dass die Zeit für einen erneuten Kampf reif war, da die Pflege und das Krankenhaus durch Corona eine gewisse öffentliche Aufmerksamkeit bekommen haben. Zudem ist im September in Berlin die Wahl zum Abgeordnetenhaus. Die Monate von Mai bis September waren also eine gute Zeitschiene, um Druck auf die Politik auszuüben. Wenn wir uns einfach nur hinstellen und einen Tarifvertrag Entlastung fordern würden, hätte das vermutlich niemand wahrgenommen. Deshalb haben wir die Forderung nach einem neuen Tarifvertrag an ein Ultimatum gekoppelt, in dem wir gesagt haben: „Wenn bis zum Ende des Ultimatums nicht ernsthafte Verhandlungen aufgenommen werden, dann streiken wir.“
Kam die Idee mit dem Ultimatum eher von der Gewerkschaftsseite oder von den Beschäftigten?
Die Idee kam eher von der Gewerkschaft, aber auch wirklich nur die Idee. An der ganzen Umsetzung waren sehr viele Kolleg:innen beteiligt, die wiederum ihre Kolleg:innen befragt haben: „Wollen wir das machen? Ist das etwas, das uns Erfolg bringen kann?“ Nur die Idee allein hätte nicht gereicht. Als wir die Kolleg:innen gefragt haben, ob sie sich an einem Arbeitskampf beteiligen würden, haben sie uns die Türen eingerannt. Der Druck auf die Beschäftigten ist mittlerweile so groß und allen ist klar, dass es in den Berliner Krankenhäusern nicht mehr so weitergehen kann.
Das heißt, es gibt aktuell eine hohe Zustimmung zu den Forderungen und eine hohe Beteiligung am Streik?
Ja, die Zustimmung ist sehr hoch. Wir haben mit einer Petition angefangen, in der es zuerst einmal darum ging, herauszufinden, ob die Kolleg:innen Lust haben mitzumachen und ihnen die Forderungen wichtig sind. Über 8500 Kolleg:innen haben unterschrieben. Die Zustimmung zu den Forderungen für Entlastung wurde auch schon in der letzten TvöD-Runde im Oktober deutlich, als Ver.di gefragt hat, was wir gerne verhandelt wissen wollen. Dabei kam heraus, dass es ganz vielen Beschäftigten nicht mehr um eine Lohnerhöhung geht, sondern um mehr Personal. Mehr Geld ist natürlich schön, aber es löst die aktuellen Probleme nicht. Vielmehr führt die aktuelle Belastung dazu, dass immer mehr Leute den Pflegeberuf verlassen. Damit das gestoppt wird, muss sich endlich Grundlegendes ändern.
Wie organisiert ihr euch denn in den Kliniken und vor allem auch zwischen den Kliniken?
Der Kampf in zwei Kliniken war auch für mich am Anfang ein großes Fragezeichen, ich hatte Zweifel, ob das funktionieren kann. Allein Vivantes hat neun Klinikstandorte, die Charité hat drei große Standorte. Trotzdem wollten wir gern unsere Forderungen bündeln und eine gemeinsame Bewegung entwickeln. Ich muss sagen, es klappt hervorragend. Social Media sind für solche Zwecke wunderbar, insbesondere Telegramkanäle usw. Wir sind heute deutlich besser vernetzt als noch in den Tarifkämpfen vor zwei Jahren, das ist wirklich beeindruckend. Ich kenne auf einmal Kolleg:innen aus dem Benjamin-Franklin-Krankenhaus oder aus Spandau, zu denen ich vorher nie Kontakt hatte. Jetzt kennt man sich und weiß um die Probleme der anderen. Die größere Vernetzung führt auch zu einem enormen Zusammenhalt zwischen den Kolleg:innen, was uns natürlich auch stärker macht. Das habe ich in den letzten Jahren – und ich bin wirklich schon lange gewerkschaftlich aktiv – so noch nicht erlebt. Es ist eine wirklich starke Bewegung entstanden. Das sieht man auch daran, dass – wenn auch langsam – nach und nach kleine Schritte des Erfolgs sichtbar werden, weil wir durch die Größe, die wir haben, sehr viel bewegen können.
