Gelbwesten aller Länder...
Die Monatszeitung Le Monde Diplomatique prognostiziert in ihrer Juni-Ausgabe, dass die staatlichen Maßnahmen der europäischen Länder wohl nicht in der Lage sein werden, die hohen Brennstoffpreise auf Dauer für die Endkonsumentinnen niedrig zu halten, um zu „verhindern […], dass europaweit Gelbwesten-Prosteste ausbrechen“.1 Blickt man auf die momentane Situation braucht man in der Tat kaum hellseherische Fähigkeiten, um große Protestbewegungen zu antizipieren. Die Gleichzeitigkeit von Corona-Pandemie und Ukrainekrieg, zwei der wohl schwersten Krisen der Nachkriegsordnung, deren Ende zugleich noch in keinster Weise absehbar ist, machen derartige Prognosen plausibel.
Die Rohstoffpreise sind momentan auf dem besten Weg den höchsten Anstieg seit den 1970er Jahren hinzulegen. So sind die Weizenpreise durch den Ukrainekrieg seit Februar um 60% gestiegen. Die Lebensmittelpreise sind bereits höher als während der globalen Nahrungsmittelkrise von 2008, die ca. 155 Millionen Menschen in Armut und Elend stürzte. Ein S+P Report vom Mai stellte zudem fest, dass der Schock der Lebensmittelversorgung wohl noch bis nach 2024 spürbar sein wird. Dieser Schock wird am härtesten die lebensmittelimportierenden Länder wie z.B. Marokko, Tadschikistan, Ägypten oder Mosambique treffen, er wird jedoch ebenso die schmalen Budgets des Proletariats in den westlichen Ländern noch weiter ausdünnen. Eine ähnlich düstere Prognose lässt sich hinsichtlich der Energiepreise stellen. Anfang Mai war der europäische Gaspreis sechs mal höher als zur selben Zeit im vorangegangenen Jahr. Die Abkehr von russischem Gas, die mit einer Umstellung auf andere Anbieter wie auch zu nicht unwesentlichen Teilen auf die Form des LNG Gases einhergeht, lässt für die nächsten Jahren kaum schnelle Linderung vermuten. Einerseits haben Länder wie Aserbaidschan, Quatar oder Ägypten bereits Langzeitverträge mit anderen Importeuren, andererseits ist das LNG Gas, u.a. transportbedingt, massiven Preisschwankungen unterworfen. Die Preisanstiege in diesen Schlüsselbereichen haben sich schnell zu einem allgemeinen Preisanstieg ausgeweitet. Die jährliche Verbraucherpreisinflation lag zuletzt in den USA bei 7,9%, in der Eurozone bei 5,9%, in Indien bei 6,1%, in Brasilien bei 10,5%, in Argentinien bei 52% und in der Türkei bei 54%.
Blickt man auf das letzte Jahrzehnt, so lässt sich feststellen, dass es zumeist entweder ein Anstieg von Nahrungsmittel- oder Energiepreisen war, der größere Aufstände lostrat. Auf die Verteuerung der Grundnahrungsmittel ab 2007 folgten Aufstände u.a. in Indien, Mozambique und Haiti. Der massive Anstieg der Nahrungsmittelpreis ab 2010 entfesselte den Flächenbrand des Arabischen Frühlings zu Beginn des letzten Jahrzehnts. Und am Ende der 2010er Jahre waren es insbesondere die Krafftstoffpreise bzw. die Einschränkung basaler Mobilität, die Bewegungen lostraten, die schnell über sich hinauswuchsen. Die soziale Bewegung, die die chilenische Bourgeoisie erschütterte entzündete sich an einem Preisanstieg im öffentlichen Nahverkehr, die Insurrektion in Equador folgte auf eine Streichung von IWF Subventionen auf Kraftstoff und die Bewegung der französischen Gelbwesten reagierte ursprünglich auf eine CO2 Steuer, die die Benzinpreise hätte ansteigen lassen. Da in der nahen wie auch fernen Zukunft mit erneuten Bewegungen gegen Preisanstiege auf existentielle Güter zu rechnen ist, lohnt sich ein Blick auf diese vergangenen Bewegungen, auf ihre vorwärtsweisenden Momente wie auch auf ihre Schranken. Dieser kurze Blick zurück, insbesondere auf die Bewegung der Gelbwesten, soll zugleich auch an die auf dem Blog geführte Diskussion um Organisierung anknüpfen.
