Hans-Jürgen Krahl, die revolutionäre Theorie und wir

03. September 2022

Anders als der zur 68er-Ikone avancierte Rudi Dutschke ist Hans-Jürgen Krahl selbst in radikalen Kreisen eher ein Unbekannter geblieben. Bereits 1970 mit 27 Jahren bei einem Autounfall verunglückt, konnte er sein ambitioniertes Programm für eine Erneuerung revolutionärer Theorie im Grunde nur entwerfen, und vieles blieb nicht bloß bruchstückhaft, sondern auch widersprüchlich. Die Textsammlung Konstitution und Klassenkampf, von einigen seiner Genossen posthum herausgegeben, besteht zum allergrößten Teil aus Notizen, Exzerpten, Entwürfen und gleicht dergestalt einem großen Steinbruch. Dass von diesen Texten trotz der oft ungenießbaren, unnötig schwierigen Sprache eine gewisse Sogwirkung ausgeht, hat vor allem den Grund, dass sie auch bei den vertracktesten Fragen zumindest indirekt immer auf die antiautoritäre Bewegung bezogen bleiben, als deren intellektueller Wortführer Krahl in Frankfurt auftrat. Selbst esoterisch anmutenden Passagen ist anzumerken, dass sie von keinem leidenschaftslosen Marx-Forscher stammen, sondern die Frage im Blick haben, worin Emanzipation unter den gegebenen Bedingungen bestünde, wie sich diese Bedingungen historisch gewandelt haben und welche Konsequenzen daraus für Strategie und Organisation zu ziehen wären. „Revolutionäre Theorie“ unterschied sich für Krahl genau dadurch nicht nur von traditioneller, sondern auch von der kritischen Theorie seines Lehrers Adorno, dass sie es nicht dabei bewenden lässt, das gesellschaftliche Verhängnis bloß abstrakt als ein menschengemachtes und somit prinzipiell abschaffbares zu dechiffrieren. Vielmehr sucht sie nach bereits aufscheinenden Emanzipationsbedürfnissen, setzt sich zu ihnen ins Verhältnis und findet ihren Fluchtpunkt in der revolutionären Organisierung.

Was damit heute anzufangen wäre, untersucht der kürzlich erschienene Sammelband Für Hans-Jürgen Krahl – Beiträge zu seinem antiautoritären Marxismus. Er bietet einen guten Einstieg in Krahls Schriften, zumal die gelungeneren Beiträge Krahl nicht nur gewissermaßen übersetzen oder „rekonstruieren“, sondern auch seine Grenzen und blinden Flecken verhandeln und vor allem berücksichtigen, wie sich die Lage seit 1968 verändert hat. Anderes bleibt eher philologisch oder lässt die nötige Distanz zum Gegenstand zugunsten einer Heldenverehrung fahren. Unterm Strich fällt die Kritik an Krahl recht spärlich aus, stellenweise entsteht sogar der Eindruck, er habe die uns bis heute plagenden Fragen – nicht zuletzt die nach der Organisation – im Grunde gelöst und wir bräuchten nur seine Gedanken aus der unverdienten Versenkung bergen, um einen entscheidenden Schritt voranzukommen.