Ist eure Vernetzung „nur“ digital oder trefft ihr euch auch in Präsenz?
Natürlich treffen wir uns auch in Präsenz. Das ist für den gemeinsamen Austausch sehr wichtig. Aber auffällig ist schon, wie viel einfacher die Kommunikation durch Social Media geworden ist: Wenn es früher etwas Wichtiges zu kommunizieren gab, das alle betraf, haben wir im schlimmsten Fall einen Rundbrief geschrieben. Der war dann eine halbe Woche unterwegs, bis er den letzten Bereich erreicht hat. Manche haben die Info erst 14 Tagen später erhalten. Heute schickst du was in die Telegramgruppe und sofort wissen es 5000 Leute, das ist eine große Erleichterung und macht Gewerkschaftsarbeit für mich auch nochmal viel interessanter, weil du so viele Menschen so schnell erreichen kannst. Das macht echt Spaß.
Wie seid ihr denn zu euren Forderungen gekommen, läuft das eher Top-Down? Sind das Ver.di-Forderungen oder entstehen die durch eure Vernetzung von unten?
Nein, es läuft gar nicht Top-Down, ganz im Gegenteil, es geht ganz unten los. Wir haben angefangen – sehr mühevoll – mit jeder einzelnen Kollegin und jedem einzelnen Kollegen zu reden. In ihren Teams und auf ihren Stationen haben Kolleg:innen andere Kolleg:innen gefragt. So hat jede:r ein sogenanntes Forderungsinterview durchgeführt, in dem gefragt wurde, wie die Arbeitssituation ist, was die Einzelnen belastet, was es zur Verbesserung und zur Entlastung braucht und wie viel Personal es bräuchte, um gute Arbeit zu machen und um den Patienten gut betreuen zu können. Die Forderungen, die in den hunderten Interviews genannt wurden, haben wir dann nach und nach gebündelt und daraus systematische Forderungen aufgestellt. Von oben wurde nichts vorgegeben.
Seit einigen Jahren gibt es bei Arbeitskämpfen in eurem Bereich innerhalb von Ver.di ein System von Teamdelegierten. Kannst du beschreiben, wie das funktioniert? Haben Beschäftigte dadurch mehr Mitspracherecht und Beteiligungsmöglichkeiten gegenüber der Gewerkschaftsspitze als früher? Wie siehst du generell das Verhältnis von den Gewerkschaftsaktiven und ver.di? Ver.di hatte sich ja in der Vergangenheit – z. B. beim Charitéstreik – auch nicht immer mit Ruhm bekleckert.
Das ist jetzt ein sehr breiter und demokratischer Prozess. Was ich gerade in Hinsicht auf die Forderungen beschrieben habe, gilt auch für die Rückkopplung von der anderen Seite. Man kann sich das in etwa so vorstellen: Eine Station hat je nach Größe etwa ein bis drei Teamdelegierte. Diese Teamdelegierten halten einmal die Verbindung zur Tarifkommission aufrecht, also direkt zum Ver.di-Hauptamt, und geben andererseits alle Informationen in ihr Team zurück. Es ist nicht mehr nur einer aus jedem Haus, die oder der in der Tarifkommission sitzt und einen Informationsfluss zur ganzen Belegschaft herstellen muss, sondern es gibt jetzt ein direktes Bindeglied zwischen Stationsteams und Hauptamtlichen. Das läuft zum Beispiel so: Wir haben heute Tarifkommissionssitzung und danach, um 17 Uhr, gibt es ein Zoom-Treffen mit allen Teamdelegierten von Vivantes und der Charité. Wir berichten dann allen, was heute passiert ist und was wir geplant haben. Die Teamdelegierten haben dann die Möglichkeit, uns eine Rückmeldung zu geben. Es ist also nicht einfach nur eine einseitige Ansprache von uns und dann ist die Sitzung vorbei. Wenn die Teamdelegierten sagen, dass sie dem, was wir in der Tarifkommission verabredet haben, nicht zustimmen, dann machen wir das auch nicht. Wichtige Entscheidungen treffen wir gar nicht ohne diese Rückkopplung.
