Keine Anzeichen für Meuterei
Bericht aus dem Maschinenraum
Der folgende Erfahrungsbericht eines Berliner Physiotherapeuten beschreibt den ganz normalen Wahnsinn im Gesundheitssektor. Es geht um unversorgte Kranke, überlastete Gesundheitsarbeiter, die vorenthaltene Extraportion Rum und die verpassten Chancen, gegen diese Zustände zu rebellieren. Dem Verfasser reicht es nicht, lediglich die Pandemie einzudämmen und zum tristen Status Quo zurückzukehren. Anstatt an Politiker und träge Gewerkschaftsapparate zu appellieren, setzt er auf die Selbstorganisierung der Lohnarbeiterinnen und will einen Beitrag dazu leisten, sich über die eigenen Erfahrungen auszutauschen und eine kollektive Praxis zu entwickeln. Nicht von oben, nicht von außen, sondern von unten.
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Ich schreibe euch Anfang 2021 als Physiotherapeut, angestellt in Berlin. Den Großteil meiner Erfahrungen habe ich mit Kolleginnen, Patientinnen und Freunden diskutiert, notiert habe ich es alleine. Ich schreibe viel zu spät, vieles, was ich beschreibe, was wir erlebt haben, war auch am Anfang der Pandemie schon zu erwarten. Wir haben zunächst damit zu tun gehabt, uns ohne irgendeine vernünftige Vorgabe oder Hilfe von oben schlau zu machen, Hilfsmittel und eine pandemiegerechte Arbeitsplanung zu organisieren. Da blieb kaum Zeit. Das ganze Geplapper über Solidarität mit den Alten und dem Pflegepersonal ließ uns wahrscheinlich auch hoffen, dass die da oben irgendetwas zum Schutz der gefährdeten Personengruppen beitragen würden, und es vielleicht doch nicht so schlimm kommen würde.
Heute wissen wir es besser. Die in den Pflegeheimen eingesperrten und von ihren Freundinnen und Angehörigen isolierten Patientinnen wurden schutzlos dem Kontakt mit einem weiterhin gnadenlos überlasteten Personal ausgeliefert, das bis in den Winter nicht getestet wurde. Wir wissen auch, dass die erwartbare Folge von Zehntausenden Toten nicht zu Streiks oder Besetzungen in den Pflegeheimen oder zur Stürmung der kostenlosen Corona- Teststellen für Touristen durch Altenpflegerinnen geführt haben.
Die Solidarität, die sich in meinem Kiez durch Hilfsangebote und mehr direkte Kommunikation über Bedürfnisse und Notwendigkeiten offen ausdrückte, fand in den Betrieben des Gesundheitsektors weiterhin keinen Ausdruck.
Zumindest in meinem Umfeld hat sich Solidarität nicht in offenem Ungehorsam gegenüber den jeweiligen Betriebsleitungen ausgedrückt. Auch in meiner Praxis blieb eine kollektive Diskussion aus. Bei uns ist das aber bestimmt auch dem Umstand geschuldet, dass der Chef ja die gleiche Arbeit macht, sich weitest gehend kollegial verhält und deshalb kaum Reibung entstand.
Jetzt hat die politische Forderung nach einem „solidarischen Lockdown“ und einer Rekommunalisierung des Gesundheitswesens, wie sie die „zerocovid“ - Kampagne vorschlägt, immerhin zu einer Diskussion geführt, an der auch Arbeiterinnen und Patienten teilnehmen.
Dazu möchte ich mit meinen Einschätzungen beitragen, auch, weil sich - bei aller Kontroverse - Befürworterinnen und Kritikerinnen der Kampagne darüber einig sind, dass Lockdown und/oder Vergesellschaftung des Gesundheitssektors „von unten“ kommen müssen.
Zunächst: zum Lockdown von unten hab ich nicht viel zu sagen. Wenn damit selbst organisierte Streiks gemeint sind, bin ich dafür. Jetzt zur Vergesellschaftung. Wie soll das erreicht werden? Klar ist, dass wir von Typen wie Spahn oder Kalayci („Gesundheitssenatorin“) auch in Zukunft nichts zu erwarten haben.
Warum sollten wir an Geschäftemacher und Horrorclowns appellieren, deren ganze Agenda, nämlich die Ausbeutung von Patientinnen und Personal, genau zu dem Alptraum geführt haben, in dem wir jetzt auch noch eine Pandemie abfangen müssen? Wenn Appelle und vernünftige Argumentation gegenüber solchen Strukturen nutzlos sind, landen wir bei der Frage, wie wir eine kollektive Praxis aufbauen können, die darauf abzielt, das Gesundheitswesen in unsere Hände, also die Hände der dort Arbeitenden und der Patientinnen zu bekommen.
