Über das Scheitern der staatsaffinen Linken in Chile
Die Euphorie in der Linken war gross, als Gabriel Boric im Dezember 2021 die Präsidentschaftswahl gewann. Der «Marxist» und ehemalige Student:innensprecher, der 2011 von den Medien als «radikaler Systemgegner» bezeichnet wurde, galt für viele als Hoffnungsträger im Kampf gegen den Kapitalismus neoliberaler Prägung. Dass Boric und das linke Parteienbündnis «Frente Amplio» 2019 repressive Gesetzesverschärfungen unterstützt hatten, die darauf ausgerichtet waren, soziale Proteste zu kriminalisieren, ging im Freudentaumel unter. Linksreformist:innen aller Coleur witterten eine neue linke Ära und wollten in Boric und der – mittlerweile gescheiterten – neuen Verfassung partout eine Kontinuität zur Revolte von 2019 sehen. Wer das Wort Konterrevolution in den Mund nahm und darauf aufmerksam machte, dass die soziale Wut und die räteähnlichen Strukturen, die sich im Zuge der Revolte im ganzen Land herausgebildet hatten, durch die Linke selbst in institutionelle Bahnen gelenkt und damit aufgelöst wurden, galt als weltfremde Maximalist:in. Der herrschaftsstabilisierende politische Pragmatismus avancierte sogar bis weit in linksradikale und anarchistische Kreise zur ideologischen Maxime einer Linken, die eine Niederlage zur neuen Hoffnung deklarierte und Geschichtsvergessenheit zur Tugend erklärte. Der Klassenkampf, die Autonomie und die Selbstorganisation des Proletariats wurden nicht zum ersten Mal im Namen des «kleineren Übels» zurückgedrängt und die Demokratie nicht als Gewaltherrschaft der Welt der Waren, sondern als Vehikel des sozialen Wandels verstanden. Wenig beeindruckt von der Unmöglichkeit, tiefgreifende strukturelle Veränderungen auf dem politischen Terrain der bürgerlichen Demokratie zu erreichen, fokussierte sich die Linke darauf, den Urnengang zur antifaschistischen Handlung hochzustilisieren. Hatte sich ein Grossteil der Bevölkerung noch vor zwei Jahren massenhaft die Strassen genommen und eine unerwartete soziale Explosion in Gang gesetzt, die die Regierung Piñeras ins Wanken gebracht hatte, galt nun die demokratische Volksfront gegen den rechtsextremen Präsidentschaftskandidat Kast als kämpferische Handlung.
Darüber zu sinnieren, was eine Wahl Kasts für reale Auswirkungen auf die sozialen Verhältnisse gehabt hätte, würde den Rahmen dieser kurzen Einleitung sprengen und käme einer Spekulation gleich. Tatsache ist, dass es unter der linken Regierung bis jetzt nicht nur zu keinen markanten sozialen Veränderungen gekommen ist, sondern dass sich die Repression teilweise sogar intensiviert hat. Die jüngsten und exorbitanten Gefängnisstrafen, die gegen Francisco Solar und Héctor Llaitul verhängt wurden, sind nur die Spitze des Eisbergs.
Der Anarchist Francisco Solar wurde letztes Jahr zu 86 Jahren Haft verurteilt – einer der momentan weltweit höchsten Gefängnisstrafen gegen politische Gefangene. Solar wird beschuldigt, zusammen mit seiner Expartnerin Mónica Caballero, deren Haftstrafe 12 Jahre beträgt, zwischen 2019 und 2020 drei Sprengstoffanschläge ausgeführt zu haben. Mehrere Polizist:innen wurden zwar bei den Angriffen leicht verletzt, doch getötet wurde niemand. Dennoch erhielt er eine exemplarische und extrem hohe Strafe.