Vulgärmarcusianismus, Klassenkampf und Organisation

Gleich mehrere Aufsätze befassen sich mit der Organisationsfrage, was durchaus angemessen ist, schließlich bildete sie die Achse, um die letztlich alle Überlegungen von Krahl kreisten. Dabei zeigen sich erhebliche Verschiebungen. Krahl war wie Dutschke Mitglied im Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS), dem Motor der Revolte an den Universitäten, die in den späten 1960er Jahren an Schwung gewann. 1967 legen die beiden auf der 22. Delegiertenkonferenz des SDS ihr berühmt gewordenes „Organisationsreferat“ vor, in dem die Stärken, mehr noch aber die eklatanten Schwächen zumindest dieser Phase der antiautoritären Bewegung deutlich werden. Der SDS, heißt es darin, habe sich nach der Erschießung von Benno Ohnesorg am 2. Juni als zu behäbig erwiesen, um der „noch nie dagewesenen Verbreiterung des antiautoritären Protests“ eine Richtung zu weisen; er sei „orientiert am revisionistischen Modell der bürgerlichen Mitgliederparteien. Der Vorstand erfaßt bürokratisch die zahlenden Mitglieder unter sich, die ein bloß abstraktes Bekenntnis zu den Zielen ihrer Organisation ablegen müssen.“ Es gebe jedoch „viele Genossinnen und Genossen […], die nicht mehr bereit sind, abstrakten Sozialismus, der nichts mit der eigenen Lebenstätigkeit zu tun hat, als politische Haltung zu akzeptieren.“ 1 Wie Detlev Claussen, damals ebenfalls im Frankfurter SDS aktiv, rückblickend schrieb, richtete sich die antiautoritäre Orientierung vor allem „gegen jede Form von Stellvertreterpolitik“. 2 Sie stützte sich aber nicht nur auf das Bedürfnis nach einer anderen Form von Politik, die so keine bloße Politik im eigentlichen Sinne mehr wäre und auf neue, emanzipiertere Verkehrsformen im Hier und Jetzt der Bewegung zielte, sondern auch auf eine bestimmte Zeitdiagnose, nach der Staat und Ökonomie namentlich durch die vollständige Integration der alten Arbeiterorganisationen in eine veränderte Konstellation getreten seien. Während die Fraktion der „Traditionalist*innen“ im SDS eine klassische Bündnisstrategie verfolgte und mit Wolfgang Abendroth meinte, der Sozialismus könne auf dem Boden des Grundgesetzes, unter Ausnutzung der bestehenden Institutionen, eingeführt werden, propagierten die Antiautoritären im Geiste von Herbert Marcuses „großer Weigerung“ gerade den Bruch mit den Institutionen durch unbotmäßige Selbstermächtigung. Es ging also nicht nur um ein Mehr oder Weniger an bürokratischer Ödnis im eigenen Verein, sondern um grundlegende Unterschiede in der Strategie: Sollte man um die „noch ansprechbaren“ SPD-Abgeordneten als Verbündete buhlen? Oder eine selbständige Bewegung aufbauen, die bewusst die herrschenden Regeln verletzt?

Allerdings zeichneten Krahl und Dutschke im Organisationsreferat ein Bild der politisch-ökonomischen Verhältnisse ihrer Zeit, das sich bei Marcuses Der eindimensionale Mensch (1964) und vor allem bei Max Horkheimers Essay Autoritärer Staat (1940) gerade die krudesten Thesen borgte: Ein „Integraler Etatismus“ habe als „Vollendung des Monopolkapitalismus“ nicht weniger als „die Tendenz einer fortschreitenden Liquidation der Zirkulationssphäre“ hervorgebracht, seine „außerökonomische Zwangsgewalt“ griffe „derart in die Warenzirkulation ein, daß die abstrakte Arbeit durch ein gigantisches institutionelles Manipulationssystem artifiziell reproduziert wird“, womit „nicht mehr das Wertgesetz, die objektiv sich durchsetzende Arbeitszeit, den Wertmaßstab abgibt, sondern die Totalität des Maschinenwesens selber.“ Horkheimer kann man wenigstens zugute halten, dass er 1940 die nazifaschistische Ordnung vor Augen hatte; für die Zeit nach 1945, die Ära der Wiederherstellung des Weltmarkts, in der die internationale Konkurrenz wie eh und je von der Arbeitsproduktivität bestimmt war und unbekümmert von allem Gerede über einen krisenfesten „organisierten Kapitalismus“ in den frühen 1970er Jahren zielsicher in die nächste Rezession mündete, können diese Thesen nur als Humbug gelten. Krahl und Dutschke versuchen auch kaum, sie zu belegen; die von ihnen erwähnte „Konzertierte Aktion“ (das abgestimmte Agieren von Staat, Bundesbank, Kapitalverbänden und Gewerkschaften) ergibt noch lange kein Ende des Wertgesetzes oder eine „Liquidation der Zirkulationssphäre“, was immer man sich unter der überhaupt vorstellen soll, solange das Kapitalverhältnis fortbesteht.

