Fragmente zum Krieg

16. März 2022

 

Vorbemerkungen der Communaut-Redaktion

Seit dem Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine haben regressive Tendenzen die politische Öffentlichkeit erfasst und brennen wie gewohnt auch in der Linken die Sicherungen durch. Konformismus und ein Bekenntniszwang, wie ihn ältere Semester vielleicht noch vom Kreiswehrersatzamt kennen („Was würden Sie tun, wenn ein Einbrecher Ihre Familie bedroht und Sie ein Gewehr im Wandschrank haben?“), beherrschen die Diskussion, sofern man von einer solchen noch reden kann. So wie in den vergangenen zwei Jahren jede, die vorsichtig Zweifel an der staatlichen Pandemiebekämpfung äußerte, als „Corona-Leugnerin“ verteufelt wurde, steht heute jeder als „Putin-Versteher“ am Pranger, dem das schlichte Schlachtengemälde, das praktisch überall gezeichnet wird, Unbehagen bereitet: Ein freiheitsliebendes, heldenhaftes Volk geeint im Widerstand gegen den russischen Fürsten der Finsternis, dessen Schachzüge kein Mensch verstehen kann, die jedenfalls nichts zu tun haben mit Sicherheitspolitik, Staatenkonkurrenz und anderen profanen Dingen, sondern halt einem imperialen Seelenhaushalt entspringen, wie man ihn schon vom Zaren und Stalin kennt und wie er „dem Westen“ vollkommen fremd ist, denn der hat noch nie, nie, nie einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg geführt.

Natürlich gibt es Parteigänger des autoritären Regimes in Russland, und sie finden sich nicht nur in rechtsradikalen Kreisen wie der AfD, sondern auch und gerade in den Reihen einer staatssozialistischen Linken, die seit 1989 notgedrungen mit allem Vorlieb nimmt, was scheinbar oder tatsächlich „dem Westen“ entgegensteht. Wie ihre teils verstohlene, teils ganz offene Verteidigung des Putin-Regimes zeigt, muss man sich nicht mal einen sozialistischen Anstrich geben, um ihrer Sympathien sicher zu sein. Es genügt, sich als Gegengewicht zum NATO-Imperialismus zu inszenieren. Der Bankrott dieser Linken datiert nicht erst auf Februar 2022, sie war de facto immer ein Feind der Emanzipation, aber in der jüngeren Geschichte markieren ihre verdrucksten Rechtfertigungen des brutalen Angriffskriegs auf die Ukraine einen neuen Tiefpunkt.

Der berechtigte Abscheu vor solchem vulgären Antiimperialismus treibt uns aber nicht ins Lager der liberalen NATO-Freunde. Genau das geschieht nach unserem Eindruck gerade in diversen linken Milieus, nach der üblichen Logik des kleineren Übels, die in Kriegszeiten etwas beinahe Unentrinnbares gewinnt. Anarchistische Freundinnen begeistern sich für Waffenlieferungen an die Ukraine; im Neuen Deutschland wird diskutiert, ob Linke ihre ablehnende Haltung zur Bundeswehr, jetzt kumpelhaft „die Truppe“ genannt, nicht schleunigst überdenken sollten; der DGB-Chef wird auf einer „Friedenskundgebung“ in Berlin ausgebuht, weil er die aberwitzigen Aufrüstungspläne der Bundesregierung von 100 Milliarden Euro kritisiert. Schon 2020 betrug der Rüstungshaushalt der NATO das achtzehnfache des russischen – ca. 1,1 Billionen Euro. Den Angriff auf die Ukraine hat das nicht verhindert geschweige denn ein einziges Leben gerettet. Die Kriegstrommeln und die allgemeine Begeisterung über Aufrüstung und Freiwillige, die in den Krieg ziehen, sind für uns extrem beunruhigend. Als Linke sollten wir uns gegen die zunehmende Betriebsamkeit auf den deutschen und amerikanischen Militärstützpunkten stellen.

