Stadtteilarbeit und Organisierung

20. Januar 2024

Solidarisch in Gröpelingen ist eine Stadtteilinitiative, die sich auf Basis strategischer Grundsatzüberlegungen (11 Thesen) 2016 im Bremer Stadtteil Gröpelingen mit dem Ziel gegründet hat, Teile der Nachbarschaft für eine antikapitalistisch ausgerichtete gemeinsame Praxis zu gewinnen und dauerhaft zu organisieren. Nach vielem Ausprobieren (siehe Interview in Revolutionäre Stadtteilarbeit, S. 63 ff.) hat sie einen Ansatz entwickelt, den sie als erfolgversprechend und verallgemeinerbar ansieht. In einem neuen Papier, das neben Geschichtlichem auch allgemeine Überlegungen zu Kriterien revolutionärer Stadtteilarbeit enthält, stellt sie den Beratungs-Organisierungs-Ansatz (BOA) vor und ruft zu seiner Verbreitung auf. Zu einigen Punkten, die uns daran aufgefallen sind, haben wir nachgefragt.

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Communaut: Euer Ansatz der Basisarbeit im Stadtteil war ja von Anfang an, Leute im Kiez zu organisieren, indem ihr sie bei ihren existenziellen Problemen ansprecht. Anfangs habt ihr großen Wert darauf gelegt, diese Probleme nicht individuell zu bearbeiten, sondern kollektiv und mit Blick auf tiefere gesellschaftliche Ursachen. Beim Beratungs-Organisierungs-Ansatz spielt nun gerade die individuelle Beratung eine zentrale Rolle. Warum seht ihr darin inzwischen ein notwendiges Element eurer Arbeit?

Solidarisch in Gröpelingen: Unsere bisherigen Organisierungserfahrungen im Stadtteil haben gezeigt, dass unter bestimmten Bedingungen der direkte Schritt vom individuellen Problem zum kollektiven Kampf häufig zu groß ist. Die meisten Menschen organisieren sich nicht einfach so, sondern suchen einen Weg, wie sie mit ihren Problemen konkret umgehen können. Organisierung muss aus unserer Sicht an einer kontinuierlichen existentiellen Notwendigkeit ansetzen und in der Lage sein, ein Teil dieser Probleme anzugehen. In den ersten Jahren im Stadtteil haben wir neben sozialen Angeboten wie Cafés, Nachhilfe, Filmabende, Sprachcafés etc. vor allem Mieter*innen von Vonovia eingeladen, sich zusammenzuschließen und gemeinsam für eine Verbesserung der Wohnbedingungen zu kämpfen. Wir haben aber gemerkt, dass viele der Mieter*innen sich – wenn überhaupt – nur für kurze Zeit an den Versammlungen und Aktionen beteiligt haben. Viele sind mit ihren Problemen lieber zu Beratungsstellen oder Anwält*innen gegangen, die im Zweifelsfall sogar erfolgreicher waren als der damalige kollektive Kampf. Auch wir selbst wurden permanent angesprochen, ob wir bei individuellen rechtlichen Fragen helfen können, haben das aber abgelehnt, weil wir dachten, dass wir dadurch in soziale Arbeit abrutschen. Wir haben den Leuten stattdessen gesagt: „Du hast ein individuelles Problem, dann schließ dich mit anderen zusammen und kämpfe gemeinsam dagegen!“ Das hat so aber nicht wirklich funktioniert. Unsere Erfahrung der ersten Jahre der Stadtteilarbeit war, dass wir den Bewohner*innen aus dem Stadtteil ständig hinterhergelaufen sind. Weder die sozialen Angebote noch die Kampfkomitees als Orte der kollektiven Organisierung haben wirklich viele Menschen erreicht oder längerfristig dazu gebracht, sich zu organisieren. Wir waren weit weg von unserem Ziel, eine wachsende Struktur aufzubauen. Deshalb haben wir uns Anfang 2020 Zeit genommen und unsere Erfahrungen reflektiert. Und wir haben uns vor allem die Frage gestellt, was Ausgangspunkte von Organisierung in einer sozialstaatsgeprägten Gesellschaft wie der bundesdeutschen sein können. Denn der Sozialstaat federt ja viele Probleme, die in anderen Ländern Ausgangspunkte von Organisierung sind, noch ab. Dafür bringt er eine unendliche Bürokratie mit sich, mit der viele Menschen, insbesondere in prekären Stadtteilen überfordert sind – mit existentiellen Konsequenzen. Gleichzeitig ist die Gesellschaft in Deutschland sehr verrechtlicht, so dass rechtliche Beratung häufig eine große Rolle spielt. Das hat uns dazu gebracht, individuelle Beratung als ein kontinuierliches existentielles Bedürfnis zu betrachten. Die Beratung ist für uns der Ausgangspunkt für Organisierung. Der Beginn eines Prozesses vom individuellen Problem hin zur kollektiven Organisierung und einem Verständnis der strukturellen Ursachen. Seit wir das Beratungsangebot haben, müssen wir uns keine Gedanken mehr darüber machen, wie Leute zu uns kommen.