Entscheidend mit Blick auf die Organisationsfrage war in dieser Optik, dass das so zu einer manipulativen Riesenmaschine mutierte System „eine neue Qualität von Leiden der Massen“ hervorgebracht hätte, die „nicht mehr aus sich heraus fähig sind, sich zu empören. Die Selbstorganisation ihrer Interessen, Bedürfnisse, Wünsche ist damit geschichtlich unmöglich geworden.“ Inspiriert von den bewaffneten nationalen Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt schlugen Krahl und Dutschke daher eine „Urbanisierung ruraler Guerillatätigkeit“ vor, die das versteinerte Bewusstsein der leidenden, aber zur Reflexion dieses Leids völlig unfähigen Massen aufbrechen sollte: die „sinnliche Erfahrung der organisierten Einzelkämpfer in der Auseinandersetzung mit der staatlichen Exekutivgewalt“ könne wenigstens Minderheiten „die abstrakte Gewalt des Systems zur sinnlichen Gewißheit“ werden lassen. Das Bild einer nahezu restlos manipulierten und zwangsintegrierten Gesellschaft, für das es im postnazistischen Deutschland sicher Gründe gab, übersetzte sich in eine ultra-avantgardistische Strategie, die außerhalb des eigenen winzigen Protestmilieus nichts als Apathie und Konformismus ausmachte und auf den Polizeiknüppel als letztmöglichen Geburtshelfer kritischen Bewusstseins setzte.

Krahl selbst bezeichnete diese Phase später selbstkritisch als „Vulgärmarcusianismus“, geprägt von der Illusion, als privilegierte intellektuelle Randgruppe könnten die Studierenden „eine Art Menschheitsrevolution, ohne Unterschied der Klassen“ in Gang setzen. Wie Robin Mohan und Emanuel Kapfinger in zwei Beiträgen nachzeichnen, erschöpften sich Krahls Überlegungen zur Organisationsfrage daher auch keineswegs in dem wüsten Referat von 1967 (das leider einer seiner meistzitierten Texte sein dürfte). Die auf permanente Aktion geeichte Strategie nutzte sich bald ab; gleichzeitig stießen neben Schüler*innen auch Lehrlinge und Jungarbeiter*innen zur Bewegung, und nach dem Erdbeben des Pariser Mai 1968 kam es im September 1969 – wenn auch in ungleich kleinerem Maßstab – auch in Deutschland zu wilden Streiks. Das Bild einer vollständig integrierten Klasse, die rebellierende Jungintellektuelle brauchte, um auch nur eine Ahnung vom eigenen Leid zu gewinnen, bekam Risse.

Es war das damit entstehende Spannungsfeld innerhalb der Protestbewegung, in dem Krahl seine vielleicht fruchtbarsten Beiträge leistete. Auf der einen Seite lösten die Septemberstreiks auch eine traditionalistisch-unhistorische Wende aus; die Pioniere des aufblühenden Marxismus-Leninismus forderten die „Liquidierung“ der antiautoritären Bewegung und machten sich an den Aufbau straff zentralisierter, auf Lenin, Mao und Stalin eingeschworener Parteien. 3 Auf der anderen Seite trat die antiautoritäre Bewegung auch in Krahls Augen tatsächlich in eine Verfallsphase ein, gekennzeichnet von einer kleinbürgerlichen „Privatisierung des Politischen“, also dem Anspruch, die eigenen Emanzipationsbedürfnisse ohne jede Rücksicht auf die Erfordernisse des politischen Kampfs sofort und uneingeschränkt zur Geltung zu bringen. In dieser doppelten Frontstellung gegen autoritären Marxismus-Leninismus und die im antiautoritären Milieu grassierende „Unmittelbarkeitsideologie“ bewies Krahl erstaunliche Hellsicht, gewann beides doch in den 1970er Jahren erhebliches Gewicht in der deutschen Linken.