Trotz nicht zu vernachlässigender nationaler Unterschiede lassen sich innerhalb der genannten Bewegungen, die ab 2018 gegen die Verteuerung des Lebens auf die Straße gingen, einige Gemeinsamkeiten ausmachen. Zunächst wäre eine geographische Ähnlichkeit zu benennen: beinahe alle Bewegungen spielten sich in der Peripherie ab, von den französischen Gelbwesten an ihren Kreisverkehren in der Provinz, über das chilenischen Surplusproletariat in Santiago, bis zu den proletarisierten Jugendlichen im Iran und im Irak. Fast alle Bewegungen gingen schnell über ihren ursprünglichen Gegenstand hinaus und forderten breitere soziale Reformen bzw. häufig ein Ende des teuren Lebens im allgemeinen. Diese Forderungen wurden zumeist nicht durch offizielle Sprecherinnen oder Parteien an den Staat herangetragen, vielmehr richteten sich die Bewegungen als Ganze an und gegen den Staat. Die Bewegungen waren ihrer Form nach häufig anarchisch, was sich in den wiederkehrenden Riots einerseits wie auch einer fehlenden Programmatik andererseits ausdrückte. Zumeist waren sie zudem klassenübergreifend, d.h. es fanden sich alle die kein Geld hatten: Arbeiterinnen, Intellektuelle, Kleinbürger oder -unternehmer, Arbeitslose und Rentner gemeinsam auf den Barrikaden wieder. Viele dieser Dimensionen, es gab selbstverständlich noch mehr Ähnlichkeiten wie auch Unterschiede, können als Stärken wie auch als Schwächen der Bewegungen bezeichnet werden. Diese Ambivalenz soll im Folgenden anhand der Bewegung der Gelbwesten exemplifiziert werden.
Ausgangspunkt der Bewegung der Gilets Jaunes war die Ankündigung von Präsident Emmanuel Macron eine vermeintlich ökologische Steuer auf CO2 zu erheben. Da diese das Autofahren für viele Geringverdiener:innen nicht unwesentlich verteuert hätte, besetzten, ausgehend von Aufrufen auf Facebook, ab November 2018 tausende Menschen die Kreisverkehre in der französischen Provinz. Die Warnweste wurde schnell zum Symbol der Bewegung, da diese kurze Zeit vorher für alle Autofahrer:innen zum obligatorischen Utensil wurde. Da sich die Bewegung um Fragen der Steuergerechtigkeit wie auch Automobilität versammelte und es sich bei den Protestierenden zugleich um völlig neue politische Akteure handelte, die plötzlich an den Kreisverkehren auftauchten, gingen große Teile der französischen wie auch globalen Linken zunächst von einer reaktionären Bewegung aus. Berichte über rassistische Übergriffe an den Kreisverkehren schienen diesen anfänglichen Verdacht zu bestätigen. Doch schon bald sollte sich herausstellen, dass es mit diesem Urteil nicht getan ist.
Spätestens als die Bewegung Anfang Dezember die Champs Elysées stürmte und die dahinterliegenden Viertel der französischen Bourgeoisie verwüstete, wurde auch der Linken klar, dass es mit dem Label der kleinbürgerlichen Steuerpartei nicht getan ist. Es kristallisierte sich bald heraus, dass es nicht primär xenophobe oder antisemitische Forderungen waren, die im Zentrum der Bewegung standen, sondern Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit und nach dem Ende des teuren Lebens. Zugleich war die Wut der Bewegung derart massiv und vor allem destruktiv, dass sich bald auch Marine Le Pen von den Zerstörungen im Zentrum der Kapitale distanzieren musste. Die sozialen Forderungen wurden jedoch nicht in der gewohnten Sprache der sozialistischen Linken vorgetragen, so wurde z.B. der Begriff der Klasse durch das Volk ersetzt, stattdessen bezog man sich auf die französische Revolution und die revolutionären Volksklassen. Hierzu schrieb eine Gruppe Pariser Genoss:innen im Dezember 2018: „Diese ständige Referenz auf die revolutionäre Nation verdeutlicht nur, in welchem Ausmaß das Verschwinden der Arbeiteridentität seit den 1970er Jahren auch einen Verlust des historischen Bewusstseins für die Geschichte der Arbeiterbewegungen in großen Teilen des Proletariats zeitigte“. Der