Durch dieses System der Teamdelegierten fühlen sich auch sehr viele Kolleginnen mitgenommen. Sie haben nicht mehr das Gefühl: „Jetzt sind wieder Tarifverhandlungen und ver.di wird schon sagen, was passiert und dann stehen wir mit einer Fahne da und machen Warnstreiktag und dann läuft das schon.“ Sondern sie haben das Gefühl, dass das, was ihnen wichtig ist, auch bei der Gewerkschaft ankommt und direkt verhandelt wird. Es geht um ihre Bedürfnisse und um die Bedürfnisse ihrer Patienten auf der Station. Das macht auch das Besondere an dieser Bewegung aus.
Gerade führt ihr zwei Kämpfe parallel bei Vivantes: Einmal kämpft ihr Pflegekräfte für den Tarifvertrag Entlastung und einmal kämpfen die Beschäftigten der Vivantes-Tochtergesellschaften für die Eingliederung in den Tarifvertrag des öffentlichen Dienstes (TVöD). Wie habt ihr es geschafft, die beiden Kämpfe zu verbinden? Das ist ja manchmal gerade das Schwierige.
Ja, das ist auch wahnsinnig schwierig, insbesondere diese gemeinsame Zeitschiene immer zu halten. Aber uns war es von Anfang an wichtig, deutlich zu zeigen, dass wir ein Krankenhaus sind und in diesem Krankenhaus alle zusammenarbeiten. Das ist Teamarbeit. Die Pflege ist nicht besser als die Reinigungskraft, der Handwerker nicht unbedeutender als die Röntgenassistentin. Nur gemeinsam schaffen wir eine gute Patientenversorgung. Das ist schon besonders, dass wir es geschafft haben, so viele Menschen mit unterschiedlichen Forderungen mitzunehmen. Die Pflege kämpft im Moment für einen Entlastungstarifvertrag, die Töchterangestellten möchten endlich mal fair bezahlt werden und trotzdem kämpfen wir gemeinsam. Wir machen auch gemeinsame Tarifkommissionssitzungen und tauschen uns digital gemeinsam aus. Wenn bei den Töchtern ein neues Verhandlungsangebot kommt, werden wir mit dazu eingeladen und sprechen uns ab: „Ihr wollt jetzt streiken, bei uns passt das jetzt gerade nicht, aber wir können euch unterstützen.“ Das ist immer ein sehr produktiver Austausch. Ich finde das sehr inspirierend. In den Häusern entsteht dadurch ein enger Zusammenhalt. Plötzlich grüßt du frühmorgens die Reinigungskraft, die du vorher gar nicht so wahrgenommen hast. Beeindruckend finde ich auch, dass sich bei der Streikdemo letzte Woche spontan Kolleg:innen auf die Bühne gestellt und vor 1000 Menschen geredet haben, die sonst niemand wahrgenommen hätte. Auf einmal sind sie in ihrer Funktion und Position sichtbar.
Kannst du einschätzen, wie die Kampfbereitschaft sich durch Corona verändert hat? Hast du da Veränderungen im Vergleich zu vorher wahrgenommen?
Diese schlechte Situation in den Krankenhäusern gab es natürlich schon vor Corona, aber sie hat sich nochmal zugespitzt, die Arbeitsbelastung hat nochmal zugenommen. Hinzu kommt der Faktor, den ich vorhin schon erwähnt habe: Wir haben durch Corona eine stärkere Aufmerksamkeit und Öffentlichkeit bekommen. Es macht den Kampf einfacher, wenn man weiß, dass auch viele in der Bevölkerung hinter uns stehen. Ich glaube auch, dass die Kampfbereitschaft infolge des schlechten Applauses nochmal größer geworden ist. Viele von uns haben sich davon verarscht gefühlt und sagen jetzt: „Das können sie lassen, wir wollen jetzt wirklich eine Veränderung und jetzt machen wir auch mal was.“
Die Streiks in den vergangenen Jahren an der Charité und auch an anderen öffentlichen Kliniken basierten immer auf der Regelung einer sogenannten Notdienstvereinbarung. Die spielt für die Durchführbarkeit von Streiks im Krankenhaus eine relativ wichtige Rolle, bei euch gab es jetzt sogar einen gerichtlichen Prozess. Kannst du erklären, was genau eine Notdienstvereinbarung ist und wie sie zustande kommt?
