„Die soziale Wut hat sich radikalisiert“

19. Februar 2022

Seit 2017 publiziert das Kollektiv Agitations Artikel zu radikaler Theorie, Klassenkämpfen in Frankreich und internationalen Aufstände, interveniert in Demonstrationen und sozialen Bewegungen. Wie schätzen sie die gegenwärtige Situation zwischen autoritären Staatsmaßnahmen im Zuge der Pandemie, einer vorerst auf Eis gelegten Rentenreform, der Bewegung der Gelbwesten und den Protesten gegen den „pass sanitaire“ in Frankreich ein? Wir haben mit dem Kollektiv über diese Fragen gesprochen und auch nach den Gründen für die Beteiligung radikaler Linker an den Protesten der Maßnahmenkritiker gefragt.

Communaut: Könntet ihr euch zunächst unseren Leser:innen vorstellen. Ihr seid ebenfalls ein Blogprojekt. Welche politischen Erwägungen standen ursprünglich hinter der Idee einen Blog zu launchen und verfolgt ihr gegenwärtig bestimmte strategische Zielsetzungen?

Agitations: Das Kollektiv Agitations formierte sich im Jahr 2017. Unsere Gründung war eine Reaktion auf den Mangel an Theorieproduktion, den wir innerhalb des linkskommunistischen Milieus wahrnahmen. Wir waren zuvor in diversen Gruppen aktiv und teilten die Feststellung, dass die wenigen regelmäßigen Publikationen, die an die Debatten aus der Arbeiter:innenbewegung anknüpfen, eine bestimmte feste Leser:innenschaft haben und es zugleich nicht schaffen, über ihr intellektuelles und universitäres Milieu hinauszureichen. Unser Ziel war es daher, der Gesellschaftskritik der Theorie der Kommunisierung1 eine größere Reichweite zu verschaffen. Zu diesem Zweck veröffentlichen wir Übersetzungen von englischen Texten oder synthetisierende Beiträge zu zentralen Konzepten der kommunistischen Linken, sowie auch aktuelle Analysen sozialer Kämpfe, die mehr sind als nur ein nachträgliches Fazit. Ohne einen blinden Aktionismus zu befürworten, wollen wir unsere Analysen politischer Fragen, die sich während sozialer Bewegungen stellen, den Leuten auch zugänglich machen. Hierin unterscheiden wir uns von großen Teilen unseres recht geschlossenen Milieus. Wir denken nämlich, dass Theorie eine organisatorische wie auch praktische Funktion hat und ihre akademische Beschränkung ablegen muss. Daher sind wir das Abenteuer eingegangen und haben die digitalen Grenzen unseres Blogs überschritten, um unser erstes Journal „Gilets Jaunes En Lutte“ auf den wöchentlichen Demonstrationen der gleichnamigen Bewegung zu verteilen. Die positiven Erfahrungen, die wir hierbei machten, haben uns motiviert an einer größeren und vielfältigeren Veröffentlichung zu arbeiten, die wir dank der Finanzierung durch zahlreiche Unterstützer:innen im Selbstverlag publizieren konnten. Die Revue hat zwei thematische Schwerpunkte: Zum einen die Klassenkämpfe in Frankreich und zum anderen die internationalen Aufstände, die die Welt seit 2018 erschüttern.

C: Das Interview mit euch soll ein Update zur Situation in Frankreich sein, das einer Übersetzung eines Textes zum Generalstreik von 2019/2020 zur Seite gestellt wird. Uns interessiert daher nicht nur die gegenwärtige Situation und Konstellation, sondern auch die Reaktion der sozialen Bewegung wie auch des Staates auf die Corona-Krise. Die geplante Rentenreform gegen die sich der große Generalstreik mobilisierte, wurde zunächst mit Hilfe des Artikels 49.3 durch das Parlament gebracht. Es schien sich zunächst eine neue Kontinuität im Verhältnis von französischem Staat und sozialen Bewegungen abzuzeichnen. Wie bereits im Jahr 2016, als eine große Bewegung gegen ein geplantes Arbeitsgesetz monatelang auf die Straße ging, sollte auch in diesem Fall der Artikel 49.3 der Hebel sein, um ein offensichtlich unpopuläres Reformvorhaben durchzusetzen. Doch Macron legte das Projekt wieder auf Eis. Was waren die Gründe hierfür? Ein später Sieg der Bewegung oder war die Corona-Krise ursächlich hierfür?