Die individuelle Beratung ist für euch ja kein Selbstzweck: „Aufgabe der Basisorganisation ist es vielmehr, den neuen Mitglieder zu vermitteln, dass die Möglichkeiten der Beratung begrenzt sind und letztendlich nicht die Beratung zur grundlegenden Lösung ihrer Probleme beitragen wird, sondern nur sie selbst als Teil einer kollektiven, kämpferischen und solidarischen Organisierung“ (S. 18). Wie sieht dieses Vermitteln konkret aus? Wie stellt sich das für Leute, die ihr damit ansprecht, dar? Wie und wann erklärt ihr ihnen, auf was sie sich einlassen und wie die Mitgliedschaft in der Stadtteilgewerkschaft funktioniert?

An den Beratungstagen sind neben den Berater*innen weitere Mitglieder der Stadtteilgewerkschaft vor Ort, die wir als Beratungs-Organisierungs-Vermittler*innen (BOVs) bezeichnen. Sie sind dazu da, den neuen Leuten nach der ersten Beratung zu erklären, was die Stadtteilgewerkschaft ist. Wir haben auch Mitgliedschafts-Mappen, in denen unsere politischen Übereinkünfte stehen, unsere Struktur aufgezeichnet ist und die Kriterien für eine Mitgliedschaft erklärt werden. Die Mappen gibt es in unterschiedlichen Sprachen und alle neuen Leute bekommen eine. Wir erklären den Leuten, dass wir keine Beratungsstelle sind, sondern eine politische Stadtteilbasisorganisation bzw. eine Stadtteilgewerkschaft. Dass wir daran glauben, dass wir uns gemeinsam organisieren müssen, um langfristig wirklich etwas verändern zu können und deshalb regelmäßige Versammlungen haben und immer wieder gemeinsam auf die Straße gehen. Wenn Leute sich entscheiden, Mitglied zu werden, dann unterschreiben sie einen Zettel und wir fragen, wo sie sich vorstellen könnten aktiv zu werden, z.B. beim Übersetzen, Kochen, etc. Mitglied sein heißt, in der gemeinsamen Whatapp-Gruppe zu sein, zu den Versammlungen zu kommen und an den Aktionen teilzunehmen, nach dem Prinzip „Touch one - touch all“. Wenn eine Person nicht Mitglied werden will, dann machen wir die Beratung noch zu Ende und verweisen anschließend an andere Beratungsstellen. Was genau die Stadtteilgewerkschaft ist, kann man aber nicht in einem Gespräch vermitteln. Die meisten Menschen werden schnell Mitglied. Es ist die Aufgabe des weiteren Organisierungsprozesses, neuen Mitglieder zu vermitteln, dass sie selbst Teil der Lösung sind und dass in der gemeinsamen Organisierung eine enorme Kraft liegt. Es geht darum, das Interesse von Leuten zu wecken, sie zu begeistern und zu empowern. Das passiert auf den Versammlungen, bei den sozialen Events, in den politischen Bildungen, bei den Aktionen auf der Straße, auf den Kundgebungen vor dem Jobcenter etc.

Wie verarbeiten Leute nach eurer bisherigen Erfahrung den Einstieg bei der Stadtteilgewerkschaft? Bleiben sie vor allem, weil sie weiterhin die individuelle Beratung brauchen und nehmen sie die mit der Mitgliedschaft einhergehenden Verpflichtungen eher nur in Kauf oder finden sie den kollektiven Prozess daran von Anfang an einleuchtend und attraktiv? Oder ist eine Entwicklung bei ihnen zu beobachten? Und gibt es über die akute Hilfe/Beratung hinaus auch Erfolgserlebnisse von kollektiver Problemlösung, oder ist das bislang eher nur die Perspektive?