Héctor Llaitul hingegen ist einer der bekanntesten Vertreter der Mapuche-Bewegung und Sprecher der Coordinadora Arauco-Malleco (CAM). Die CAM ist eine Mapuche-Gruppe, die in den südchilenischen Regionen Biobío und Araucanía mit militanten Mitteln gegen Forstbetriebe und den Staat kämpft. Sie versteht ihren Widerstand als Weiterführung eines seit Jahrhunderten andauernden antikolonialen Kampfes der Mapuche und fordert die Rückgabe ihrer Ländereien und Unabhängigkeit vom chilenischen Staat und seinen Institutionen. Llaitul wurde am 7. Mai dieses Jahres zu 23 Jahren Haft verurteilt: Fünf Jahre wegen Diebstahls, zwei wegen Angriffe auf Behörden und für die restlichen 15 Jahre rekurrierte die Staatsanwaltschaft auf das sogenannte Gesetz zur staatlichen Sicherheit und bezichtigte Llaitul der «Anstiftung zur Gewalt». De facto bedeutet dies, dass der Grossteil der Haftstrafe aufgrund der politischen Einstellung und der Äusserungen Llaituls ausgesprochen wurde.
Das Gesetz zur staatlichen Sicherheit wurde Ende der 1950er Jahren eingeführt und diente der Kriminalisierung sozialer Bewegungen. Es galt von Anfang an als «anti-kommunistisches» und «anti-subversives» Gesetz und wurde vor allem während der Pinochet-Diktatur ausgedehnt und gezielt eingesetzt, um gegen politische Gegner:innen vorzugehen. Dass die Regierung mit solcher Vehemenz gegen Llaitul vorgeht, dürfte darauf zurückzuführen sein, dass der Staat ein Interesse daran hat, die Interessen der Forstindustrie zu schützen. Laut einer 2021 publizierten Studie der Bibliothek des Nationalkongresses von Chile liegen ca. 70% der Forstplantagen zwischen der Regionen Bio Bio und Los Ríos und die Forstindustrie ist nach dem Bergbau der zweitgrösste Exportsektor des Landes.1
Die Fälle von Solar und Llaitul sind zwar nicht die einzigen, aber momentan die augenfälligsten Beispiele des Vorgehens der Regierung, was die Repression angeht. Hinzu kommen weitere soziale Probleme, mit denen sich die Regierung konfrontiert sieht und jede Menge Versprechen, die – wie vorauszusehen war – nicht eingehalten wurden. Die anti-autoritär kommunistische Gruppe «Vamos Hacia la Vida» (VHV) aus Santiago geht im folgenden Text auf all diese Themen ein. Sie kritisiert den aktuellen Kurs der Regierung und präsentiert eine Zusammenfassung des Scheiterns der staatsaffinen Linken. Die vorliegenden Einschätzungen der Genoss:innen von VHV wurden im Mai 2024 geschrieben und sind eine Aktualisierung vergangener Interviews im deutschsprachigen Raum. Die Genoss:innen haben bereits zwei Mal ausführlich ihre Analysen und Positionen rund um die Revolte, die linke Regierung und die Bestrebungen nach einer neuen Verfassung dargelegt. Das erste Interview mit ihnen wurde 2021 und das zweite 2023 geführt. Wer eine detailliertere Darlegung ihrer Einschätzungen sucht, findet in diesen Interviews weiterführende Informationen. Der vorliegende Text hingegen ist kompakter und fasst die wichtigsten Punkte ihrer Einschätzungen und Kritik zusammen.
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CHILE: ANHALTENDE REPRESSION DURCH DEN LINKEN FLÜGEL DES KAPITALS
Die Regierung von Gabriel Boric
Gabriel Boric war bereits vor seiner Präsidentschaft in der Linken Chiles bekannt. Er wurde durch die Schüler- und Student:innenbewegung von 20112 politisiert, avancierte zum Student:innensprecher und war eine der Personen, die zur Demobilisierung der Bewegung beitrugen. 10 Jahre später, am 19. Dezember 2021, gewann er im zweiten Wahlgang mit grossem Vorsprung vor seinem Gegenkandidaten José Antonio Kast – einem rechtsextremen, antikommunistischen Pinochetisten – die Präsidentschaftswahlen. Dieser Erfolg wurde von Demokrat:innen und Linken gleichermassen als "Triumph über den Faschismus an der Wahlurne" gefeiert. Sie verstanden Borics Wahlsieg als Fortführung des Aufstands vom 18. Oktober 2019 und als Garant für die Etablierung einer neuen Verfassung. Nach dem Wahlsieg war die Stimmung vollkommen anders als nach dem ersten Wahlgang, als dieselben Akteur:innen sich lauthals über die Nichtwähler:innen beschwerten: Phrasen wie "wer nicht wählen geht, spielt der Rechten in die Hände" und "Chile ist doch nicht aufgewacht" waren allgegenwärtig, zumal die Angst vor einem Wahlsieg Kasts weit verbreitet war. Es war letzten Endes genau diese Angst, die zum Wahlsieg Borics führte.