A: Wir glauben nicht, dass man den Aufschub der Rentenreform als einen direkten Sieg der sozialen Bewegung betrachten kann. Es handelt sich vielmehr um eine politische Reaktion auf die veränderten Verhältnisse: Die Regierung musste ihre Agenda an die Situation der Corona-Krise anpassen. Seit einigen Jahrzehnten leidet Frankreich unter einer hohen Arbeitslosigkeit, die durch die Corona-Krise kurzzeitige Höchststände erreichte. Vor dem Hintergrund einer möglichen Wirtschaftskrise zielte das Aussetzen der Reform darauf ab, den Arbeitsmarkt zu stabilisieren. Die Umsetzung der Reform hätte schließlich dazu geführt, dass die Leute länger arbeiten müssen und folglich weniger Arbeitsplätze zur Verfügung stünden, d.h. der Arbeitslosigkeit noch schlechter beizukommen wäre.

Es wäre dennoch falsch, den Einfluss der Streiks und Demonstrationen zu negieren, die Macrons Reformwut erfolgreich bremsen konnten. Er hat vermutlich nicht mit derartigem Widerstand gerechnet. Zudem darf man das Gespenst der Gelbwesten nicht vergessen, das die Bourgeoisie immer noch verfolgt. Die soziale Wut hat sich radikalisiert und jeder weiß, dass ein Funke genügt, um das Feuer wieder zu entfachen. Ein Aufstand während der Pandemie musste daher unbedingt vermieden werden. Zudem wäre es politisch sehr riskant gewesen, die republikanischen Gesetzgebungsmechanismen zu umgehen, während der Präsident die Bürger:innen gleichzeitig zur Ruhe und Verantwortung im „Krieg gegen das Virus“ anhielt. Andererseits bietet der Eintritt in die Wahlkampfphase für die Präsidentschaftswahlen 2022 der Regierung die Gelegenheit, die rechte Wählerschaft über ein Festhalten an der Reform der Renten und der Arbeitslosenversicherung für sich zu gewinnen.

C. In dem Text von Rona ging es immer wieder um das Verhältnis der klassischen sozialen Bewegungen (Schüler:innen, Studierende, Gewerkschaften) zu den Gilets Jaunes. Der Text tendiert dazu, die Strategien bzw. die insurrektionalistische Praxis der Gilets Jaunes als produktiver zu betrachten als die eingefahrenen und vorhersehbaren Formen der Politik der klassischen Linken. Teilt ihr diese Einschätzung bzw. gab es während des Generalstreiks auch Allianzen zwischen beiden?

A: Um hierauf differenziert antworten zu können, muss man sich zunächst fragen, was denn überhaupt die Ziele der Gilets Jaunes sind. Das ist nicht ganz einfach. Strategie und Praxis setzen bestimmte zu erreichende Ziele voraus, doch was waren nun die Ziele der Gelbwesten? Wir hatten es mit einer dezentralen Bewegung zu tun, deren Klassenzusammensetzung sich im Verlauf der Kämpfe veränderte und die zugleich starke lokale Unterschiede aufwies. Die Praxis der Bewegung war ebenso divers: Besetzung von Kreisverkehren, Organisation von Diskussionsräumen, Angriffe auf Abgeordnete, aber ebenso Aufstände und Auseinandersetzungen mit der Polizei. Diese Praktiken wurden nicht von allen Gelbwesten geteilt. Sie waren zugleich auch die Folge der sozialen Zusammensetzung der Bewegung: Viele von ihnen waren Proletarier:innen, die aus Sektoren ohne nennenswerte gewerkschaftliche Tradition kamen und zugleich zum ersten Mal an einer politischen Bewegung teilnahmen. Diese politische Ausbildung auf dem Kampfterrain selbst, die Polizeigewalt, mit der sich die Bewegung konfrontiert sah sowie auch eine sozioökonomisch schwierige Situation kann die schnelle Übernahme gewalttätiger Mittel durch die Gelbwesten erklären. Es wäre jedoch verfrüht hier von einer Strategie zu sprechen, die theoretisch formuliert wurde, um bestimmte Ziele zu erreichen.

Es erscheint uns problematisch, zum einen davon auszugehen, dass „die Strategie“ der Gelbwesten an sich besser oder produktiver wäre und zugleich zu behaupten, dass die zahlreichen Praktiken der traditionellen Linken (Gewerkschaften und Parteien) obsolet geworden sind, um Forderungen auf nationaler Ebene durchzusetzen, wie es die Bewegung gegen die Rentenreform von 2019/2020 tat. Der Staat und die Bourgeoisie hatten sicherlich mehr Angst vor den Gelbwesten als vor der Bewegung gegen die Rentenreform, was sich in der Art wie auf die Bewegungen reagiert wurde ausdrückte. Aber kann man ausgehend davon die Praxis der einen Bewegung gegenüber der anderen aufwerten? Es hängt vielmehr alles vom jeweiligen Kontext, den zu erreichenden Zielen und den daran beteiligten Kräften ab.