Wir wissen, dass die wenigen linken Stimmen, die aus der Ukraine nach hier durchdringen, die Unterstützung des bewaffneten Widerstands gegen die russische Invasion als praktisch alternativlos darstellen. Ob eine realistische Chance besteht, diesen Widerstand außerhalb des staatlichen Rahmens zu führen, wissen wir nicht, aber es scheint uns sehr zweifelhaft. Wir haben denen, die zurzeit unter russischem Artilleriebeschuss liegen, keine guten Ratschläge aus der Ferne zu erteilen. Aber warum der klassische linke Defätismus kategorisch ausgeschlossen sein soll, leuchtet uns nach Lage der Dinge auch nicht ein. Welche Aussicht hat militärischer Widerstand gegen eine überlegene russische Armee, sofern nicht die NATO-Staaten eingreifen – was der Auftakt zu einem Dritten Weltkrieg sein könnte, der vermutlich als erstes die Ukraine in Schutt und Asche legen würde? Und angenommen, das Putin-Regime sollte tatsächlich eine Besatzung und Eingemeindung der Ukraine im Sinn haben, die die Bevölkerung denselben diktatorischen Zuständen unterwerfen würde, wie sie in Russland selbst bereits herrschen – gäbe es dann nicht andere, zivile Mittel des Widerstands, etwa Massenstreiks? Eine Linke, die ihren eigenen Antimilitarismus ernst nimmt, müsste jedenfalls versuchen, sich dem Sog der militärischen Logik zu entziehen, die nur zwei bewaffnete Seiten kennt, zu deren einer man sich zu bekennen hat.

Was wir in jedem Fall wissen, ist, dass ukrainische Männer zwischen 18 und 60 Jahren zurzeit das Land nicht verlassen dürfen, dass die, die es versuchen, den Militärbehörden übergeben werden. Der ukrainische Staat, angeführt von dem in westlichen Medien zum Freiheitshelden verhimmelten Präsidenten Selenskyj, behandelt Leib und Leben seiner wehrfähigen männlichen Bürger praktisch als sein Eigentum, nimmt sie in Beschlag für die Landesverteidigung. Darüber ist hierzulande sehr wenig zu lesen, auch in der Linken wird es kaum kritisiert. So wenig wir irgendeine Lösung für den Krieg in der Ukraine haben, so sehr stellt eine solche Kritik das Minimum für eine antimilitaristische Position dar, auch in diesem Konflikt. Wer gehen will, soll gehen dürfen. Das Recht auf Flucht und auf ein sicheres Leben, das seit Jahren vielen Menschen an den europäischen Außengrenzen verweigert wird, sollte auch im Fall der Ukraine allen zugestanden werden.

Doch wir sollten nicht vergessen, dass sich auch in Russland Widerstand regt. Trotz der drohenden Haftstrafen sind Menschen in Russland gegen den Krieg auf der Straße. Wenn nun überhaupt eine schwache Hoffnung besteht, dann vor allem in Desertionen auf russischer Seite. Ob die Berichte über ihre Zunahme ukrainische Durchhaltepropaganda sind oder zumindest einen wahren Kern enthalten, können wir nicht beurteilen. Es wäre jedenfalls nicht das erste Mal, dass einem kriegführenden Staat von den eigenen proletarischen Truppen eine Niederlage bereitet wird.

Wenn wir uns den Kopf über den Krieg zerbrechen, sollten wir uns nicht auf irgendeine imaginäre Feldherrenposition einlassen. Unser Blick sollte sich auf das Proletariat richten: Was wäre eine Klassenposition in diesem Konflikt?

Ähnliche Fragen, wie sie uns umtreiben, beschäftigen natürlich auch Genoss:innen anderswo. Im Sinne einer internationalen Diskussion dokumentieren wir im Folgenden einen Beitrag aus den Reihen der Angry Workers, einem subversiven Klub auf den britischen Inseln, mit dem wir schon seit einer Weile im Austausch stehen. Der Genosse, der hier den subjektiven Eindruck interner Diskussionen festhält, kommt zu dem auch für uns plausiblen Schluss, dass die Frage „Was würdest du tun, wenn du in der Ukraine wärst?“ schnell auf Abwege führt – insbesondere dann, wenn man über keinen tieferen Einblick in die Geschehnisse vor Ort verfügt. Näher liegend schiene uns, das Umkippen des geistigen Klimas und der politischen Kräfteverhältnisse in hiesigen Verhältnissen aufs Korn zu nehmen. Beiträge zur Diskussion sind immer willkommen.