Das Konzept der Notdienstvereinbarung hat man das erste Mal bei dem großen Charitéstreik 2015 entwickelt. Bis dahin gab es quasi keine Streiks im Krankenhaus. Vielleicht hat sich mal jemand in der Anmeldung vor das Krankenhaus gestellt, aber sonst hieß es immer: Wir können nicht streiken, weil unsere Patient:innen dann unversorgt sind. Das führte zu einem großen Frust unter den Krankenhausmitarbeiter:innen. Daraufhin hat man sich an der Charité das System der Notdienstvereinbarung ausgedacht. Mit dieser Vereinbarung zeigen die Beschäftigten und die Gewerkschaft dem Arbeitgeber rechtzeitig an, dass sie streiken wollen. Damit ist er dann in der Verantwortung, die Patientenversorgung abzusichern. Zugespitzt sagt man mit der Notdienstvereinbarung zum Arbeitgeber: Wir sind morgen früh nicht auf Station, also kümmere dich darum, dass es weniger Patient:innen gibt. Damit wird es möglich, die Verantwortung an den Arbeitgeber zu delegieren, deshalb ist diese Notdienstvereinbarung so wichtig. Die ist inzwischen auch hundertfach in ganz vielen Kliniken in Deutschland abgeschlossen worden. Mittlerweile ist sie aber nicht mehr ganz so einfach durchzusetzen. Früher ging es darum, eine Notdienstvereinbarung für drei Warnstreiktage abzuschließen. Heute und gerade aktuell in Berlin reden wir nicht mehr nur über drei Tage. Das weiß auch der Arbeitgeber und sagt natürlich: „Nein, nicht mit uns.“ Es reicht nicht mehr einfach anzuzeigen, dass wir nicht da sind. Es wird jetzt hin und her verhandelt und am Ende wollen die Arbeitgeber keine Notdienstvereinbarung abschließen. Wir streiken dann aber trotzdem, weil es unser Recht ist und wir eine Notdienstvereinbarung vorliegen haben, an die wir uns halten. Dadurch sind unsere Patienten nicht gefährdet. Das ist uns jetzt auch vor Gericht in der aktuellen Auseinandersetzung bestätigt worden.
Zu Beginn dieses Warnstreiks hat es ja Vivantes erstmal geschafft, ein Streikverbot durch eine einstweilige Verfügung durchzusetzen. Was würdest du sagen, ist die Strategie dahinter?
Die Strategie des Arbeitgebers war ganz einfach, den Streik zu verhindern. Die ist aber nicht aufgegangen, im Gegenteil: Es ist für Vivantes nach hinten losgegangen. Innerhalb dieser drei Tage ist die Kampfbereitschaft noch einmal ordentlich gewachsen, weil die Leute sauer waren. Damit hat sich der Arbeitgeber ins eigene Fleisch geschnitten und ich glaube, dass er das so auch nicht erwartet hätte. Wir haben Recht bekommen. Es war vielen Kolleg:innen auch sehr wichtig, dass uns nicht – nur weil wir im Krankenhaus arbeiten – die Grundrechte aberkannt werden, sondern klar ist, dass man natürlich auch im Krankenhaus verantwortungsbewusst streiken kann. Es ärgert mich auch immer wieder an der öffentlichen Diskussion, wenn so getan wird, als wären wir verantwortungslos. Niemand von meinen Kolleg:innen geht doch los, lässt alles fallen und weg sind wir. Wir gucken immer, ob noch jemand da ist, der die notwendige Arbeit macht. Und wir sprechen uns ab: „Bleibst du da, dann geh ich raus, morgen machen wir es andersrum.“ Das ist doch selbstverständlich. Wir haben so viel Verantwortung in der Coronakrise übernommen, da sind wir ja auch nicht weggerannt. Natürlich machen wir das auch im Streikfall nicht.
Habt ihr, als es mit dem Streik bei Vivantes auf der Kippe stand, untereinander diskutiert, was ihr macht, wenn das Streikverbot bestehen bleibt, um das zu umgehen?