Viele Leute, die in die Beratung kommen, bleiben bei der Stadtteilgewerkschaft, weil sie Unterstützung erhalten, aber auch weil sie die solidarische und lebendige Atmosphäre schätzen. Das ist ein unglaublich wichtiger Aspekt. Viele der Mitglieder, die in die Beratung kommen, kennen sich von den Versammlungen oder Aktionen. Manche kommen einfach so vorbei, um Kaffee zu trinken und zu quatschen. An den Beratungstagen ist der Laden meist voll. Es gibt das starke Gefühl einer solidarischen Community. Das bekommen auch Leute mit, die neu in die Beratung kommen. Natürlich bleiben längst nicht alle und es werden auch nicht alle aktiv. Es kommen viele Leute in die Beratung und werden Mitglied, aber nur ein Teil davon wird aktiv und bleibt. Das ist normal. Aber wir wachsen und es organisieren sich Menschen aus dem Stadtteil bei uns, die wir vorher nicht erreicht hätten. Und natürlich gibt es viele Entwicklungen, bei allen. Bei denjenigen, die neu dazu kommen und bei denjenigen, die schon lange dabei sind. Das ist auch ein Grund, warum Menschen bei der Stadtteilgewerkschaft bleiben. Weil sie merken, dass es ein Ort ist, an dem sie sich weiterentwickeln und neues lernen können. Leute gehen das erste Mal in ihrem Leben auf eine Demonstration, sprechen am Mikro, übernehmen Verantwortung in den Komitees, fahren auf Veranstaltungen in andere Städte und erzählen über ihre Erfahrungen, lernen in den Austauschtreffen über politische Themen. Was die Erfolge kollektiver Kämpfe angeht: Wir haben häufiger Kundgebungen vor dem Jobcenter oder bei Problemen mit Privatvermieter*innen organisiert und meist schon vorher erreicht, dass unsere Forderung erfüllt wurde. Unsere Erfahrung ist jedoch, dass es vor allem dann erfolgreich ist, wenn die Forderungen aus rechtlicher Perspektive sowieso erfüllt werden müssen. Schwieriger ist es Forderungen durchzusetzen, die im Ermessen der Behörde liegen oder darüber hinaus gehen. Das verlangt intensivere Kämpfe und mehr Zeit.

Ihr argumentiert in eurem Papier, dass ein Versuch, Leute in der Nachbarschaft zu organisieren, nur dann erfolgreich sein kann, wenn existenzielle Probleme identifiziert werden können, die den Ausgangspunkt für die Organisierung bilden; und wenn dabei berücksichtigt wird, in welcher Form diese Probleme vorliegen: nämlich unter den bundesdeutschen Bedingungen als stark sozialstaatlich und rechtlich vermittelt. Vor diesem Hintergrund seht ihr den Beratungs-Organisierungs-Ansatz als einen entscheidenden Schlüssel für das Gelingen einer Organisierung und nicht bloß als ein Tool neben anderen. Einerseits finden wir diese Argumentation einleuchtend. Andererseits gibt es aber auch Probleme, bei denen Hilfe nicht in der Beratung gesehen oder gesucht wird (beispielsweise Überlastung durch Care-Arbeit), und es gibt nicht wenige Lohnabhängige, die keinen speziellen Bedarf an Beratung haben. Würdet ihr sagen, dass diese Menschen für Organisierung zumindest im Stadtteil aktuell nicht zugänglich sind? Oder muss man da noch weitere Wege finden?