Sein Versuch, in dieser Situation einen Ausweg zu finden, ging vom Verständnis der Organisation als „konkreter Vermittlung von Theorie und Praxis“ aus. Wie Kapfinger gut nachzeichnet, spielte dabei die Auseinandersetzung mit Georg Lukács‘ Geschichte und Klassenbewusstsein (1923) eine entscheidende Rolle. Lukács hatte nach dem Scheitern der Revolution in West- und Mitteleuropa das Problem der Verdinglichung ins Zentrum gerückt, verstanden als eine in der bestehenden Gesellschaft universelle Bewusstseinsform, der auch das Proletariat zunächst einmal unterworfen sei. Die kommunistische Partei aber, die Lukács als Gegenpol zur Verdinglichung, als Ort und Statthalter eines „revolutionären Totalitätsbewusstseins“ auftreten lässt, entpuppt sich für Krahl als bloßer deus ex machina. Sie bleibt „letztlich nur philosophisch“, das Proletariat erscheint als ihr formbares Material, das erst in der und durch die Partei zu seiner historischen Bestimmung findet: „Die Partei als metaphysisches Subjekt der Geschichte und ihr Mitglied als Werkzeug des kommunistischen Weltgeistes. Damit wird Lukács nicht der Forderung Marxens gerecht, dass der Befreiung allererst die Selbstbefreiung der revolutionären Klasse vorausgehen muss, eine materielle Selbstveränderung, von daher disziplinärer Zwang.“ Lukácsʼ Fokus auf das Verdinglichungsproblem hält Krahl einen Begriff von „materialistischer Empirie“ entgegen, die auf Gebrauchswerte, Bedürfnisse und Interessen ausgerichtet sei. Die Beziehung zwischen Organisation und Klasse sei daher „keine Einbahnstraße“ (Kapfinger); eines der vermittelnden Momente bestehe in dem, was im Operaismus später „militante Untersuchung“ getauft wurde: in einer nicht etwa neutral-soziologischen, sondern parteilich-militanten Erforschung proletarischer Lebensrealität besonders in den Betrieben, die nach noch so winzigen Rissen im Herrschaftsgefüge sucht. Dass die Frankfurter Gruppe „Revolutionärer Kampf“ (RK), die in den 1970er Jahren zeitweilig solche Betriebsarbeit unternahm, „aus dem engeren Kreis um Krahl“ hervorging, war insofern kein Zufall.

Bei Kapfinger schießen Krahls verstreute und vorläufige Reflexionen allerdings zu einem geschlossenen Organisationskonzept zusammen, das eigentlich keinerlei Fragen und Wünsche offenlässt, zumal sein Urheber das alles nicht nur postuliert, sondern selbst „absolut intensiv betrieben“ und „verkörpert“ habe: Er war einfach „ein unglaublicher Revolutionär, vergleichbar nur mit wenigen – vielleicht Marx, Engels, Luxemburg“. Eine solche Ikonisierung von Krahl ist nicht nur albern, sondern auch kontraproduktiv, weil sie entscheidenden Fragen aus dem Weg geht, allen voran der, wieso der SDS 1970 trostlos zerbröselte, ohne dass eine neue Organisation im Sinne Krahls dabei entstanden wäre (auch der RK stellte seine Betriebsarbeit recht bald wieder ein). Weil Krahl so früh ums Leben kam und die Übriggebliebenen unfähig waren? Probleme wie die Beziehung zwischen begrenzten Tageskämpfen und dem Endziel einer befreiten Gesellschaft, vulgo: zwischen Reform und Revolution, geraten ohnehin gar nicht erst in den Blick, obwohl sie bis heute mit Grund in jeder Organisationsdebatte auftauchen. Und wenn Kapfinger voller Bewunderung schreibt, wie „absolut intensiv“ Krahl zugleich am Schreibtisch Theorie und (nicht nur) auf der Straße Praxis getrieben habe, hat er zwar irgendwo Recht, blendet aber aus, dass die Sturm-und-Drang-Phase einer Bewegung bei vielen Beteiligten zeitweilig riesige Energien freisetzt, die kaum ein Mensch auf Dauer aufbringen kann. Ausdauer müsste aber gerade Kennzeichen einer brauchbaren Organisation sein. Sie sollte besser nicht darauf bauen, dass „unglaubliche Revolutionäre“ rund um die Uhr für sie im Einsatz sind. (Wovon hat Krahl eigentlich gelebt?)