Im ersten Moment, als die Verfügung verlautbart wurde, waren wir alle geschockt. Dann haben wir uns schnell wieder gesammelt und überlegt, was wir jetzt machen. Uns war eigentlich schnell klar, dass Vivantes diese Eilverfügung nicht durchkriegt. Das hatte ein gehetzter Richter entschieden, aber wir wussten, wir haben eine gute Notdienstvereinbarung und wir werden auch vor Gericht Recht bekommen. Und mit dieser Überzeugung, dass wir gewinnen, sind wir auch vor Gericht gezogen und haben gewonnen.
Der Geschäftsführer von Vivantes Johannes Danckert betont ja gerne, dass er auch für Entlastung ist, dass aber eine Klinik alleine nichts ausrichten kann und dass es mehr Geld und vor allem politische Lösungen auf Landes- oder Bundesebene bräuchte. Was würdest du ihm antworten?
Ich würde ihm sagen, dass er durchaus Recht hat. Das Krankenhausfinanzierungssystem muss dringend reformiert werden. Da müssen politische Lösungen her, überhaupt keine Frage. Da sind wir alle bei ihm und stellen uns auch mit ihm gemeinsam auf die Straße, um dafür zu demonstrieren. Aber in der aktuellen Situation ist die Berliner Landespolitik gefragt und auf die machen wir genauso Druck wie auf die Geschäftsführung. Es wird uns immer von der Geschäftsführung gesagt, dass sie nichts entscheiden können und das Geld aus der Politik kommen muss. Aber mit denen reden wir genauso wie mit unserer Geschäftsführung. Man muss sich als Stadt überlegen, als Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland: Will man eine gute Daseinsvorsorge, will man eine Gesundheitsvorsorge, die allen gerecht wird, den Patient:innen und den Mitarbeiter:innen? Wenn man das will, dann muss man dafür Geld in die Hand nehmen.
Jetzt gibt es ja eine Notdienstvereinbarung. Wie vielen Beschäftigten war es denn letztlich möglich, an den Warnstreiks und Demos teilzunehmen?
Bei der Streikdemo am Mittwoch waren 2000 Leute. Das war sehr beeindruckend. Es gibt zwar immer noch keine Notdienstvereinbarung, die Vivantes akzeptiert hätte. Es gibt eine, von der wir sagen, dass sie gut ist, die könnte der Arbeitgeber jederzeit unterschreiben – das tut er aber nicht, obwohl sie auch vor Gericht bestätigt wurde. Dennoch können mit dieser Notdienstvereinbarung viele Kolleg:innen streiken. Ich kann jetzt keine genauen Zahlen nennen, aber bestimmt die Hälfte der Kolleg:innen konnte am Streik teilnehmen.
Gestreikt wurde jetzt vom nicht-ärztlichen Personal. Welchen Eindruck habt ihr von den Ärzt:innen, unterstützen sie euch mit euren Forderungen und dem Streik?
Das kommt immer auf die Ebene an. Die Assistenzärzt:innen, also die ärztlichen Kolleg:innen, die direkt mit uns arbeiten, sehen unser tägliches Elend und unterstützen deshalb den Streik. Es gibt sogar eine ärztliche Petition, die viele unterschrieben haben – auch Chefärzte oder leitende Oberärzte, also Leute aus der Führungsriege. Die wissen auch, dass sie ihre Betten gar nicht voll belegen können, weil es nicht genug Pflegepersonal gibt. Sie äußern es nur oft nicht so offen, weil sie auch unter finanziellem Druck stehen und in leitenden Positionen sitzen. Eine Frage, die mich da immer umtreibt, ist, warum wir uns nicht alle zusammentun, von der Pflegekraft bis zum Chefarzt – meinetwegen auch die Geschäftsführung – und mal auf den Tisch hauen und sagen: „So geht es einfach nicht mehr weiter. In Deutschlands Krankenhäusern ist finanziell was krank.“ Das müssen wir noch zusammenbringen.
In Berlin ist auch jenseits der Krankenhäuser einiges los: Die Bahnbeschäftigten, die ja ebenfalls im Bereich der öffentlichen Infrastruktur arbeiten, haben gestreikt; beim Lieferdienst Gorillas kam es kürzlich zu sogenannten wilden Streiks; es gibt Proteste gegen den Ausbau der Autobahn – gibt es wechselseitige Bezugnahmen und Solidarität zwischen diesen Kämpfen?