Hintergrund dieser fehlenden Arbeiteridentität wird klarer, blickt man auf die Zusammensetzung der Bewegung. Als Gelbwesten begriffen sich zunächst nicht die klassenbewussten oder zumindest sozialdemokratischen Arbeiter:innen der CGT-Gewerkschaften oder politisierte Schüler und Studentinnen, sondern vor allem das unorganisierte und isolierte Dienstleistungsproletariat. Laut Umfragen unter den Gelbwesten waren ca. 30% der männlichen Gilets Jaunes im Logistiksektor tätig, während ca. 40% der beteiligten Frauen im Pflegebereich arbeiten. Zumeist wird hier alleine und ohne gewerkschaftliche Organisierung gearbeitet. An dieser Stelle wird nun nicht nur das Problem der Arbeiter:innenidentität deutlich, sondern auch die Zentralität des Benzins: Für viele Proletarier:innen im Servicesektor in den Provinzen ist das Auto nicht nur privat unerlässlich, sondern auch ein wichtiges Produktionsmittel. Die Austeritätsmaßnahmen der letzten Dekade haben die öffentliche Infrastruktur derart abgebaut, dass einerseits einst kommunale Dienste privatisiert wurden und zugleich häufig nur noch mit dem Auto erledigt werden können. Kathi, eine 54 Jährige Gelbweste, zu dieser Situation: „Ich habe keine andere Wahl als mein Auto zu benutzen. Das lokale Sozialzentrum erstattet mir 14 Cent pro gefahrenen Kilometer. Das ist nicht viel. Es ist mein wertvollstes und teuerstes Arbeitsgerät. Jedes Mal, wenn ich tanke, ist es, als würde ich direkt Geld von meinem Gehaltsscheck abziehen“
Auch wenn es mehr als erfreulich war, dass die Bewegung den Weg eines militanten sozialen Populismus und nicht eines ordnungshörigen Rechtspopulismus ging, muss gleichzeitig festgestellt werden, dass die Gilets Jaunes auf einer politischen Ebene ein Ausdruck der Schwäche des gegenwärtigen Proletariats waren. Wir haben die Gelbe Weste 2019 als ein Symbol des Mangels bezeichnet:
„In ihr erscheint der Mangel, den die kapitalistische Restrukturierung der letzten Jahrzehnte hinterließ. Es sind nicht mehr die Symbole und bestimmten Semantiken der Arbeiter:innenbewegung, derer sich bedient wird, um einen Kampf zu führen: Symbole mit Historizität, die auf eine tragische Vergangenheit und eine bessere Zukunft verweisen. Die gelbe Weste hat weder diese bestimmte Vergangenheit noch eine verlockende Zukunft. Sie verweist ausschließlich auf das Dasein als prekäre, vom Staat gegängelte Autofahrerin und auf eine mögliche Panne mit der billigen Schrottkarre. Da diese Panne unter den sich verschärfenden sozialen Krise immer wahrscheinlicher wird, wird auch die gelbe Weste immer politischer, die Politik jedoch auch immer unbestimmter. Die Gelbe Weste passt schließlich allen: 'The best and the worst can wear the yellow vest'. Sie kann Klassenunterschiede und politische Lager nivellieren. […] Die einzige Referenz auf die Vergangenheit bietet das Gespenst der französischen Revolution.“2
Dieser populistische Universalismus der Gelbwesten muss zugleich als ein Partikularismus begriffen werden, als der Partikularismus der französischen Erzählung der Revolution und ihres Volkes. Das Fehlen von Klassenorganisationen und eines proletarischen Universalismus macht die Bezugnahme auf nationale Narrative notwendig bzw. unvermeidlich. Die Gilets Jaunes widersprechen daher auf einer inhaltlichen Ebene einem naiven, rein praktischen Spontaneismus, der sich von ihren Mitteln: den spontanen Riots, Versammlungen und brennenden Kreisverkehren blenden lässt. Dieser geht häufig davon aus, dass sich ein revolutionäres Subjekt primär im Kampf entwickelt bzw. dass im Verlauf der Kämpfe schon alles irgendwie richtig gemacht wird. Zwar haben die Gelbwesten sicherlich einiges richtig gemacht als sie Mautstationen, Champs Elysées und Bonzenhäuser anzündeten. Doch sie blieben inhaltlich eine zumeist ziellose, konfuse und populistische Bewegung, deren Klassenhass keine spontane sozialistische Sublimierung fand.