Den – über weite Passagen trotzdem instruktiven – Beitrag von Kapfinger sollte man daher zusammen mit Mohans Darstellung lesen (die auf diesem Blog bereits erschienen ist). Sie macht deutlich, wie sehr das Ganze „Suchbewegung“ blieb und wie wenig wir folglich nur einen Schatz heben müssten, der in Krahls Texten auf uns wartet. Mohan unterstreicht vor allem Krahls historische Herangehensweise an die Organisationsfrage. So erkennt er dem bolschewistischen Modell für das Russland des frühen 20. Jahrhunderts sogar Legitimität zu (was es für Mohan „fragwürdig“ macht, „ihn ohne Weiteres als antiautoritären Marxisten zu bezeichnen“), nicht mehr aber für die Gegenwart, in der es an „neue Emanzipationsbedürfnisse“ anzuknüpfen gelte: „Je überflüssiger Arbeit wird, umso herrschaftsfreiere Organisationsstrukturen muss die revolutionäre Bewegung annehmen.“ Hier kommen die im besten, durchaus materialistischen Sinne utopischen Momente in Krahls Denken zum Tragen. Geprägt von der Kritischen Theorie, legt er den unter dem Ideologieschutt der II. und III. Internationale begrabenen emanzipatorischen Kern der Marxschen Kritik wieder frei, die auf „das Absterben der Ware und des Geldes, schließlich das Absterben des Staates und die rätedemokratische Assoziation der nicht mehr in einem System zusammengefassten Individuen“ ziele. Jedes kontemplative Vertrauen darauf, dass die Geschichte naturwüchsig auf diesen höheren Gesellschaftszustand zusteuere, weist Krahl wiederum im Geist der Frankfurter zurück, weshalb er es auch zu den Aufgaben einer zeitgemäßen Organisation zählt, eine „konkrete Utopie“ auszuarbeiten.

Proletarisierung der Intelligenz?

Ebenfalls Produkt der damals im SDS tobenden Organisationsdebatte war die vielleicht bekannteste These Krahls, der Gedanke eines „individuellen Klassenverrats“ sei historisch überholt, weil die wissenschaftliche Intelligenz zunehmend selbst vom Kapital subsumiert und so Teil des „Gesamtarbeiters“ geworden sei. Die These ging weniger aus einer genauen Untersuchung der zeitgenössischen Klassenstruktur hervor, als sie eine strategische Funktion erfüllte: Die von den Septemberstreiks 1969 ausgelöste „proletarische Wende“ drohte in einer ahistorischen Maskerade zu enden, wie der gespenstische Auftrieb des Marxismus-Leninismus zeigte. Dessen Privilegierung der klassischen Fabrikarbeiterklasse hielt Krahl entgegen, „dass das Industrieproletariat (…) ein Moment in der gesamten Klasse ist, aber nicht diese Klasse in ihrer Totalität repräsentiert“. Samuel Denner und Andreas George zeigen in einem dichten Essay, der sich die Mühe macht, Krahls Gedanken nicht bloß nachzuerzählen, sondern sie auch empirisch zu überprüfen, dass seine Verortung der wissenschaftlichen Intelligenz damals eher in die Irre ging: Wenn Studierende um 1968 behaupteten, nunmehr seien sie „Arbeiter wie andere auch“, hätten sie eine „Überdramatisierung der eigenen gesellschaftlichen Lage“ betrieben, denn der Ausbau des Staatsapparats und die technische Entwicklung der Industrie im Nachkriegsboom führten „weniger zu einer Proletarisierung der Intelligenz als zu einem Anschwellen der neuen Mittelklasse. Ihre Angehörigen sind zwar Lohnabhängige, jedoch funktional und ideologisch in die bestehende Herrschaftsordnung eingespannt. Vor allem Ingenieure, die als zentrale ProtagonistInnen der technischen Intelligenz angesehen werden müssen, hatten damals ausgezeichnete Karriereperspektiven. (…) Ähnlich erging es der kulturwissenschaftlichen Intelligenz, aus der sich die Studierendenbewegung im Wesentlichen rekrutierte.“ Als die fetten Jahre der Ära nach 1945 vorbei waren, gewann Krahls These allerdings mehr und mehr an Plausibilität. Über die heutige Situation, in der „ein Universitätsstudium nicht mehr in gleichem Maße eine privilegierte gesellschaftliche Stellung garantiert“, bemerken Denner und George: „Vollzog sich in den ersten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts eine sukzessive Proletarisierung der Angestellten, so deutet die jüngste Entwicklung darauf hin, dass auch die akademisch qualifizierte Intelligenz von diesem Prozess nicht verschont bleibt.“ Eine radikale Studierendenbewegung gebe es aber nicht mehr, und die heute vorwiegend von den abgehängten Schichten des Proletariats geführten Kämpfe (Gilets Jaunes, Black Lives Matter...) krankten nicht zuletzt daran, dass ihnen „eine konkrete Utopie“ fehle. In Anbetracht dieser Lage sei „die Lösung der von Krahl gestellten Organisationsaufgaben zur Ausbildung eines revolutionären Klassenbewusstseins dringlicher denn je“.