Ja, es gibt Solidarisierungen. Wir waren vorhin erst mit unserer Tarifkommission beim Streik der AWO-Mitarbeiter:innen. Kolleg:innen der GDL waren auf unserem Streik. Wir sind untereinander vernetzt und es gibt überall Unterstützung. Es kommt mir auch manchmal so vor, als ob sich in diesem Sommer hier viel bewegt. In Berlin machen sich Leute auf, für eine bessere Stadt zu kämpfen.
Während der ersten Corona-Welle wurde viel über Pflegearbeit und die schlechten Arbeitsbedingungen gesprochen. Habt ihr das Gefühl, dass es aus der Gesellschaft mehr Solidarität und Verständnis für eure Forderungen gibt als bei Arbeitskämpfen vor der Pandemie?
In meiner Wahrnehmung hatten die Leute schon immer Verständnis. Sie konnten nur nie nachvollziehen, wie man im Krankenhaus streiken kann. Viele hatten die Befürchtung, dass wir die Patient:innen einfach liegenlassen. Ich denke, da hat sich tatsächlich etwas verändert. Als ich während des Warnstreiks vor dem Streiklokal vom Klinikum stand, kam zum Beispiel ein älteres Ehepaar und hat gesagt: „Das ist richtig, dass ihr streikt, das ist gut so. Mir haben sie den Röntgen-Termin abgesagt, aber das ist halt so.“ Ich habe den Eindruck, dass die Bevölkerung weiß, dass sich was ändern muss. Die Leute verstehen auch, dass sie aktiv für Veränderung kämpfen müssen und nicht immer nur eine Petition starten können. Sie verstehen, dass man eben vielleicht auch mal Leuten vor den Kopf stoßen muss, um was zu verändern. Dann muss ein Termin auch mal verschoben werden.
Jetzt habt ihr den Warnstreik durchgeführt. Was denkst du, wird sich die Krankenhausleitung an den Verhandlungstisch begeben? Und werden die Beschäftigten bei der Urabstimmung am Montag für einen unbefristeten Streik stimmen?
Auf jeden Fall sieht man, dass unser Druck Erfolg hatte und sich etwas bewegt. Bei einem Gespräch mit der Geschäftsführung von Vivantes heute haben sie erstmals das Wort „Verhandlung“ in den Mund genommen. Das ist schon mal mehr als noch vor drei Wochen. Das ist zwar alles noch unkonkret, da die Geschäftsführung noch keine Vorschläge gemacht hat, aber zumindest signalisiert sie jetzt die Bereitschaft, sich mit uns an den Tisch zu setzen.
Es braucht aber weiter Druck. Wir dürfen jetzt nicht nachlassen, sondern müssen gerade jetzt noch eine Schippe drauflegen, wenn wir wirklich ein positives Ergebnis durchsetzen wollen. Ich bin mir sehr sicher, dass die Urabstimmung positiv ausgeht und gehe davon aus, dass etwa 90 Prozent für einen Streik stimmen.
Die Forderungen, um die es während des Ultimatums und beim Streik ging, betreffen tarifvertragliche Fragen. Es gibt aber zum Beispiel im Bündnis „Gesundheit statt Profite“, in dem du dich auch engagierst, eine Reihe von Forderungen, die darüber hinausgehen – wie die Abschaffung des Fallpauschalensystems und eure Forderung nach einem solidarischen Gesundheitssystem ohne Profitlogik. Wie könnte ein solches Gesundheitswesen aussehen und was müsste geschehen, damit es tatsächlich praktisch umgesetzt werden kann?