Im Rahmen des Wahlkampfes richteten beide Kandidaten ihre Diskurse auf die politische Mitte. Boric suchte Rückendeckung der alten Concertación-Regierung3 (Christdemokratie, Sozialistische Partei usw.). Kast hingegen war darum bemüht, an Frauenrechte zu appellieren, um sich von einigen seiner Anhänger zu distanzieren, die durch frauenfeindliche und reaktionäre Positionen aufgefallen waren und seine Kampagne unterstützt hatten. Dieser "Pseudokampf" zwischen der Linken und der Rechten des Kapitals mündete darin, dass Borics Wahlkampagne von LGTBIQ+ Communitys, institutionellen Feministinnen, antifaschistischen Linken und Anti-Kast-Wähler:innen "kritisch unterstützt" wurde. Das heisst, dass die drohende Gefahr einer Karikatur des Faschismus dazu führte, dass Boric seine Gegner:innen zu seinen Gunsten mobilisieren konnte. Es dürfte ihm dabei bewusst gewesen sein, dass seine Wahl den revolutionären Zyklus und die revolutionäre Perspektive der Oktober-Erfahrung abschliessen oder um eine beträchtliche Zeit verschieben können würde.
Es muss festgehalten werden, dass linke Gruppen dafür zuständig waren, dass die Strassenproteste massiv zurückgingen. Die Ausrede dafür lautete immer gleich: Die Regierung von Boric und der verfassungsgebende Prozess dürfen nicht in "ein schlechtes Licht gerückt werden", damit man nicht "den Rechten in die Hände spielt". Zugleich waren auch linke Gruppen für das Verschwinden der autonomen Strukturen der Klasse (die sogenannten Territorialversammlungen4) verantwortlich, wodurch jede Diskussion, die sich der Wahlagenda oder der Verfassungsdebatte entzog, isoliert und verdrängt wurde. Im Allgemeinen wurde die Linke, auch die, die sich als revolutionär definiert, wie auch breite Teile der anarchistischen Bewegung, widerstandslos und bereitwillig in eine demokratische Sackgasse geführt. Die Schlinge der Demokratie bedurfte keinerlei Maskeraden und war von Anfang an durchschaubar. Anhand der Parteinahme zur Aufrechterhaltung der kapitalistischen Verhältnisse hat die Linke des Kapitals wieder mal ihre historische Rolle verdeutlicht. Die theoretische Begrenztheit vieler Genoss:innen trat in aller Klarheit hervor, genauso wie die Unfähigkeit, Lehren aus der Geschichte zu ziehen.
Die Revolte eröffnete einen Kampfzyklus, der sich heute mit einer konterrevolutionären Welle konfrontiert sieht. Nichtsdestotrotz ist der Zyklus noch nicht vollständig abgeschlossen, vor allem wenn man bedenkt, dass die beeindruckende chilenische Revolte Ausdruck einer allgemeinen und globalen Krise war.