Redaktion Communaut

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Krieg in der Ukraine – Fragmente einer Diskussion bei den Angry Workers

Zuerst veröffentlicht am 10. März 2022 auf www.angryworkers.org

Das Folgende ist eine subjektive Zusammenfassung von Diskussionen, die wir bei den Angry Workers – teils recht emotional und persönlich – über den Krieg in der Ukraine geführt haben. Ich möchte einige der Streitpunkte herausarbeiten und andere Genoss:innen dazu einladen, sich zu äußern.

Jenseits der offenen und strittigen Fragen waren wir uns über manches einig: Nach Kräften unterstützen sollten wir die Antikriegsdemonstrant:innen und Deserteure in Russland, die Arbeiter:innen dort, die gegen die wirtschaftlichen Folgen des Krieges streiken, und die aus der Ukraine Flüchtenden, die dem Krieg entkommen wollen. Unterstützen sollten wir alle Arbeiter:innen, die sich weigern, Waren abzufertigen, an denen Blut klebt – wie die britischen Hafenarbeiter, die keine Ölladungen aus Russland angenommen haben. Deshalb haben wir den Aufruf der Plattform für einen Transnationalen Sozialen Streik als – wenn auch etwas pazifistisches – Minimalprogramm für gemeinsame Aktionen unterzeichnet und hoffen auf eine praktische Zusammenarbeit in diesem Rahmen.

Um die Streitpunkte zu verstehen, sollten wir uns vielleicht zunächst vergegenwärtigen, was wir für unsere gemeinsame Position zu kapitalistischen Kriegen gehalten hatten und wie dies mit der konkreten Situation in der Ukraine kollidiert ist. Es ist vermutlich unstrittig, dass unsere grundsätzliche Haltung lautete: „Arbeiter:innen sollten nicht die Kriege ihrer Bosse führen“, also No War but the Class War, um es mit einer etwas schlichten Parole auszudrücken. Das sind gewissermaßen noch Fasern der Nabelschnur, die uns mit den Hinterzimmern von Zimmerwald und anderen kommunistischen Internationalist:innen der Vergangenheit verbindet.

Weitgehend einig waren wir uns meines Erachtens, was die Hintergründe des Kriegs betrifft. Wir wissen um die Nato-Osterweiterung und die Versuche des amerikanischen Staates, einen Keil zwischen Russland, China und die EU zu treiben. Wir wissen um die Ambitionen des russischen Staates, sich zum Polizisten der östlichen Hemisphäre zu machen, und um sein krudes, auf Exporten basierendes totalitäres Regime. Es besteht kein Zweifel daran, dass alle diese Rivalitäten, die durch die globale Krise noch verschärft werden, in der Ukraine zum Tragen kommen.

Aber was genau ist ein „Krieg der Bosse“? Und was hat man von einem internationalistischen Prinzip, wenn das eigene Dorf gerade von einem russischen Panzer beschossen wird? Inwieweit geht es nicht einfach darum, dass sich Arbeiter:innen in der Ukraine gegen eine militärische Aggression zur Wehr setzen müssen? Wir haben uns dieser Frage vor allem auf drei Ebenen genähert.

Erstens geht es in einem ganz unmittelbaren Sinn um Selbstverteidigung. Wir haben uns gefragt, ob die Leute überhaupt eine andere Wahl haben, als zu den Waffen zu greifen, also ob ihnen die Situation dies nicht aufzwingt. Könnten wir Menschen im Warschauer Ghetto, in Srebrenica oder unter Angriffen des Islamischen Staates sagen, sie sollten nicht zu den Waffen greifen, weil diese Waffen vielleicht von Nationalist:innen stammen oder weil ihr Widerstand den Interessen irgendeiner imperialistischen Großmacht entgegenkommt? Ich denke, nein. Andererseits: Ist (oder war!) die Situation in der Ukraine eine, in der es nur die Alternative gibt, „zu kämpfen oder umgebracht zu werden“, in einem ganz unmittelbaren Sinn? Während der russische Staat die Strategie verfolgt, den Einmarsch als eine „Befreiung“ darzustellen, die von den meisten Ukrainer:innen begrüßt wird, hat der ukrainische Staat ein Interesse daran, zu zeigen, dass es Widerstand gibt. Ein paar tote Zivilist:innen sind da durchaus willkommen. Das Feuer muss und kann auch leicht geschürt werden. Das ist die eine Gefahr. Die andere besteht darin, eine Chance zur Fraternisierung mit jungen russischen Soldaten aus der Arbeiter:innenklasse zu verpassen. Nationalistische Gangs und die reguläre Armee werden kein Interesse daran haben, das auch nur zu versuchen.