Wer in prekären Stadtteilen lebt, ist meistens von unterschiedlichen Unterdrückungsformen gleichzeitig betroffen. Vielleicht komme ich in die Beratung, weil ich ein Problem mit dem Jobcenter habe, aber ich mache auch Care-Arbeit, erfahre patriarchale Gewalt oder bin von Rassismus betroffen. Auch wechseln sich häufig Zeiten von Arbeitslosigkeit und Lohnarbeit ab, oder Menschen, die Vollzeit arbeiten, müssen trotzdem aufstocken. Menschen kommen in die Beratung, weil sie an einer Stelle akut ein drängendes Problem haben, aber im Laufe der gemeinsamen Organisierung stellt sich heraus, dass es weitere Probleme gibt. Es ist also prinzipiell möglich, auch weitere Bereiche in der Organisierung zu thematisieren, insbesondere was feministische Themen angeht oder Rassismus. Wir sind aktuell z.B. dabei, erste Treffen nur für Frauen* zu organisieren, um einen Raum zu schaffen, in dem über Erlebnisse mit patriarchaler Unterdrückung gesprochen werden kann. Diese Notwendigkeit ist aus der bisherigen Organisierung und den Erfahrungen mit patriarchaler Unterdrückung entstanden. Was den Arbeitsbereich angeht, so ist eine Organisierung aus der Perspektive der Stadtteilgewerkschaft schwieriger. Es ist möglich, einzelne Kämpfe zu führen und wir haben ja auch eine Beratung speziell zu Problemen auf der Arbeit. Aber eine Organisierung in den Stadtteilen kann eine Organisierung im Arbeitsbereich nicht ersetzen. Wir denken, es braucht neben einer Bewegungen in den Stadtteilen auch den Aufbau von kämpferischen Basisgewerkschaften oder Betriebsgruppen.
Die Beratung ist in dieser Zeit ein wichtiges Eingangstor, durch das Menschen aus dem Stadtteil die Stadtteilgewerkschaft kennenlernen. Aber sie ist nicht der einzige Weg, um sich bei Solidarisch in Gröpelingen zu organisieren. Es kommen auch Leute zur Stadtteilgewerkschaft, die nicht in der Beratung waren, sondern Interesse an Politik haben. Das sind häufig junge Menschen, die sich gerade politisieren oder auch Leute, die früher oder in anderen Ländern politisch aktiv waren und in der Stadtteilgewerkschaft einen Ort sehen, wieder aktiv zu werden. Es ist wichtig, diesen Organisierungsfaktor nicht zu unterschätzen. Es gibt also unterschiedliche Wege zur Stadtteilgewerkschaft: über die kontinuierlichen existentiellen Notwendigkeiten und über den Wunsch, politisch aktiv zu sein und etwas verändern zu wollen.

Wie gut übertragbar auf andere Städte und Stadtteile ist der Beratungsansatz, da er doch voraussetzt, dass es vor Ort genügend Linke mit Expertise in Sachen ALG2, Asylrecht, Mietrecht etc. gibt, die sich für diese Basisarbeit gewinnen lassen?

Wir hatten zu Beginn Bedenken, ob wir genug Leute für die Beratung finden. Das war aber überhaupt kein Problem. Viele Linke haben Erfahrung mit Beratung über ihre Lohnarbeit und es gibt auch viele Leute, die Erfahrung haben, weil sie selbst jahrelang beim Amt waren oder für ihre Familien übersetzen und den Behördenkram regeln mussten. Viele Leute haben Lust auf die konkrete Beratungsarbeit und freuen sich, diese in einem politischen Kontext machen zu können. Das berichten auch Genoss*innen aus anderen Städten, die den BOA Ansatz dort umsetzen möchten. Berater*innen zu finden, ist das geringste Problem. Aber natürlich muss die Beratung professionell sein. Dazu gehört vor allem das Wissen um die eigenen Grenzen und eine ständige Weiterbildung.

Euer Anspruch ist es ja, mit der Stadtteil-Gewerkschaft nicht die Sozialarbeit zu ersetzen, sondern Politik zu machen, die über die bestehende Gesellschaft hinausweist: „Wenn wir Basisarbeit machen, weil wir eine emanzipatorische Gesellschaftsveränderung anstreben, dann müssen wir uns die Frage stellen, wie das, was wir vor Ort im Stadtteil machen, mit dieser Vision einer Gesellschaftsveränderung strategisch verbunden ist.“ (S. 5) Wie wird euer neuer Ansatz diesem Anspruch gerecht?