Fortführung und Verstärkung der Repression
Es hat nicht lange gedauert, bis deutlich wurde, dass die Regierung von Boric sich durch eine brutale Fortführung des Kurses der Vorgängerregierung kennzeichnet. Zum einen gibt es eine starke Repression, zum anderen hat die Regierung eine Politik durchgesetzt, die die kapitalistische Umstrukturierung zu Lasten unserer ohnehin schon prekären Lebensbedingungen vorantreibt. Das überrascht uns nicht, denn wir haben nicht vergessen, dass Boric eine Schlüsselfigur bei der Umsetzung des konterrevolutionären "Abkommens für den sozialen Frieden und die neue Verfassung"5 war. Das Abkommen wurde am 15. November 2019 unterzeichnet, um die Kraft der Revolte zu zähmen, in institutionelle Bahnen zu lenken und einen Prozess der kapitalistischen Restauration einzuleiten, dessen zentrale Achse die Ausarbeitung einer neuen Verfassung war. Hinzu kommt, dass im April 2023 das sogennante Nain-Retamal-Gesetz6 eingeführt wurde, das die Polizei (Carabineros, Kriminalpolizei und Gendarmerie7) schützt und weiter stärkt. In der Praxis bedeutet das Gesetz, dass der vorschnelle Gebrauch der Schusswaffe (auf spanisch "gatillo fácil" genannt) legalisiert wurde, was bereits mehrere Todesopfer gefordert hat. Darüber hinaus wurde Ende November 2023 die "Ley Antitomas" eingeführt, ein Gesetz gegen Besetzungen, das die "Aneignung und illegale Besetzung von Immobilien" mit Gefängnisstrafen sanktioniert. Dadurch wird die Armut und der damit verbundene fehlende Zugang zu Wohnraum kriminalisiert. Die Boric-Regierung stellt sich auf die Seite der Immobilienspekulation, der Gentrifizierung und des sakrosankten Rechts auf Privateigentum: Besetzte Häuser, Sozialzentren, Grundstückbesetzungen von Bewohner:innen aus den Armenvierteln und vom Volk der Mapuche zurückgewonnenes Land wurden bereits geräumt. Als ob dies noch nicht genug wäre, kommt die bedingungslose Verteidigung des obersten Generaldirektors der Polizei, Ricardo Yáñez, seitens der Regierung hinzu. Der Prozess gegen Yáñez wurde bereits mehrfach verschoben. Die chilenische Staatsanwaltschaft möchte ihn wegen seiner Beteiligung an den Menschenrechtsverletzungen während des Aufstands zur Rechenschaft ziehen.
Ausserdem werden weiterhin repressive Massnahmen wie das "Anti-Sabotage- und Anti-Barrikaden-Gesetz" (Gesetz 21. 208), wie auch das Staatssicherheitsgesetz gezielt angewendet. Zum Beispiel gegen den Sprecher des Mapuche-Zusammenschlusses "Coordinadora de Comunidades en Conflicto Arauco Malleco-CAM", Héctor Llaitul, der bereits in einem politischen Prozess für schuldig befunden wurde und dessen Urteil am 7. Mai verkündet wird. Ihm drohen bis zu 25 Jahre Gefängnis. Auch gegen viele andere Weichafes8 der CAM und anderer Organisationen, die zwischen 2022-2024 inhaftiert wurden, soll das Gesetz angewendet werden. Genoss:innen aus dem anarchistischen Milieu sehen sich ebenfalls mit dieser selektiven Repression konfrontiert, denken wir etwa an den Fall des Sprengstoffanschlags auf die Generaldirektion der Gendarmerie9 und an den Brandanschlag auf die Fleischverpackungsfabrik Carnes Susaron10. Doch auch gegen Demonstrant:innen, die im Rahmen von Strassenkämpfen verhaftet wurden, wird das Staatssicherheitsgesetz angewendet. Ein paradigmatischer Fall, der das repressive Klima, in dem wir leben, zum Ausdruck bringt, waren die langen und exemplarischen Gefängnisstrafen, die die Anarchist:innen Francisco Solar (86 Jahre Gefängnis) und Mónica Caballero (12 Jahre Gefängnis) für Sprengstoffanschläge erhielten, bei denen niemand getötet wurde.
Die autonome Mapuche-Bewegung (Coordinadora Arauco Malleco-CAM, Resistencia Mapuche Lafkenche-RML, Weichan Auka Mapu-WAM, Liberación Nacional Mapuche, u.a.) setzt ihrerseits die Enteignung von Ländereien und die Sabotage der kapitalistischen Maschinerie und der Infrastruktur fast täglich fort, trotz des Ausnahmezustands, der in der so genannten "südlichen Makrozone" permanent herrscht: Das Militär patrouilliert in der Gegend und führt Kontrollen auf Autobahnen und Strassen durch, um die "strategische Infrastruktur" zu schützen. Die Repression hält mehr als fünfzig politische Mapuche-Gefangene hinter Gittern.