Auf einer zweiten Ebene stellt sich die Frage der Selbstverteidigung weniger direkt. Würden wir in einer russischen Panzerkolonne, die auf das Regierungsgebäude in Kiew zurollt, nicht auch einen Angriff auf eine Zukunft sehen, in der Arbeiter:innen mehr Freiheiten haben? Eine Anbindung an die EU könnte für sie besser sein, insofern sie Zugang zu besseren Arbeitsmärkten und mehr persönliche Freiheiten mit sich bringt (sofern man nicht gerade in einem Stahl- oder Bergwerk arbeitet, dem im Zuge einer weiteren Marktliberalisierung die Schließung drohen würde). Das ist keine bloß rhetorische Frage: Viele Arbeiterinnen haben sich nicht deshalb dazu entschieden, zu den Waffen zu greifen, weil sie „einfach ihre Häuser verteidigen wollen“ oder eingefleischte Blut-und-Boden-Nationalist:innen wären. Sie sind nicht blöd. Sie wissen, dass das Leben auf der westlichen Seite des Vorhangs besser sein wird.

Selbst aus einer weitergefassten politischen Perspektive könnten wir sagen, dass der bestmögliche Ausgang des Krieges für die Arbeiter:innenklasse vor Ort und international die Niederlage des russischen Staates wäre, des unmittelbaren Aggressors, und somit der Sturz von Putin. Das sage ich nicht, weil ich viel Sympathie für die EU hätte, sondern aufgrund der jüngsten Ereignisse in Kasachstan, wo ein Volksaufstand mit russischen Panzern plattgewalzt wurde. Und natürlich wegen Syrien. Aber die Frage ist: Wie kann der russische Staat bezwungen werden? Genau hier wird es heikel. Realistisch betrachtet kann er militärisch nur besiegt werden, wenn die ukrainischen Streitkräfte weitere Unterstützung durch die Nato bekommen – was bereits geschieht – und ihm Nuklearschläge angedroht werden, womit der Krieg außer Kontrolle geraten könnte. Würde das die globale Arbeiter:innenklasse stärken? Sanktionen werden entweder nicht genug Wirkung haben (beziehungsweise vor allem die Arbeiter:innen in Russland treffen) oder von EU-Staaten aufgrund ihrer Abhängigkeit von russischem Öl und Gas nur halbherzig, mit allerhand Schlupflöchern durchgesetzt werden. Vor diesem Hintergrund fordern die meisten Linken kurzerhand „Flugverbotszonen“ oder eine direkte militärische Unterstützung der ukrainischen Armee. Das entspricht den Interessen beispielsweise des neuen deutschen Militarismus: Die Ampelkoalition hat bekanntlich gerade zusätzliche 100 Milliarden Euro für Rüstungsausgaben beschlossen, unter Beteiligung derselben grünen Partei, die bereits während des Jugoslawienkriegs mitregiert hat. Die Alternative zu einem direkten Eingreifen der Nato besteht in einem langanhaltenden „hausgemachten“ Krieg mit Tausenden von Toten, der die russischen Streitkräfte langsam zermürben könnte. Doch ein solcher „Widerstand“ wäre vollkommen in den Händen nationalistischer Kräfte. Möglicherweise würden sie gewinnen, um den Preis eines Blutbads – und vermutlich würden sie einer Teilung der Ukraine zustimmen. Das wäre eine halbe Niederlage für Putin und eine vollständige für den proletarischen Internationalismus.