Politik machen, heißt für uns, eine Bewegung von unten aufzubauen, in der sich unterschiedlichste Menschen organisieren, zu politischen Subjekten entwickeln und eine kollektive Kraft aufbauen können. Eine organisierte Stadtteilbewegung, die unabhängig ist von einzelnen Aktivist*innen, in der Erfahrungen weiter gegeben werden können und eine emanzipatorische Kultur jenseits der begrenzten Szenekreise innerhalb der Klasse etabliert werden kann. Langfristig geht es darum, eine Macht von unten aufzubauen – denn ohne aktive Beteiligung einer Bewegung von unten kann es keine emanzipatorische Gesellschaftsveränderung geben. Und ohne kollektive Strukturen und gesammelte Erfahrungen ist die Wahrscheinlichkeit, dass spontane Erhebungen langfristige Veränderungen erkämpfen und verteidigen können, gering. Vor diesem Hintergrund verstehen wir unsere Praxis. Aber das ist ein langer Weg und wir stehen erst am Anfang. Es ist nicht möglich, den Ansatz der revolutionären Stadtteilbasisarbeit, aber auch den BOA-Ansatz aus der Perspektive einer einzigen Stadtteilorganisation zu bewerten. Der Ansatz muss sich entwickeln und verbreiten – innerhalb der linken Bewegung und innerhalb der Gesellschaft. Erst dann kann er seine volle Dynamik entfalten und wirklich zu einer grundlegenderen Veränderung beitragen. Es gibt häufig den Versuch, die Praxis von Solidarisch in Gröpelingen mit der Lupe zu betrachten und jede Entwicklung als Zeichen für den Erfolg oder das Scheitern des Ansatzes zu interpretieren. Aber das macht keinen Sinn. Ob wir in der Lage sind, in der lokalen Praxis eine linke Hegemonie aufzubauen oder viele Menschen zu erreichen, zu bewegen und zu verändern, ist auch davon abhängig, ob der Ansatz sich ausbreitet. Das heißt, ob Stadtteilarbeit für Linke ein gängiger Ansatz wird und es in vielen Stadtteilen kämpferische und linke Stadtteilorganisationen gibt. Wir erleben schmerzhaft die Auswirkungen des jahrzentelange Rückzuges der Linken aus der Gesellschaft bzw. Klasse. Auf der anderen Seite fehlt es an Erfahrung mit revolutionärer Basisorganisierung und an Menschen, die diesen Ansatz ernsthaft und verbindlich umsetzen wollen. Dafür muss sich das Verständnis von politischer Arbeit oder politischem Aktivismus, das jahrzentelang bestand und die Szene immer noch prägt, verändern.

Stadtteilarbeit läuft immer Gefahr, in Soziale Arbeit abzurutschen und statt auf grundlegende Veränderung der Gesellschaft hinzuwirken unbezahlt sozialstaatliche Funktionen zu übernehmen. Ihr betont in eurem Papier zwei Aspekte eurer Arbeit, die dieser Gefahr entgegenwirken: den kämpferischen Charakter der Basisorganisation, der sich in „Mobilisierungen und Aktionen“ zeigt (S. 10), und eine Orientierung über den eigenen Stadtteil hinaus auf eine überregionale Organisierung hin (S. 11). Wie stellt es sich konkret in eurer Arbeit dar, dass der kämpferische Aspekt und die überregionale Orientierung dabei hilft, über die Beratungsarbeit hinauszukommen? Lässt sich die Abgrenzung zur Sozialarbeit auch an den inhaltlichen Zielen dieser Aktionen festmachen?

Revolutionäre Basisarbeit und Soziale Arbeit ähneln sich nur bei oberflächlicher Betrachtung, da beide an der sozialen Frage ansetzen und einzelne ähnliche Methoden verwenden. Allerdings unterscheiden sie sich in einem wesentlichen Punkt: Soziale Arbeit versucht in den allermeisten Fällen, die Folgen des kapitalistischen Systems wie Armut, Obdachlosigkeit, Krankheit, Sucht etc. zu lindern und Betroffenen zu helfen, besser klar zu kommen. Revolutionäre Basisarbeit hat das Ziel, Menschen dazu in die Lage zu versetzen, kollektiv gegen die strukturellen Ursachen zu kämpfen und insofern das Gesellschaftssystem infrage zu stellen, das für ihre Probleme verantwortlich ist. Bei der revolutionären Basisarbeit geht es darum, Strukturen aufzubauen, die auf eine Überwindung der Verhältnisse ausgerichtet sind. Damit Basisarbeit zu einer grundlegenden Gesellschaftsveränderung beitragen kann, muss sie verschiedene Kriterien erfüllen. Überregionale Organisierung und Mobilisierungen sind nur zwei davon. Ein anderes wichtiges Kriterium ist z.B. Bildung. In der Praxis heißt das: Menschen kommen zu uns, weil sie Beratung suchen. Wenn sie in der Beratung sind und Mitglied werden, dann laden wir sie zu unseren Aktionen, Versammlungen, Bildungen etc. ein. Vielleicht können sie am Anfang noch nicht so viel damit anfangen, aber sie merken, dass etwas anders ist, als in gängigen Sozialberatungsstellen. Sie erleben mit vielen unterschiedlichen Menschen aus dem Stadtteil Versammlungen, in denen über eigene Erfahrungen aber auch strukturelle Ursachen gesprochen wird. Bildungen, in denen es um Kapitalismus und dessen Auswirkungen geht. Und Demonstrationen wie zuletzt zu dem Motto „Klimakrise, Kriege und Armut bekämpfen – nicht die Migration“. Das Zusammenspiel der unterschiedlichen Strukturen und Aktivitäten ermöglicht eine Politisierung und Ermächtigung. Aber es ist ein Prozess. Das inhaltliche Ziel der Mobilisierung ist eher zweitrangig. Wenn wir vor dem Jobcenter stehen und die Auszahlung von Geld fordern, ist das keine revolutionäre Forderung. Aber die Tatsache, dass Menschen beginnen, ihre Angst zu verlieren und ihre Stimme zu erheben, ist eine Grundvoraussetzung für jede revolutionäre Veränderung. Die überregionale Organisierung spielt für die Basis-Mitglieder aktuell noch keine große Rolle, weil sie noch nicht so weit entwickelt ist. Aber sie wird in Zukunft wichtig werden. Wie schon gesagt: revolutionäre Stadtteilbasisarbeit nur in einem Stadtteil zu denken, ist ein Widerspruch in sich.