Es müsste ein anderes Finanzierungssystem geben. Im gesamten Gesundheitssektor, sowohl in den Krankenhäusern als auch in ambulanten Diensten, Reha-Einrichtungen, Pflegeheimen usw. darf es nicht wie aktuell um Wettbewerb und Gewinne gehen. Keine Feuerwehr, keine Schule, keine Bibliothek muss Gewinne erwirtschaften, wieso dann bei der Versorgung von Kranken? Da stimmt doch ethisch was nicht. Es sollte das finanziert werden, was gebraucht wird. Wenn ich krank bin, brauche ich eine Behandlung und die muss komplett finanziert werden. Für diese Finanzierung muss der Staat aufkommen. Dabei kann gerne auch wirtschaftlich gearbeitet werden, das würden wir gar nicht in Abrede stellen. Aber die Versorgung darf nicht daran gekoppelt sein, ob eine Operation besonders lukrativ ist, und sie sollte deshalb auch nicht gegenüber anderen Fällen prioritär behandelt werden. Es kann nicht sein, dass finanzielle Erwägungen darüber entscheiden, wie man behandelt wird. Wir haben zwar in Deutschland immer noch eine gute medizinische Versorgung, aber die Gewinnorientierung muss unbedingt abgeschafft werden. Es kann auch nicht sein, dass mit Steuergeldern und Kassenbeiträgen ein System finanziert wird, in dem sich am Ende irgendwelche Aktionäre noch Gewinne einstreichen können. Das ist irre.
Glaubst du denn, dass so ein Gesundheitssystem realistisch innerhalb einer kapitalistisch verfassten Gesellschaft möglich ist? Viele Leute sagen ja auch: Wohnen soll keine Ware sein – und warum sollte dann eigentlich Nahrung eine Ware sein? Aber faktisch ist fast alles, was um uns herum ist, eine Ware. Glaubst du, dass eine bedarfsorientierte Versorgung innerhalb dieser Logik möglich ist und der Staat da einfach in die Bresche springt?
Da bin ich mir ganz sicher, weil es ja in Deutschland bis 2003 so war. Bis dahin war zumindest das Krankenhausfinanzierungssystem nicht am Wettbewerb, sondern am Bedarf orientiert. Sicher wurde da auch viel Schindluder getrieben. Aber zumindest musste kein Krankenhaus Gewinn erwirtschaften und schwarze Zahlen schreiben. Wenn der Wille da ist, kann man das auch wieder umdrehen, vielleicht nicht von heute auf morgen, aber tendenziell. Auch innerhalb der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG) gibt es schon solche Bestrebungen. Auch denen ist klar, dass es so, wie es jetzt ist, nicht mehr weitergehen kann.
Eine weitere Forderungen von dem Bündnis ist eine geschlechtergerechte Verteilung von Pflege- und Sorgearbeit, ob privat oder professionell, statt deren Zementierung als Frauen- und Familienaufgabe. Könntest du ausführen, was ihr damit genau meint?
In unserer Gesellschaft ist klar, wer pflegt: In Krankenhäusern arbeiten ungefähr zu 70 Prozent Frauen. Im privaten Bereich, in der häuslichen Pflege, ist ihr Anteil noch höher. Es ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, hier umzudenken. Das fängt schon im Kleinen an, zum Beispiel beim Erziehungsurlaub. Wie viele Männer nehmen heutzutage Erziehungsurlaub? Das sind immer noch wenige, auch wenn es mehr werden. Da muss ein Umdenken einsetzen und es muss gesellschaftlich vorangebracht werden, dass Sorgeaufgaben gleichberechtigt aufgeteilt werden und es nicht die alleinige Aufgabe von Frauen ist, zu pflegen. Männer können das genauso gut. Wenn Sorgearbeit immer auf die Frauen abgewälzt wird, führt das dazu, dass Frauen in Teilzeit arbeiten, weil sie zum Beispiel noch Angehörige pflegen. Dann verdienen sie automatisch weniger als Männer – eine endlose Spirale, aus der wir rauskommen müssen.
Ihr kämpft auch gegen Fremdbestimmung und hierarchische Arbeitsteilung. Was heißt das genau und wie würdet ihr die Arbeit in der Pflege gerne anders organisieren?