C: In Deutschland wurden unmittelbar nach Beginn der Corona-Krise zahlreiche Initiativen gegründet, die darauf abzielten, Strukturen gegenseitiger Hilfe aufzubauen. Kaum eine dieser Initiativen ging jedoch über ihr Stadium als Chat-Gruppe oder Blogprojekt hinaus. Das war einerseits der ungünstigen Situation des Lockdowns geschuldet, andererseits jedoch auch u.a. fehlender Community-Strukturen in Deutschland. Führte die Dynamik der Massenmobilisierung vor Corona in Frankreich zu nennenswerten Formen gegenseitiger Unterstützung oder dem Aufbau von Strukturen, die von unten auf diese umfassende Krise reagieren konnten?

A: Mit Beginn des Lockdowns gab es eine Solidaritätsbewegung, die in zahlreichen proletarischen Vierteln entstand, um so gut wie möglich auf die Bedürfnisse von Menschen in schwierigen Situationen reagieren zu können. Dahinter steckte jedoch nicht die Dynamik der Bewegung gegen die Rentenreform von 2019/2020. Die Initiativen gingen im Wesentlichen aus bereits bestehenden Vereinen hervor (Kulturvereine, Sportvereine etc.) und konnten sich auf die Brigades de Solidarité Populaire stützen, die nach italienischem Vorbild gegründet wurden. So begannen einstige Sportvereine aus proletarischen Vierteln damit Essen zu verteilen und es entstanden Einkaufskollektive, um Obdachlose zu unterstützen. Nach dem ersten Lockdown sind diese solidarischen Initiativen, die auf die defizitäre staatliche Verwaltung reagierten, jedoch zerfallen.

Man kann diese Momente der Solidarität nicht mit einer vorangegangenen politischen Dynamik erklären. Zu Beginn der Pandemie gab es innerhalb der französischen Öffentlichkeit kaum politische Debatten über Fragen der Gesundheit oder die Produktion von Pandemien und die Rolle von Institutionen in ihrer Verbreitung. Es erscheint uns unwahrscheinlich, dass eine Protestbewegung, die von klassisch linken Organisationen getragen wird, eine Kritik des staatlichen Pandemiemanagements formuliert und zugleich parallele Strukturen der Solidarität im Moment einer sozialen Krise aufbaut.

C: Hierzulande wurde die Durchsetzung der Corona-Maßnahmen durch ein enormes wissenschaftliches Dispositiv begleitet. Einst völlig unbekannte Virolog:innen waren plötzlich landesweit bekannte Persönlichkeiten. Sie standen einerseits der politischen Klasse beratend zur Seite, andererseits übernahmen sie auch die pädagogische Aufgabe, den Bürger:innen jeden Abend die Notwendigkeit der Maßnahmen zu erklären. Diese Politik des Krisenkorporatismus vermochte es – bis hinein in die radikale Linke – große Teile der deutschen Gesellschaft an das neue Krisenregime zu binden. Wie reagierte der französische Staat auf die Corona-Krise? Aus der Ferne wirkte die französische Politik – wie zumeist – wesentlich repressiver und weniger pädagogisch. War das so?