Zugleich ist der herrschende Diskurs der "eisernen Faust" gegen Kriminalität und "illegale" Migration kaum von der reaktionärsten Ultrarechten zu unterscheiden. "Entweder sie legalisieren ihren Status oder sie gehen" war Borics Ultimatum an die Migrant:innen, die sich ohne gültige Aufenthaltspapiere in der chilenischen Region aufhalten. Diese Drohung wurde ergänzt durch den Bau von Gräben an der Grenze zu Bolivien, um "die Migrationskrise einzudämmen". "Wir werden wie Hunde Jagd auf das Verbrechen machen", erklärte Boric, während die Regierung bereits die Umsetzung "mexikanischer Strategien" – mit allem, was dazu gehört – zur Bekämpfung der wachsenden Kriminalität prüft. Hinzu kommt die lächerliche Polizeireform, die sich auf eine Änderung der Uniform und eine Verringerung der Einstellungsvoraussetzungen beschränkt. Menschen von kleinerer Statur, mit Tätowierungen, Plattfüssen oder Karies können nun Polizist:innen werden. Die Regierung hat in allerlei Hinsicht die Polizei voll und ganz unterstützt, so dass Hunderte von Fällen von Polizeigewalt während des Aufstands, darunter Folter, sexuelle Übergriffe und Mord, völlig ungestraft blieben. Bisher wurden 54 Gesetze im Zusammenhang mit "Fragen der öffentlichen Sicherheit" verabschiedet, viel mehr als in jeder vorherigen Regierung. Die Gesetze erhöhen die Strafen für Verbrechen und bieten den Repressionskräften rechtlichen Schutz, damit sie praktisch keine Konsequenzen zu befürchten haben.
Borics Wahlversprechen, darunter viele strukturelle Reformen, wurden kaum umgesetzt und es gibt keine Anzeichen dafür, dass sie in naher Zukunft verwirklicht werden. Die Regierungskoalition setzte ihre ganze Hoffnung auf die Wahlen vom 4. September 2022 als über eine neue Verfassung abgestimmt wurde. Sie erhoffte, nach einem allfälligen Wahlsieg "die grossen Umwälzungen durchführen zu können, die Chile braucht". Doch dazu kam es nie. Wie bereits bekannt, erlitt die Verfassungsreform eine klare Niederlage. Die Faktoren, die zu diesem Scheitern führten, waren zahlreich und zu komplex, um sie auf die Schnelle zusammenzufassen, doch folgende Aspekte sind hervorzuheben: die mangelnde Eindeutigkeit und die abstrakten Formulierungen des Entwurfs, die damals hohe Inflation (12,8 %), die Einführung der Wahlpflicht mit der Androhung eines sehr hohen Bussgeldes (fast ein halber Mindestlohn), die Umsetzung der Sparpolitik und die Verhinderung der vorzeitigen Auszahlung von Renteneinlagen.11 Die Ablehnung des Verfassungsentwurfs war in dieser Hinsicht ein Strafvotum gegen die Regierung. Das einzig Positive, das der Präsident tat, war vielleicht die Begnadigung Ende 2022 von 12 Gefangenen des Aufstands und einem ehemaligen FPMR-Mitglied12, deas ohne Beweise eines Banküberfalls beschuldigt wurde. Doch selbst diese Begnadigungen sind angesichts aller anderen politischen Massnahmen der Regierung völlig unzureichend.