Auf der anderen Seite konnten wir in Gröpelingen relativ erfolgreiche Kundgebungen gegen die Preiserhöhungen und die Auswirkungen der Krise allgemein organisieren“ (S. 24). Die Auswirkungen der Krise lassen sich natürlich nicht durch Proteste in einem Stadtteil abfedern. Was sind aus eurer Perspektive Kriterien dafür, solche Aktionen dennoch als Erfolg anzusehen?

Der Erfolg einer Kundgebung oder Aktion ist aus unserer Sicht vor allem daran zu messen, wie viele Menschen aus der Basis daran teilgenommen und sich aktiv eingebracht haben. Für viele Menschen ist es eine neue Erfahrung, auf die Straße zu gehen und über die eigenen Probleme in der Öffentlichkeit zu sprechen. Es gibt auch Ängste, was passieren könnte. Damit viele Menschen teilnehmen können, braucht es ein Vertrauensverhältnis, aber auch niedrigschwellige Aktionen. Das heißt, der Charakter der Aktionen muss so sein, dass sich viele Menschen dort wohl fühlen, z.B. dadurch, dass unterschiedliche Sprachen gesprochen werden, Musik gespielt wird, zu der Menschen einen Bezug haben, gemeinsame Momente geschaffen werden, wie z.B. das gemeinsame Rufen von Parolen, laut sein mit Trillerpfeifen, Töpfen etc. Es geht, wie schon gesagt, um das Erleben der kollektiven Handlungsfähigkeit als Teil einer Politik von unten. Das ist einer der wichtigsten Erfolge solcher Aktionen. In Kämpfen, in denen es um konkrete Forderungen geht, wie z.B. Auszahlung von Jobcenter Leistungen, Rücknahme einer Kündigung etc. ist Teil des Erfolgs natürlich auch, wenn die Forderungen erfüllt werden.

In eurem Selbstverständnis auf eurer Website präsentiert ihr euch unmissverständlich als antikapitalistisch. In eurem 10-Punkte-Programm ergibt sich als Bild der Gesellschaft, für die ihr kämpft, hingegen eher eine sozialdemokratisch abgefederte Marktwirtschaft, in der weiterhin für Lohn gearbeitet wird und in der nur ein Teil der öffentlichen Fürsorge aus dem Profitsystem herausgenommen ist. Warum habt ihr euch in diesem Programm auf reformistische Forderungen beschränkt?

Das Programm hat für uns einen pragmatischen und agitatorischen Charakter. Es beinhaltet 10 Punkte, an denen sich etwas verändern muss und zeigt in welche Richtung die Veränderung gehen soll. Es ist keine ausformulierte Vision einer klassenlosen Gesellschaft. Das Programm war ein erster Entwurf und er hilft, mit Leuten ins Gespräch zu kommen. Aber es kann gut sein, dass wir das Programm in Zukunft nochmal verändern oder weiterentwickeln.

Ihr habt euch für Basisarbeit entschieden, um endlich Leute auch außerhalb der linken Szene erreichen zu können. Wie seht ihr denn euer Verhältnis zu anderen Teilen der radikalen Linken und zu deren Praxis? Seht ihr Potenzial für eine sinnvolle Arbeitsteilung, oder für eine Zusammenarbeit in bestimmten Bereichen?