Damit sind wir dazu gezwungen, uns um die konkrete Umsetzung selbst zu kümmern. Im Gegensatz zu Politikern können wir uns nicht gegenseitig leere Versprechungen machen und von einem Gesundheitswesen fabulieren, von dem wir alle wissen, dass es so nicht existiert. Wir sind gezwungen, uns ein gemeinsames Bild von real existierenden Prozessen und Strukturen zu machen. Dieses Bild entsteht nicht per Beschluss, sondern in dem wir unsere eigenen Erfahrungen teilen, sie ernst nehmen und zusammen diskutieren. Dazu möchte ich meinen Beitrag leisten. Mir ist dabei klar, dass sich aus meiner Einzelerfahrung keine gemeinsame Strategie ableiten lässt.
Ich arbeite in einer Praxis, im Halbstundentakt, das heißt, dass ich jede Woche vielleicht fünfzigmal für mindestens 30 Minuten sehr nahen Kontakt zu Menschen habe. Das macht etwa 30 Personen wöchentlich. Die meisten von ihnen gelten als gefährdet. Seit Februar trage ich dabei FFP2-Masken, weil es der einzige Schutz für mich und die Patienten ist. Verpflichtet wurden wir dazu erst irgendwann im Winter. Anfangs hatte ich nur eine Maske pro Woche, jetzt kann ich täglich wechseln. Das sind sicher mehr als 1000 Stunden mit FFP2- Maske bisher. Ich habe bisher keinen Cent Prämie bekommen.
Ich arbeite – wie die meisten Physios in Praxen - nicht Vollzeit. Das liegt nicht an unserem tollen Lohn - wir verdienen ungefähr so viel wie ausgebildete Altenpfleger - sondern an der hohen Arbeitsdichte. Mehr schaffst du einfach nicht. Dass ich so viel von Patientinnen erzählen kann, liegt daran, dass wir viel Zeit mit ihnen verbringen. Ein Rezept entspricht sechsmal einer halben Stunde Therapie. Soviel Patientenkontakt hat Fachpersonal sonst kaum. Wir berühren die Patienten, befragen sie zu ihren Lebensrealitäten, versuchen ihnen zu helfen, mit Schmerzen oder Einschränkungen klarzukommen. Dabei kriegen wir viel mit. Ein bisschen wie Frisörinnen mit medizinischem Fachwissen.
Von meinen Patientinnen haben bisher drei diesen Winter nicht überlebt. Sie sind mit -nicht an - Spahn verstorben. Also an - nicht mit - Corona. Sie, und auch jene, die Corona und Spahn überlebten, haben sich alle während des zweiten Lockdowns im Krankenhaus oder bei ambulantem Personal angesteckt. Sie alle lebten bis dahin zu Hause, zählen also nicht zu den zahlreichen Toten, die in den Heimen infiziert wurden. Alle waren sich ihrer Vorerkrankungen bewusst, sehr vorsichtig und auf Vermeidung von Kontakten bedacht.
Mir selbst ist sowohl die Infektion als auch deren Weitergabe erspart geblieben. Vielleicht auch, weil ich mich anfangs geweigert habe, neben meinen stark gefährdeten Patientinnen noch sozial mobile Patientinnen zu behandeln. Weil ich Hausbesuche organisiert habe, damit niemand gezwungen ist, die öffentlichen Verkehrsmittel zu benutzen und in eine stark frequentierte Praxis zu kommen. Oder, weil ich auf FFP2–Masken bestanden habe. Als dann die erste richtige Welle kam, habe ich mich geweigert, gefährdete Patienten ungetestet zu behandeln. Jetzt habe ich mit einem Test pro Woche wenigstens ein kurzes Fenster mit geringerem Risiko, Patientinnen anzustecken. Am liebsten würde ich mich zweimal die Woche testen, aber die Finanzierung der Tests ist unklar. Ich weiß, dass auch nur ein Test pro Woche im Gesundheitswesen schon ein Privileg darstellt. Lediglich die Betreiber von Pflegeheimen sind Mitte Dezember endlich zum Testen ihres Personals gezwungen worden. In Therapiepraxen, Reha-Einrichtungen und Krankenhäusern lassen die Gesundheitsbehörden den Unternehmen weiter freie Hand.
Einer meiner Patienten, ein agiler Achtzigjähriger, hat seine Corona-Infektion bettlägerig zu Hause überlebt. Gepflegt wurde er währenddessen von seiner Frau, die ihre Infektion etwas besser überstanden hat. Beide haben als schwer Vorerkrankte mit zum Teil langwierigen Klinikaufenthalten große Angst vor Krankenhäusern. Auch diese Infektion kam über das Gesundheitspersonal. Unsere Krankenhäuser sind schon in normalen Zeiten gefährliche Orte für geschwächte Personen. Viele erfahrene Patientinnen meiden Krankenhäuser deshalb wie die Pest. Es besteht aber keine Option auf andere Versorgung. Der Hausarzt kommt meist nicht nach Hause. Wer schon mal versucht hat, in Berlin ambulante Pflege für jemanden zu organisieren, kann sich vorstellen, wie das zu Covid-Zeiten für Patienten in Quarantäne aussieht.