Denken wir etwa an die Annahme des Abkommens für eine Transpazifische Partnerschaft (TPP11), das von verschiedenen sozialen Organisationen abgelehnt wird, weil dieeses extraktivistische Geschäftsmodell u.a. mit zerstörerischen Auswirkungen einhergeht, die Nutzung von Saatgut privatisiert und die Arbeitsrechte aushöhlt. Boric selbst war von einigen Jahren Gegner des Abkommens. Ein weiteres Beispiel, das den Kurs der linken Regierung verdeutlicht, ist das Projekt der "Rentenreform", das die Grundlagen des zerrütteten und erschöpften Rentensystems namens AFP [Administration de Fondos de Pensiones, privates Rentensystem. (Anm. d. Ü.)] in keiner Weise in Frage stellt. Die AFP zahlt Hungerrenten aus und zudem finanzieren die Arbeiter:innen durch ihre Beitragszahlungen grosse Unternehmensgruppen. Das private Rentensystem ähnelt nicht einmal annähernd einem "Sozialversicherungssystem", wie es in den westlichen Ländern besteht.
Im März 2023 legte die Regierung Boric dem Kongress ihr Projekt zur Gründung der Nationalen Lithiumgesellschaft („ENL“) vor, die „zum Produktionsprozess der Rohstoffe beitragen und nachhaltigere Fördermethoden entwickeln“ sollte. Das ursprüngliche Projekt zur staatlichen Ausbeutung des Bodenschatzes und zur Gewinnerzielung mündete jedoch durch eine Vereinbarung zwischen dem staatlichen Kupferbergbau-Konzern CODELCO (51 %) und dem Privatunternehmen SQM13 in einer verdeckten Privatisierung. Die Einbeziehung von Privatunternehmen stellt eine stille Privatisierung einer Ressource dar, die nach der geltenden Verfassung verstaatlicht sein sollte. Die staatlich-private Partnerschaft steht im Widerspruch zum Wahlversprechen, ein zu 100 % staatliches Unternehmen zu errichten.
Mit dem letzten Plebiszit schloss der verfassungsgebende Prozess seinen Zyklus; die Pinochet-Guzmán-Verfassung bleibt in Kraft. Die Linke rief bei der erneuten Abstimmung über eine Verfassungsänderung vom 17. Dezember 2023 dazu auf, die Verfassung beizubehalten, da im Gegensatz zum vorgelegten Entwurf vom September 2022 der letzte Vorschlag für die Verfassungsreform stark von den Republikaner:innen und der konservativen Rechten beeinflusst war. All dies deutet auf ein durchschlagendes Scheitern des Reformismus hin, das von der Rechten noch nicht in vollem Umfang genutzt wurde, da ihr Vorschlag ebenfalls gescheitert ist und sie intern gespalten sind. Kurzum, heute ist eine noch stärkere Delegitimierung der Politik festzustellen, die Leute haben Wahlveranstaltungen und die Wahlpflicht satt.
Zukunftsperspektiven
Wir sind der Meinung, dass inmitten dieses Schlamassels die revolutionären Minderheiten mehrere dringende Aufgaben zu erfüllen haben. Die erste und offensichtlichste besteht zum einen darin, theoretische Debatten zu vertiefen, um die Zeit, in der wir leben, besser zu begreifen und solidarische Diskussionen zwischen verschiedenen Gruppen und Zusammenschlüssen im radikalen Milieu zu fördern. Es ist dennoch auch wichtig, diese Debatten nach aussen zu tragen. Zum anderen, und damit zusammenhängend, ist es unerlässlich, in Bewegung zu bleiben und proletarische Assoziationen und Netzwerke zu errichten, die in kontinuierlichem Austausch sind und die allmählich die Zersplitterung und das Sektierertum überwinden, die heutzutage vorherrschen.
Zudem denken wir, dass die aktiven Minderheiten als Vermittlungsinstanzen zwischen den verschiedenen Kämpfen fungieren können, indem sie in diesen stets antagonistische Positionen vertreten, durch die die kapitalistischen Verhältnisse und die damit verbundenen Trennungen überwunden werden können. Es ist wichtig in diesen Kämpfen den kommunistischen und anarchistischen Horizont als einzige realistische Möglichkeit für die Zukunft zu propagieren. Wir gehen ausserdem davon aus, dass es inmitten eines multidimensionalen Krisenszenarios wichtig ist, die proletarische Selbstorganisierung zu fördern und zu unterstützen, die auf die Subsistenz und auf das Überleben gerichtet ist (solidarische Küchen, Gemeinschaftsgärten, kollektive Gesundheits- und Carestrukturen, usw.). Die kollektive Organisierung der sozialen Reproduktion kann zur Keimzelle des kommunistischen Potenzials werden.