Der Aufbau einer organisierten sozialen Bewegung (OSB) und der Ansatz der Stadtteilbasisarbeit ist für uns ein Bestandteil einer Strategie für eine grundlegende Veränderung der Gesellschaft. Natürlich sind auch andere Ansätze wichtig, wie z.B. revolutionäre Jugendarbeit, linke Betriebsarbeit, Medienarbeit etc. Es geht uns nicht darum zu sagen, dass Basisarbeit in Stadtteilen die einzig sinnvolle Praxis ist. Aber ohne Basisarbeit und Organisierung von unten wird es keine emanzipatorische Gesellschaftsveränderung geben. Da die radikale Linke in den letzten Jahrzehnten diesen Aspekt massiv vernachlässigt hat, halten wir die Entwicklung und Verbreitung von Basisarbeit aktuell für notwendig und konzentrieren uns in unserer Praxis darauf.

Wie steht ihr inzwischen – nach Einführung des Beratungs-Organisierungs-Ansatzes, aber auch insgesamt vor dem Hintergrund eurer bisherigen Erfahrungen – zu der Idee, dass Stadtteilarbeit den Vorzug haben könnte, dass sich dort verschiedene Kämpfe verbinden lassen? Und wie sieht ihr das Verhältnis von Stadtteilarbeit zu anderen Arten der Basisarbeit – beispielsweise der von migrantischen Gruppen oder von Arbeitskämpfen?

Als wir mit der Stadtteilbasisarbeit begonnen haben, dachten wir, wir könnten die unterschiedlichen Kämpfe wie Mietkämpfe, Arbeitskämpfe, antirassistische oder feministische Kämpfe getrennt voneinander aufbauen und dann miteinander verbinden. Deshalb haben wir verschiedene Komitees gegründet, wie ein Mietkomitee, ein Arbeitskampf-Komitee, die jeweils in ihren Bereichen versucht haben, Menschen zusammenzubringen. Unsere Vorstellung war, dass über gemeinsame Treffen dann gegenseitige Solidarisierungs-Effekte entstehen und deutlich wird, dass die unterschiedlichen Probleme ähnliche Ursachen haben. Letztlich hat das aber nicht funktioniert, vor allem weil sich aus den einzelnen Kämpfen und Komitees keine längerfristige Organisierung entwickelt hat. Unsere jetzige Herangehensweise ist andersherum. Menschen organisieren sich in der Stadtteilgewerkschaft, weil sie einen (meist kontinuierlichen) Beratungsbedarf haben. Das können Mietprobleme sein, Probleme auf der Arbeit, mit dem Jobcenter, dem Aufenthalt etc. Die Kämpfe ergeben sich dann aus den alltäglichen Problemen und Bedürfnissen der Mitglieder und wir entwickeln eine kollektive Antwort als Stadtteilgewerkschaft. Wenn jemand gekündigt wird, gehen wir gemeinsam vor die Firma oder vors Gericht. Wenn das Jobcenter nicht zahlt, gehen wir zusammen vors Jobcenter. D.h. wir versuchen nicht nur, Mieter*innen für Mietkämpfe zu organisieren oder Menschen mit bestimmten Betroffenheiten zusammenzubringen, sondern eine solidarische und kämpferische Community aufzubauen, in der ein Angriff auf eine*n ein Angriff auf alle ist und Spaltungen überwunden werden können. In der gemeinsamen Organisierung haben wir die Möglichkeit, Rassismus, Sexismus, Homophobie etc. zu thematisieren und klarzumachen, dass Ausbeutung auf der Arbeit und die Schikanen beim Amt zwei Seiten derselben Medaille sind. Das Zusammenkommen von unterschiedlichen Menschen und die Verbindung der jeweiligen Themen und Kämpfe ist ein großer Vorteil der Stadtteilbasisarbeit. Trotzdem braucht es auch Organisierung in anderen Bereichen, wie z.B. den Aufbau von kämpferischen Strukturen in den Betrieben.

In eurem Papier macht ihr euch auch Gedanken dazu, welche Form die von euch angestrebte Organisierung von unten annehmen könnte und sollte: „Basisorganisationen als organisierte soziale Bewegung bzw. in Form von politischen Massenorganisationen brauchen unter anderem transparente Strukturen, politische Grundsätze, verschiedene Beteiligungsformen und Arbeitsteilung“ (S. 8) Haben solche Überlegungen auch jetzt schon einen bestimmenden Einfluss auf eure Arbeit und auf die Organisationsform eurer Stadtteilgewerkschaft?