Der Essay zählt zum Fruchtbarsten in dem Band, weil er mit Krahl über Krahl hinausgeht und so tatsächlich etwas zur Entzifferung der Gegenwart beiträgt. Hervorragend sind auch Marcello Taris Ausführungen über die erstaunlich breite Krahl-Rezeption in Italien, wo eine antiautoritär-kommunistische Strömung weit über die Universitäten hinaus auch eine bedeutende Minderheit der Arbeiterklasse im traditionelleren Sinn umfasste und schließlich in der Massenrevolte von 1977 ihren Höhepunkt fand. An Krahl interessierte die italienischen Radikalen vor allem die von Denner/George ausgeleuchtete These einer Proletarisierung der Intelligenz, denn die Bewegung von 1977 war stark von der Figur des „Arbeiter-Studenten“ geprägt. Tari zeigt dabei furios, wie der namentlich von Antonio Negri ausgebrütete „Postoperaismus“ die Kopfarbeiter*innen zum neuen zentralen Akteur aufbauschte, ihnen unter der Chiffre der „immateriellen Arbeit“ eine bereits bestehende „Autonomie“ vom Kapital andichtete und en passant eine glatte „Verfälschung“ Krahls betrieb.

Adorno und Marx

Andere Beiträge nehmen sich daneben eher blass-philologisch aus oder verharren in dürren philosophischen Abstraktionen. Meike Gerber etwa zeichnet noch einmal den Konflikt zwischen Krahl und seinem Lehrer Adorno nach, über den schon sehr viel geschrieben worden ist. Krahls bleibende Bedeutung liegt auch in dieser Auseinandersetzung mit Adorno begründet, der heute in der Linken meistens kritiklos verehrt oder als elitärer Großbürger abgewatscht wird. Genau das tat Krahl nicht, sondern unternahm eine immanente Kritik, deren Befund letztlich Inkonsequenz lautete; sie war als rettende Kritik gemeint. In Gerbers Darstellung tauchen die politischen Fragen, an denen sich der Konflikt entzündete – die unterschiedliche Einschätzung der damaligen deutschen Verhältnisse, die Frage einer konkreten, „materialen“ Klassenanalyse und der Möglichkeit von Praxis sowie nicht zuletzt die Gewaltfrage – zwar auf, verschwinden aber zugleich wieder hinter philosophischen Floskeln wie der, es sei in dem Knatsch darum gegangen, „ob eine revolutionäre Dialektik zum damaligen Zeitpunkt möglich gewesen wäre“. So kann man es natürlich auch formulieren, aber furchtbar viel gesagt ist damit nicht. Das Bemühen, Krahls Kritik ins Leere laufen zu lassen, da die eine Antwort auf „die zentrale Frage nach der damaligen (Un-)Möglichkeit einer revolutionären Dialektik“ halt ebenso gut gewesen sei wie die andere, ist dem Beitrag deutlich anzumerken. Wenn Gerber dann noch Krahls kaum anzuzweifelndes Postulat, im Kampf um Befreiung müsse sich jede Einzelne im Interesse aller anderen eine gewisse Disziplin auferlegen, damit kommentiert, dies erinnere doch „stark an Adornos Befürchtungen, wenn dieser jede Flucht vor der Erkenntnis der eigenen Ohnmacht ins Kollektiv als Aufgabe genau jenes spontanen, subjektiven Ich-Moments bezeichnet, das unbeirrtem Denken als utopisches Moment anhaftete“, reibt man sich die Augen. Denn Krahl, unermüdlicher Kritiker des leninistischen Fetischs „Disziplin“, verstand dies gerade als Voraussetzung dafür, das bürgerliche Versprechen von Individualität bereits im gemeinsamen Kampf soweit wie möglich einzulösen und schlussendlich revolutionär zu verwirklichen. Darin eine „Flucht (…) ins Kollektiv“ auszumachen, ist grotesk.