Abschliessend wollen wir auch festhalten, dass es aus unserer Sicht dringend notwendig ist, innerhalb unserer Klasse die Debatte über die „Übernahme der Produktionsmittel“ und ihre Vergemeinschaftung wieder aufzunehmen. In Anbetracht der Tatsache, dass wir in einer Welt mit komplexer Arbeitsteilung leben, glauben wir, dass es immer noch entscheidend ist, strategische Sektoren zu kommunisieren, die für die soziale Reproduktion unerlässlich sind (Nahrungsmittel, Energie, Telekommunikation, Gesundheit und Wohnen). Diese Kollektivierung kann sich auf lokaler/regionaler Ebene in einem längeren Prozess des internationalen Kampfes entwickeln.
Dieser Artikel erschien erstmals im ajour-Magazin mit einer Einleitung von M. Lautréamont.
- 1. https://obtienearchivo.bcn.cl/obtienearchivo?id=repositorio/10221/32419…
- 2. Die Student:innenbewegung war zu jenem Zeitpunkt die grösste soziale Bewegung seit der Rückkehr zur Demokratie 1990, sie richtete sich gegen die hohen Schul- und Studiengebühren und forderte freie Bildung für alle und eine umfassende Reform des Bildungssystems. Gewerkschaften, Umweltaktivist:innen und weite Teile der Gesellschaft solidarisierten sich mit den Protesten. (Anm. d. Ü.)
- 3. Das Mitte-links-Bündnis stellte zwischen 1990 und 2010 die Regierung.
- 4. Hunderte dieser räteähnlichen Strukturen verbreiteten sich im Verlaufe der Revolte 2019 im ganzen Land. Sie dürfen nicht mit den sogenannten «Cabildos» verwechselt werden. Letztere waren offene Versammlungen, in denen hauptsächlich für die neue Verfassung mobilisiert wurde. Die Asambleas Territoriales hingegen waren autonome Strukturen des Kampfes, sie waren Koordinations- und Organisationsinstanzen, die jedoch leider nicht auf die Produktion übergriffen. Siehe die Übersetzungen der Gruppe Eiszeit, die während der Revolte publiziert wurden: https://kosmoprolet.org/de/territoriale-vollversammlungen-autonome-stru…
- 5. Um die Revolte einzudämmen wurden neue Gesetze und Strafbestände erschaffen und das Strafmass bereits bestehender Tatbestände erhöht. Die Repressionsmassnahmen wurden vom linken Bündnis «Frente Amplio» mitgetragen.
- 6. Das Gesetz wurde nach zwei Polizisten benannt, die zwischen 2020 und 2022 ermordet wurden.
- 7. Die Gendarmerie ist in Chile zuständig für die Ordnung in den Gefängnissen.
- 8. Die Mapuche nennen in ihrer Sprache Mapudungun ihre Krieger:innen «Weichafe».
- 9. Die Bombe explodierte in Santiago am 24. Dezember 2021. Die anarchistische Gruppe «Schwarze Rache» bekannte sich zum Anschlag.
- 10. Der Brandanschlag fand im Jahr 2022 statt.
- 11. Um die durch die Pandemie verursachte Prekarisierung einzudämmen, hatte die Vorgängerregierung eine mehrfache vorzeitige Auszahlung eines bestimmten Rentenbetrags bewilligt.
- 12. Der Frente Patriótico Manuel Rodríguez (Patriotische Front Manuel Rodríguez) war eine linke Guerillaorganisation, die 1983 von der Kommunistischen Partei Chiles gegründet wurde, um Pinochet zu stürzen.
- 13. Der Eigentümer des Chemie- und Bergbau-Unternehmens ist Julio Ponce Lerou, der ehemalige Schwiegersohn Pinochets, der in Korruptionsfälle, Finanzskandale und illegale Politikfinanzierung verwickelt war.