Lenin, bekanntermaßen ein erbitterter Feind des Spontaneismus, beantwortete die Frage, warum die spontane Bewegung den Weg des geringsten Widerstandes geht und zur Herrschaft der bürgerlichen Ideologie führt, in Was tun? folgendermaßen: „Aus dem einfachen Grund, weil die bürgerliche Ideologie ihrer Herkunft nach viel älter ist als die sozialistische, weil sie vielseitiger entwickelt ist, weil sie über unvergleichlich mehr Mittel der Verbreitung verfügt.“3 Da der Sozialismus zugleich ein Produkt von bürgerlichen Philosophen und Ökonomen ist, ist eine spontane Einsicht des Proletariats in seine Richtigkeit umso unwahrscheinlicher. Jede gerne auch geistig arbeitende Proletarierin weiß wie schwer es ist, nach einem 8 Stunden Tag noch zu denken. Lenin stellt u.a. in Was tun?, ausgehend von einer Kritik des radikalen Spontaneismus seiner Zeit, einige Diagnosen bezüglich der Notwendigkeit der politischen Organisierung des Proletariats. Einige von ihm aufgeworfene Grundprobleme sind, unabhängig von der historischen Beschränktheit seiner konkreten Parteikonzeption, nach wie vor zutreffend oder zumindest diskutierenswert. Vor dem Hintergrund vergangener und kommender Kämpfe erscheint eine kurze Auseinandersetzung mit diesen Fragen deshalb lohnenswert. Lenin geht davon aus, dass das Proletariat, kämpft es ausschließlich auf ökonomischer Ebene, beschränkt bleiben muss. Anders als das Bürgertum, welches seine Herrschaft auf seiner wachsenden ökonomischen Macht auf- und ausbauen konnte, ist das Proletariat als enteignete Klasse auf die politische Assoziation angewiesen. Führen die Proletarier:innen ausschließlich ökonomische Kämpfe bleiben sie schwach bzw. bleiben beschränkt auf ökonomische Tageskämpfe. Es kann, laut Lenin, keine Befreiung auf ökonomischer Ebene geben, wenn sich die Arbeiterinnen nicht auch politisch befreien. Blickt man nun auf die gegenwärtige Situation so scheint eine politische Assoziation der Arbeiter:innen fast noch dringlicher. Energiekrise und Inflation stellen existentielle Notlagen dar, die die Betroffenen als Konsument:innen primär individualisiert treffen und bürgerliche wie rechte Ideologie sind stärker denn je. Gleichzeitig haben wir es mit einer Universalisierung des Kampfes zu tun. Vergangene und kommende Kämpfe gegen Preissteigerungen sind nicht auf bestimmte betriebliche Forderungen beschränkt, sondern betreffen das Proletariat als Ganzes bzw. sind zugleich ein klassenübergreifendes Problem. Diese Gleichzeitigkeit von Individualisierung und Verallgemeinerung der sozialen Not kann anhand der Bewegung der Gelbwesten sehr gut nachvollzogen werden. Das Symbol der Gilet Jaunes war schnell ein Symbol des gesamten französischen Proletariats und zugleich auch allen Klassen zugänglich. Deshalb und aufgrund ihres Individualismus schaffte es die Bewegung oft nur schwer, einheitliche politische Forderungen zu formulieren oder gar Organisationen aufzubauen. Es wäre nun laut Lenin die Aufgabe einer revolutionären Organisation, diese Kämpfe aus ihrer ökonomischen Beschränktheit herauszuführen, politisch zu vereinheitlichen und inhaltlich zu schärfen. Erst die politische Organisierung der Klasse wäre in der Lage, die ökonomisch bedingte Isolierung, Individualisierung und bürgerliche Beschränkung aufzuheben. Eine kommunistische Politik schaffe dort Verbindungen, wo die kapitalistische Ökonomie ständig Brüche produziert: zwischen Hand- und Kopfarbeit, Einzelnem und Kollektiv, sowie zwischen Phasen des Kampfes und der Ruhe. Die basisdemokratischen Gelbwesten beschritten ähnliche Wege und schufen die zentrale Versammlung der Versammlungen. Eine haltbare politische Institution, sozialistisches Klassenbewusstein oder ein Programm ergaben sich jedoch nie. Ob dieses Problem rein durch die Anwesenheit kommunistischer Organisationen gelöst worden wäre, ist freilich zu bezweifeln, doch die ökonomisch zersplitterte und politisch orientierungslose Klasse wartet nichtsdestotrotz weiterhin auf politische Macht, um dem wachsenden Elend adäquat begegnen zu können.
Selbstverständlich ist die gegenwärtige kommunistische Linke, selbst wenn sie es wollte, nicht in der Lage auf die kommenden Kämpfe gegen Preissteigerungen als vereinheitlichende politische Kraft zu wirken und selbstverständlich sollte sie dies auch auf keinen Fall als klandestine Kaderorganisation des männlichen Industrieproletariats tun. Doch wir können uns ausgehend von vergangenen Bewegungen fragen, wie wir mit möglichen kommenden Protesten umgehen. Wir können uns ausgehend von historischen Konzepten revolutionärer Organisierung (selbstverständlich nicht nur mit Lenin) bereits organisieren oder zumindest über die Formen der Organisation streiten. Diese Fragen sind schon jetzt zu stellen, denn der deutsche Partikularismus verspricht zunächst keine sozialistische Spontaneität, doch die Situation wird auch hier die soziale Frage unweigerlich ins Zentrum rücken.