A: Im Jahr 2019 gingen Teile der Gelbwesten regelmäßig für die Verteidigung einer öffentlichen und für alle zugänglichen Gesundheitsvorsorge auf die Straße. Sie kamen aus ländlichen Regionen, die besonders betroffen waren von der Schließung von Krankenhäusern. Danach gab es eine Streikbewegung von Pfleger:innen, die sich gegen Austeritätsmaßnahmen im Krankenhaus und die sich verschlechternden Arbeitsbedingungen richtete. Mit diesen Klassenkämpfen im Gesundheitssektor war die Regierung konfrontiert, als sich das Virus ankündigte. Die erste Reaktion der französischen Regierung war daher die Leugnung der Pandemie. Diese Reaktion hatte verschiedene Gründe: Die vorangegangenen Kämpfe im Gesundheitssektor stellten eine Gefahr dar, während die Regierung eigentlich auf die kommenden Wahlen fokussiert war. Zudem liegt die Vermutung nahe, dass sie sich deshalb davor scheute, gesundheitliche Risiken ernstzunehmen, da sie über keinerlei lokalen Rückhalt verfügt. Zu Beginn des Jahres 2020 versuchte die ehemalige Gesundheitsministerin Agnès Buzyn die Bevölkerung noch damit zu beruhigen, dass Frankreich für eine Pandemie materiell gewappnet wäre. Dies war jedoch bereits seit 2013 nicht mehr der Fall, da in diesem Jahr der staatliche Vorrat an chirurgischen Masken vernichtet wurde. Die ersten Maßnahmen gegen die Pandemie kamen von den Arbeiter:innen, die, wie die Angestellten des Louvre, ihr Recht auf Fernbleiben in Anspruch nahmen. Nach einigen Streiks und dem Fernbleiben vieler Arbeiter:innen änderte die Regierung jedoch ihren Kurs und nahm die Pandemie ernst. Sie schlug mit dem ersten Lockdown jedoch einen brutalen Weg ein. Dieser betraf zwei Drittel der arbeitenden Bevölkerung, während ein weiteres Drittel zum sogenannten systemrelevanten („premiéres lignes“) Segment des Proletariats gehörte, dessen Arbeitskraft sich nicht im Homeoffice aneignen ließ.

Es gab in dieser Phase keine an die Bevölkerung gerichtete wissenschaftliche Erklärung der Situation, stattdessen eine Reihe von plumpen Lügen. Die erste Lüge kam, wie bereits erwähnt, von der Ministerin Agnés Buzyn, die behauptete, das Land wäre materiell gut ausgestattet. Die zweite Lüge kam von der Regierungssprecherin, die uns weis machen wollte, dass das Tragen von Masken für die Bevölkerung viel zu kompliziert wäre. Hinter dieser Behauptung stand der schlichte Mangel an Masken. Diese widersprüchlichen Aussagen orchestrierten die Repression des Lockdowns, die vor allem die proletarische und nicht-weiße Bevölkerung in den Armenvierteln betraf. Neben physischer Polizeigewalt, die wir beobachten konnten, explodierten in einigen Vierteln, wie z.B. im Pariser Viertel Belleville, die Strafen.

Die Agenda von Macron schien eher auf die Verwaltung einer politischen als einer gesundheitlichen Krise abzuzielen. Die Krisenverwaltung der Regierung zeichnete sich tendenziell durch ein Fehlen wissenschaftlicher Logik aus und kompetente Virolog:innen spielten kaum eine Rolle. Die Folge davon war ein primär autoritärer und unlogischer Kurs, der vor allem das Proletariat betraf, welches der Pandemie bereits am stärksten ausgesetzt war. Hinzu kam die Rolle der extremen Rechten, die noch mehr Konfusion schufen, da sie in der öffentlichen Debatte Verschwörungstheorien über das Virus und die staatliche Krisenverwaltung verbreiteten. Diese Konfusion wurde durch die Regierung und die Medien gefüttert. So empfing Brigitte Macron bekannte Verschwörungstheoretiker und die Medien boten den Theorien von Eric Raoult etc. eine Plattform.

Die Reaktionen auf die Krisenverwaltung fielen je nach Klassenlage und politischem Lager sehr unterschiedlich aus. Die obere Mittelschicht scheint mit der Situation recht zufrieden zu sein, da sie einerseits während des ersten Lockdowns geschützt wurde und andererseits von den Staatshilfen für Unternehmen profitieren konnte. Zudem hatte sie kein Problem mit der bourgeoisen und ultra-liberalen Politik der Impfstoffverteilung. Ein anderer Teil der Bevölkerung reagiert wesentlich gereizter auf die Inkohärenz der autoritären Krisenmaßnahmen, die nicht notwendig waren, da man sich auf eine gesundheitliche Krise hätte vorbereiten können. Das brutale Auseinanderklaffen zwischen den Aufforderungen ins Theater zu gehen und zuhause zu bleiben, wurde aus gutem Grund als absurd und anarchisch wahrgenommen. In Teilen dieser Schicht überlagern sich der Antimacronismus mit einer Ablehnung der Corona-Maßnahmen. Die Grenzen verschwimmen und zahlreiche, eigentlich unterschiedliche Strömungen haben in ihrer gemeinsamen Ablehnung der Gesundheitspolitik der Regierung zueinander gefunden. Ein Teil der Demonstrierenden hat eine liberalere Perspektive auf das Gesundheitswesen als die Regierung, weshalb wir uns u.a. nicht an den Demonstrationen beteiligen wollen. Das fängt an mit der Ablehnung der Ausgangssperre, geht weiter mit den liberalen Berufen wie den Künstler:innen, die die Öffnung der Theater fordern und endet mit den Impfgegner:innen, die denken, dass sie ihrer Freiheiten beraubt werden. Diese drei Kategorien verbindet ein gesundheitspolitischer Individualismus, den man auch als malthusianische Politik bezeichnen könnte. Viele Impfgegner:innen sind zudem von der Alternativmedizin beeinflusst, die ein Erbe der 1968er Jahre und ihrer Kritik der Pharmaindustrie ist. Die Verschärfung der Ungleichheit und der sozialen Gewalt mündet in eine hitzige Kritik an „den Herrschenden“, der häufig jedoch jede Klassenanalyse fehlt, was zu einer Politik führt, die die alten politischen Grenzen auflöst. Bei einigen gehen diese politische Konfusion, der Individualismus und ein allgemeiner Hass auf die Regierung so weit, dass die auf ihr Sozialleben (mit Kolleg:innen in Bars gehen, Konzertbesuche etc.) vollständig verzichten, da sie sich der Impfung widersetzen.