Wenig ergiebig fällt schließlich auch Kapfingers Befassung mit einem Aufsatz von Krahl aus, der sich der „Wesenslogik der Marxschen Warenanalyse“ widmete. Kapfingers Tour durchs marxologische Labyrinth, in dem allerhand „Strukturalisten“, „Hegelmarxisten“ und andere Gestalten umherirren, mag man interessant oder langweilig finden; auffällig ist das Missverhältnis des ganzen Aufwands zu dem, was am Ende dabei herauskommt. Nämlich dies: „Die Produktionsverhältnisse sind aufgrund einer bestimmten Geschichte in eine dingliche Form geraten, dadurch aber von dieser Geschichte verselbständigt. Sie gewinnen ein undurchsichtiges Eigenleben, das Geschichte außer Kraft setzt und den Kapitalismus vielmehr als Naturgesetz etabliert.“ Abgesehen davon, dass Geschichte weniger außer Kraft gesetzt wird als vielmehr unter die Fuchtel bestimmter Sachzwänge gerät, enthalten diese Sätze nur einen von Marx tausendfach variierten Grundgedanken, der im Übrigen so schwer nicht zu verstehen ist: Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber weil sie es nicht bewusst und gemeinsam tun (auf der Grundlage von Gemeineigentum), verselbständigen sich die von ihnen eingegangenen gesellschaftlichen Verhältnisse ihnen gegenüber. Was damit gewonnen sein soll, diesen ohne Frage richtigen und zentralen, aber doch hinlänglich bekannten Gedanken ausgehend von Krahl weitschweifig noch einmal herzuleiten, bleibt nebulös. Viel aufschlussreicher wäre es gewesen, den dabei nur am Rande gestreiften Überlegungen Krahls zu den Bruchstellen des verselbstständigen Gefüges, an denen sozialrevolutionäre Bemühungen ansetzen könnten, nachzugehen.

Was bleibt?

Dass ein so fader Text über ihn geschrieben werden kann, ist dann aber auch Krahls eigene Schuld. Denn die Marotte eines bestimmten philosophierenden Zugangs zu Marx lag ihm alles andere als fern. Die Auseinandersetzung mit dem deutschen Idealismus mag in vieler Hinsicht aufschlussreich sein; eine Voraussetzung dafür, die Kritik der politischen Ökonomie zu begreifen, ist sie nicht. Mehr noch: Marxʼ Kategorien ständig rückzubeziehen auf Hegel und Kant, bringt nicht nur keinen Erkenntnisgewinn, sondern erweckt auch den furchtbar abschreckenden Eindruck, nur wer jahrelang die großen Philosophen gebüffelt habe, könne sich endlich an Das Kapital heranwagen.

Insofern würde ich für eine gewisse deflationäre Krahl-Lektüre plädieren, die nicht bei jedem philosophisch verschraubten Satz verzweifelt versucht, den Stein der Weisen darin auszumachen, sofern man sich nur genügend anstrenge. Zumal Krahl dann in seiner Gegenwartsdiagnostik des Öfteren auch gründlich daneben lag. Er hat einerseits darauf gedrängt, den verschütteten radikalen Gehalt der Marxschen Kapitalkritik endlich einzulösen, und dabei viel Treffendes zu Papier gebracht; dazu ist auch die These einer fortschreitenden Proletarisierung der Kopfarbeiter zu rechnen, selbst wenn sie sich, wie von Denner/George gezeigt, erst später als triftig erwiesen hat. Andererseits ziehen sich die oben zitierten Thesen über „Monopolkapitalismus“, „Liquidation der Zirkulationssphäre“, „Ende des Wertgesetzes“ usw. durch viele seiner Schriften. Offenbar entsprach dem Hang zu einer philosophierenden Marx-Lektüre ein geringes Interesse daran, die politökonomischen Verhältnisse der Zeit nüchtern zu untersuchen. Dass besagte Topoi nicht kritisiert werden, macht ein erhebliches Manko des Sammelbandes aus. Mohan lässt durchblicken, dass er die von ihm referierte politökonomische Zeitdiagnostik Krahls nicht unbedingt teilt, führt dies aber nicht aus; Denner/George bemerken in einer Fußnote, der Begriff des Monopolkapitalismus sei problematisch, belassen es aber ebenfalls dabei. Mehr findet sich in dem Band dazu nicht.