Nach den ersten Erfahrungsjahren haben wir begonnen, die Frage zu diskutieren, was der Unterschied zwischen einer politischen Gruppe und einer Organisation – speziell einer Basisorganisation – ist. Im Anschluss haben wir begonnen, unsere lokalen Strukturen zu verändern, so dass sie in der Lage sind zu wachsen, sich Menschen mit unterschiedlichen Kapazitäten beteiligen und die Strukturen unterschiedliche Bedürfnisse und Funktionen erfüllen können. Diese Überlegungen und Phasen spiegeln sich ja auch in unserem Aufruf wider. In den letzten Monaten ist die Frage stärker in den Fokus gerückt, was die Entwicklung einer überregionalen Massenorganisation oder organisierten sozialen Bewegung (OSB) für die Entwicklung der lokalen Strukturen heißt. Vor einigen Jahren haben wir begonnen, stärker mit der Stadtteilbasisorganisation Berg Fidel Solidarisch aus Münster zusammenzuarbeiten und sind in den letzten Jahren mehr zusammengewachsen. Unser Ziel ist es, in den nächsten Jahren in weiteren Stadtteilen in Bremen Stadtteilgewerkschaften aufzubauen, aber auch mit mehr Stadtteilbasisorganisationen in anderen Städten zusammenzuwachsen. Die Frage, wie dies gut gelingen kann und welche Strukturen es dafür braucht, ist deshalb wichtig in unserer Praxis. Passende Strukturen zu entwickeln, ist aber ein offener Prozess. Unsere Strukturen verändern sich je nach den Bedingungen und Bedarfen ständig weiter. Aber ohne die überregionale Perspektive wäre unsere Praxis sinnlos, deshalb spielt die Zusammenarbeit mit anderen Gruppen natürlich eine große Rolle und gibt uns Kraft und Hoffnung.

Ihr schreibt, es geht euch perspektivisch um den Aufbau „einer überregional funktionierenden Massenorganisation, die auf einzelnen lokalen Basisorganisationen basiert, aber gemeinsame Grundsätze, Ziele und Kommissionen hat“ (11). Auf Communaut wurde im letzten Jahr eine Debatte zu revolutionärer Strategie und Organisierung geführt, und dort wurde unter anderem argumentiert, dass es eine zusammenfassende politische Organisation – perspektivisch eine Massenpartei – brauche, um wirksam das Ziel einer klassenlosen Gesellschaft in die Öffentlichkeit zu tragen. Es gab andere Stimmen, die dieses Konzept als zu zentralistisch abgelehnt und dem eine Basisarbeit von unten entgegengehalten haben. Die Leute von Ex OPG – Je so’ pazzo in Italien verbinden Basisorganisierung im Stadtteil gezielt mit der Arbeit in der Partei Potere al Popolo, die auch zu Wahlen antritt. Wie seht ihr das? Würdet ihr sagen, dass Basisorganisierung eine eigene kommunistische Organisierung überflüssig macht oder dass sie sie als Ergänzung braucht? Wie bestimmt ihr den Unterschied zwischen der Massenorganisation der organisierten sozialen Bewegung von unten und einer Partei als Massenorganisation?

Wir als Stadtteilgewerkschaft sind unabhängig von politischen Organisationen oder Parteien und halten diese Unabhängigkeit auch strategisch für notwendig. Es gibt politische Organisationen, die Stadtteilarbeit als Vorfeldstruktur ihrer politischen Organisation verstehen, um darüber Mitglieder für die politische Organisation zu gewinnen. Wir denken hingegen, dass Stadtteilbasisorganisationen oder organisierte soziale Bewegungen (OSB) einen eigenen Zweck haben. Es geht darum, dass sich Menschen über ihre alltäglichen Bedürfnisse organisieren, entwickeln, politisieren und sich die Erfahrung gesellschaftlicher Organisierung ausweitet. Organisierte soziale Bewegungen ermöglichen eine viel niedrigschwelligere Teilnahme und breitere Organisierung als Parteien und sie sind im Alltag der Menschen verankert. Sie sind eine Zwischenform aus Gewerkschaft und politischer Organisation oder aus Interessen- und Ideenorganisation. Wenn wir eine Gesellschaft anstreben, die auf einer möglichst breiten Organisierung von unten basiert und in der Menschen beteiligt sind an der Gestaltung ihrer Lebensbedingungen, dann kann das nicht nur durch eine Partei von überzeugten Revolutionär*innen erkämpft werden, sondern braucht eine starke Organisierung von unten, die sich die Macht nicht wieder entreißen lässt. Das bedeutet nicht, dass politische oder revolutionäre Organisationen überflüssig sind. Sie haben aber eine andere Rolle und andere Aufgaben.