C: Gegenwärtig hat man es in Frankreich mit einer Bewegung gegen das Gesundheitszertifikat („pass sanitaire“) zu tun. An der Bewegung beteiligen sich, anders als in Deutschland, nicht primär Verschwörungstheoretiker und Rechte, sondern auch zahlreiche Linke. Wie beurteilt ihr diese Bewegung und woher rührt die Beteiligung Linker an den Protesten?

A: Vor einem Jahr gab es Demonstrationen von Pflegekräften, die gegen die Arbeitsbedingungen auf die Straße gingen, wofür es jedoch nur wenig gesellschaftliche Unterstützung gab. Stattdessen gab es große Proteste gegen den „pass sanitaire“, an dem sich Verschwörungstheoretiker, die Querfront, Liberale sowie einige Linke und Gewerkschafter beteiligten. Die politische Position der linken Gruppen, die sich an den Protesten beteiligen scheint uns widersprüchlich und opportunistisch zu sein. Die meisten von ihnen stehen dem Anarchismus nahe und vertreten individualistische Konzepte von Gesundheit, sie sind zumeist jung und gesund, d.h. kaum gefährdet und ihre individualistische Kritik gesellschaftlicher Kontrolle steht über einem kollektiven Begriff von Freiheit. Ein Teil der Linken, die an den Demonstrationen teilnimmt, scheint sich zudem primär für deren mögliche Formen (der Revolte oder des Riot) als ihren Inhalt zu interessieren. Demonstrationen sind in Frankreich durch alle politischen Spektren hindurch fest verankert, sodass die bloße Form kein Garant ist für fortschrittliche oder revolutionäre Positionen.

Manche Linke, die an diesen Demonstrationen teilnehmen, scheinen der Propaganda der Impfkritiker auf den Leim gegangen zu sein: Sie setzen der Impfung häufig die Forderung eines Ausbaus der Bettenkapazität der Krankenhäuser entgegen. Hier wird die Kritik an Austerität instrumentalisiert, um zwischen zwei unterschiedlichen Formen der Behandlung (Betten > Impfung) eine Hierarchie aufzubauen. Wir stimmen der Kritik der Austerität zwar zu, doch wir halten es für falsch zwei Dimensionen der Pandemiebekämpfung gegenüberzustellen. Die Maßnahme der Impfung ist präventiv, während die Betten eine notwendige Kapazität für den Krankheitsfall darstellen. Wir sind für die Impfung und einen Ausbau der Bettenkapazitäten. Aus diesen Gründen erscheint es uns abwegig als Kollektiv an diesen Demonstrationen teilzunehmen.

Man kann momentan jedoch wesentlich interessantere Folgeerscheinungen der Corona-Krise beobachten: Die Arbeitsverweigerung ist sichtbar angestiegen. In einigen Sektoren herrscht mittlerweile Arbeitsknappheit, es gibt mehr Krankheitsfälle durch Burn-Out sowie Streiks in Sektoren, wo diese nicht zu erwarten waren (z.B. im Baumarkt Leroy Merlin). Hier spielen viele Faktoren zusammen. Viele Arbeiter:innen aus den sogenannten systemrelevanten Branchen sind erschöpft, die Löhne werden nicht an die Inflation angepasst und die Benzinpreise steigen.