Da kann ich aus meinem Bereich berichten. Da ist es oft so, dass nicht wir, sondern die Ärzte bestimmen, was zu tun ist. Ganz oft passiert es dadurch, dass der Arzt bzw. die Ärztin weiter in meine Profession eingreift, als es sinnvoll ist. Das ist ein Problem, denn ich habe den Pflegeberuf erlernt und ich kann und möchte selbständig bestimmen, was für den Patienten aus pflegerischer Sicht gut ist. In deutschen Krankenhäusern ist es aber überhaupt nicht oder nur in sehr begrenztem Maße üblich, dass Pflegekräfte ein Mitspracherecht bei Behandlungen oder bei Fragen der Betreuung haben. Zu oft geht es vorrangig um medizinische Fragen, die der Arzt anordnet und die Pflege ausführen soll. Wenn wir eine bessere Wertschätzung unseres Berufs erreichen wollen, dann muss das enden, dass mir andere vorgeben, was ich zu tun habe. Natürlich sollten wir mit den Ärzt:innen zusammenarbeiten und das klappt auch vielfach sehr gut. Aber diese Hierarchien braucht es nicht.
In vielen Krankenhäusern ist es auch noch so, dass es nur einen ärztlichen Direktor und einen Verwaltungsdirektor gibt. Wo sind da die Pflegekräfte? Wir sind die größte Berufsgruppe im Krankenhaus. In vielen Kliniken gibt es mittlerweile auch eine Pflegedirektion, die gleichberechtigt ist, aber noch nicht überall. Das muss sich dringend ändern. Dafür müssen wir als Pflegende auch noch selbstbewusster werden. Wir müssen wirklich aufstehen und dafür kämpfen, wir haben das alles viel zu lange mit uns machen lassen.
Sind solche Randthemen, die ja auch sehr wichtig sind, um Selbstbewusstsein im Alltag zu entwickeln, auch Themen, die ihr besprecht?
Ja, das sind Themen. Deswegen gibt es ja dieses Bündnis. Wir haben zwar mit der Forderung nach mehr Personal im Krankenhaus angefangen, aber mittlerweile sind wir viel, viel weiter. Diese feministische Perspektive ist viel breiter und größer geworden, aber auch viele andere Themen. Die sind nicht immer alle gleich präsent, aber wir sind immer bemüht, auch neue Themen in den Blick zu nehmen. Wir haben zum Beispiel auch angefangen, uns enger mit der Klimabewegung zu vernetzen, weil es auch da viele Berührungspunkte gibt.
Wenn ihr auf einer Demo mit 2000 Leuten seid, gibt es da auch mal Pflegende, die ein selbstgebasteltes Schild tragen, auf dem zum Beispiel „Abschaffung von Fremdbestimmung“ oder ähnliches steht?
Ja, die gibt es. Gerade unter jüngeren Kolleg:innen wird das zunehmend wichtiger. Das Hauptthema ist zwar im Moment Entlastung, aber gerade weil es um bessere Arbeitsbedingungen geht, spielen immer auch andere Themen eine Rolle. Für viele Kolleg:innen ist es eine wichtige Frage, wie selbstbewusst und selbständig sie ihren Beruf ausüben können. Wenn ich einen Beruf ausübe, in dem ich immer fremdbestimmt bin, dann habe ich irgendwann die Nase voll.
Ab und an wird auch die Forderung nach einer Rekommunalisierung von Kliniken laut. Nun haben wir es bei Vivantes und der Charité mit kommunalen Kliniken zu tun. Macht die Notwendigkeit, auch hier zu streiken, weil die Arbeitsbedingungen schlecht sind, nicht deutlich, dass ein noch radikalerer Wandel nötig ist – vielleicht in Richtung Care-Revolution – um ein „solidarisches Gesundheitswesen“ zu erkämpfen?
In kommunalen Häusern verdient man schon besser – in Berlin wird man nur bei Vivantes und der Charité nach dem TVöD bezahlt. Wir haben also zwar schlechte Arbeitsbedingungen, aber immer noch bessere als Kolleg:innen in anderen Kliniken. Ich denke schon, dass die Rekommunalisierung der richtige Weg ist. Zumindest sollten alle Kliniken in gemeinnütziger Trägerschaft sein. Private Kliniken gehören abgeschafft, da geht es nur darum, Gewinn zu machen – gerade bei den großen Krankenhausträgern wie Asklepios und Helios.
Klar können wir insgesamt über eine Revolution nachdenken und darüber, ob es überhaupt eine Marktwirtschaft braucht. Aber ich fange jetzt erstmal im Kleinen an, bei unseren Kämpfen.