Die lebensgefährdende Embolie im Bein dieses Patienten wurde also bemerkt, weil seine Frau mich kurz nach Ende ihrer Quarantäne überredete, unbedingt nach ihrem Mann zu schauen. Das war kurz vor Weihnachten. Ich pfiff aus dem letzten Loch, lehnte zunächst ab. Die Hartnäckigkeit seiner Frau und meine mangelnde professionelle Distanz haben ihm das Leben gerettet. Ein paar Stunden nach meinem Hausbesuch lag er schon auf der Intensivstation. Gut fürs Karma, könntet ihr jetzt sagen. Mag sein, aber ich denke dann an die ganzen anderen Leute, die da, 10 Monate nach dem Ausbruch der Pandemie, unversorgt zu Hause herumliegen, weil niemand etwas organisiert hat. Und mir wird schlecht.
Diese beiden hatten bis zu ihrer Covid-Erkrankung keine ambulante Pflege nötig. Das erhöhte ihren Schutz vor Corona enorm. Denn alle Patienten, die zu Hause von Pflegediensten versorgt werden, laufen Gefahr, täglich von wechselnden Personen versorgt zu werden. Dadurch haben einige meiner verletzlichsten Patientinnen die meisten Kontakte. Und zwar mit Personal, das schon von Berufs wegen mit sehr vielen Menschen zu tun hat. Und ebenfalls bis in den Winter nicht getestet wurde. Der häufige, meist unangekündigte Wechsel des Personals in der Pflege war auch vor Corona schon ein Horror für Patientinnen. Es klingelt kurz, irgendwer rennt schnell in deine Wohnung, zieht dir Kompressionsstrümpfe an und nimmt vielleicht noch weitere Handlungen an dir vor, und rennt wieder raus. Abends vielleicht das Gleiche. Noch ein Kontakt. Dagegen gab es früher Modelle mit Bezugspflege, wo eine Person für einen festen Kreis von Patientinnen für alles zuständig ist, man sich kennt und verbindlich arbeiten kann. Hört sich - gerade in Corona-Zeiten - vernünftig an, nicht wahr? Ich kenne aber niemanden, der so versorgt wird. Werden ambulant gepflegte Patienten dann infiziert, müssen sie zur Versorgung ins Krankenhaus, weil der Pflegedienst nicht mehr kommen kann.
Eine mehr mit Corona im überlasteten Krankenhaus. Ich fange jetzt nicht mehr von der hochbetagten Patientin an, die aus Angst vor Corona, mit frisch gebrochenem Becken versuchte zu Hause klar zu kommen. Mit Hilfe ihrer - ebenfalls betagten - Freundinnen. Um dann wegen Komplikationen doch ins Krankenhaus eingeliefert und dort infiziert zu werden. Und an Corona zu sterben. Ich erspare uns die traurigen Details.
Wie gesagt, dieser Text entsteht zu spät. Die Opfer des Corona–Winters konnten wir nicht schützen. Was wir geleistet haben, war im Nachhinein das Gleiche, wie vor der Coronakrise: die heldenhafte Crew riskiert ihr eigenes Leben, dazu das der Patientinnen und verzichtet außerdem gleichmütig auf die Extraration Rum. Dass wir alle eine Prämie kriegen, hat ohnehin keine erwartet, oder? Der Rest der Arbeiterinnen denkt sich, wenn die da mitmachen, wird es schon seine Richtigkeit haben. Wir sind ja sehr angesehen, unsere faktische Zustimmung bedeutet was für die meisten Leute. „Ist doch eigentlich ganz gut, unser Gesundheitssystem, oder?“ „Wahrscheinlich eines der besten, nicht wahr?“ „Ähm, ich hoffe nicht.“
Damit bleibt dann alles, wie es ist.
Durch uns können die Kapitäne beruhigt in der Offiziersmesse oder in ihrer Villa im Grunewald sitzen, ab und zu mal Masken (viel zu spät und sauteuer), Intensivbetten (ohne Personal), Tests (für Touristinnen, Fleischfabriken und Fußballer, aber nicht für Pflegepersonal) oder Impfstoffe kaufen und die Verantwortung für die Toten den Partykids in der Hasenheide in die Glitzerschuhe schieben. Weit und breit keine Anzeichen für Meuterei.
Ein paar Tage krank haben es mir ermöglicht, das hier endlich mal zu Ende zu schreiben. Stand Ende Februar 2021. Ich schreibe euch - viel zu spät - weil ich mich selber letztes Jahr über jeden Bericht von unten, von Erzieherinnen, Patienten, Altenpflegern und Lehrerinnen gefreut habe. Diese Berichte haben mir geholfen, meinen eigenen Erfahrungen zu trauen und nicht durchzudrehen. Ich schreibe euch, weil ich gerne mit euch gestreikt, Pflegeheime besetzt und Teststellen gestürmt hätte.
Durch Impfungen und allgemein zugängliche Tests werden sich die Bedingungen für uns absehbar ändern. Niemand kann jetzt sagen, was das bedeutet.