Auch sonst wird mit Kritik eher gespart. Eine Ausnahme stellt der Beitrag von Julian Volz dar, der Krahl ein vollständiges Versagen im Angesicht der entstehenden neuen Frauenbewegung attestiert, was umso erstaunlicher sei, als deren Anliegen, das vermeintlich Private als etwas Politisches zu begreifen, sich durchaus mit manchen Überlegungen von Krahl decke. Dagegen nimmt kein einziger Beitrag Anstoß an Krahls eigenartiger Verklärung der bewaffneten nationalen Bewegungen auf der südlichen Halbkugel. Wiederholt zollt er ihnen Respekt für ihre „Moral der politischen Kompromisslosigkeit“, aber irgendein Interesse daran, ihren Klassencharakter und die damit verbundene Programmatik zu untersuchen, lässt er nicht erkennen. So klar sein Blick auf den Terror der forcierten Industrialisierung in der Sowjetunion war, so vollständig übersah er offenbar, wieviel die sogenannten Befreiungsbewegungen von Anfang an mit solchem autoritären Staatssozialismus gemein hatten; auch Krahl ließ sich vom Charisma eines Che blenden und applaudierte dem südostasiatischen Miniatur-Stalin Ho Chi Minh, der die Trotzkisten in Vietnam mit derselben Gnadenlosigkeit verfolgte wie das russische Original. Andere Linksradikale begriffen das alles auch schon damals wesentlich besser. 4

Das Hinwegsehen über solche Schwächen in Krahls Theorie und politischem Urteilsvermögen kommt der Neigung entgegen, seine Bedeutung stark zu überzeichnen. Bereits in der Einleitung suggerieren die Herausgeber*innen, seit Krahls Tod sei in Sachen revolutionärer, also auf Praxis zielender Theorie eigentlich nichts mehr passiert: Nach den 1970er Jahren „entstanden auf der Theorieseite die Wertkritiker und die Antideutschen und auf der Praxisseite die Autonomen“; heute könne man im Rückgriff auf Krahl endlich wieder über den notwendigen Zusammenhang des so Auseinandergefallenen diskutieren. Mehr war da nicht seit 1970? Eine solche Darstellung von immerhin einem halben Jahrhundert Theorie- und Bewegungsgeschichte kann man nur als Karikatur bezeichnen, deren Zweck wohl darin besteht, Krahls Stern umso heller erstrahlen zu lassen.

 

 

  • 1. Rudi Dutschke/Hans-Jürgen Krahl, „Organisationsreferat“ (5. September 1967), in: Wolfgang Kraushaar, Frankfurter Schule und Studentenbewegung. Von der Flaschenpost zum Molotowcocktail, Bd. 2, Hamburg 1998, S. 287. Zitate aus dem besprochenen Sammelband sowie aus Krahls Konstitution und Klassenkampf (Frankfurt a.M. 1971, Neuauflage 2008) werden aus Gründen der Lesbarkeit (und Faulheit) nicht eigens ausgewiesen.
  • 2. Detlev Claussen, „Hans-Jürgen Krahl, ein philosophisch-politisches Profil“, in: Kraushaar, Frankfurter Schule und Studentenbewegung, Bd. 3, S. 68.
  • 3. An den Rändern der ML-Bewegung mag es hier und da auch Sinnvolles gegeben haben. Robert Schlosser zum Beispiel beharrt darauf, dass die „Kommunistische Gruppe Bochum/Essen“ (KGB/E), in der er bis 1983 aktiv war, kein Klub von Idioten gewesen sei und immerhin eine eigenständige Frauenorganisierung hervorgebracht habe. Antiautoritäre Genoss*innen, die in den 1970er und frühen 1980er Jahren in Fabriken gearbeitet haben, berichten nicht selten, die ML-Kader seien bei Auseinandersetzungen im Betrieb meistens sehr verlässlich gewesen.
  • 4. Zum Beispiel die französischen Situationisten. Allgemein zu den nationalen Befreiungsbewegungen: „Beiträge zur Berichtigung der öffentlichen Meinung über die Revolution in den unterentwickelten Ländern“ (https://www.si-revue.de/beitr%c3%a4ge-zur-berichtigung-der-%c3%b6ffentlichen-meinung-%c3%bcber-die-revolution/); speziell zu Vietnam (und dem Sechstagekrieg im Nahen Osten): „Zwei lokale Kriege“ (https://www.si-revue.de/zwei-lokale-kriege). Beide Texte erschienen 1967 in der 11. Ausgabe der Zeitschrift Internationale Situationniste.