Der Jugoslawienkrieg ist ein aufschlussreiches Beispiel mit Blick auf die Situation in der Ukraine. Einige Genoss:innen von uns waren damals stark an Versuchen beteiligt, Solidarität innerhalb der Arbeiter:innenklasse zu organisieren. Auch im Jugoslawienkrieg wurden nationalistische Tendenzen vor allem von Deutschland und Österreich finanziell und politisch gefördert. Dieser Hintergrund wird häufig vergessen und stattdessen die Black Box des Krieges ins Blickfeld gerückt: die „ethnischen Rivalitäten“. Dadurch konnte die Bundesregierung mit ihrem grünen Außenminister eine Militärintervention als Mittel rechtfertigen, um „ein neues Auschwitz zu verhindern“ – ein linker Vorwand für brutale Marktliberalisierung. Die ethnischen Massaker wurden nicht verhindert, aber einige ehemalige jugoslawische Teilstaaten sind heute EU-Mitglieder, die billige Arbeitskraft oder profitable Investitionsmöglichkeiten bieten. „Individuell“ betrachtet mag es Arbeiter:innen zumindest in Kroatien und Slowenien heute wirtschaftlich wie politisch besser gehen als unter „jugoslawischer“ Herrschaft – aber um welchen Preis, wenn wir den Blick etwas erweitern?Tausende wurden umgebracht, die nationalistischen Spaltungslinien in der Arbeiter:innenklasse der Region vertieft…

Es gibt in der Linken ein bestimmtes „objektives Fortschrittsdenken“, das auch bei den Angry Workers teilweise nachhallt. „Eine Niederlage des russischen Staates wäre objektiv besser für die Arbeiterklasse insgesamt. Die EU ist besser als eine rückständige Diktatur. Die Zugehörigkeit zu einem entwickelten Wirtschaftsblock, in dem es mehr demokratische Rechte gibt, verbessert die Kampfbedingungen der Arbeiter:innenklasse. In Abwesenheit der Revolution sollten sich Arbeiter:innen für denjenigen kapitalistischen Block entscheiden, der ihnen eine bessere Grundlage für zukünftige Kämpfe bietet.“ Da es an einer eigenständigen Bewegung der Arbeiter:innenklasse mangelt, ist ein solches Denken attraktiv. Das Problem besteht darin, dass es die Arbeiter:innenklasse mittel- und langfristig davon abhält, eben diese Eigenständigkeit zu entwickeln. Was ist 1914 passiert, wenn nicht genau das? Die SPD argumentierte, ein Krieg gegen den Zarismus komme den Zielen der modernen Arbeiter:innenbewegung entgegen, weshalb man die Kriegskredite bewilligen sollte – in gewisser Weise war dies kein Verrat, sondern nur ein Beispiel dafür, wohin dieser politische Ansatz praktisch führt. Das Muster hat sich mit diversen „Befreiungen“ wiederholt, bei denen sich die Arbeiter:innen auf die Seite der „fortschrittlichen“ Teile der Bourgeoisie stellen mussten, von der sogenannten Unabhängigkeit Indiens bis zu den antikolonialen Kämpfen in den Jahrzehnten danach. Beim Golfkrieg 1990/91 habe ich ähnliche Argumente gehört. „Fortschrittliche“ deutsche Linke erklärten damals, Saddam sei ein Irrer, ein Antisemit und Massenmörder (was er auch war!), während die USA die weltweite Ausbreitung des Kapitalismus vorantrieben, der die einzige materielle Grundlage sei, um sich Kommunismus vorzustellen. Folglich war die Friedensbewegung kleinbürgerlich und dementsprechend sollten wir unsere Schulbesetzung beenden.

Doch dann wiederum ist die Situation in der Ukraine eine andere. Und hier kommt die dritte Ebene ins Spiel. Wir haben uns gefragt, ob es innerhalb des (bewaffneten Widerstands) selbst – im Rahmen der unmittelbaren, aber auch der politischen Selbstverteidigung im weiteren Sinne – Raum für die Erfahrung von Solidarität und antiautoritärer Gemeinschaft gibt. Wir hören tatsächlich viel über nachbarschaftliche Unterstützung, über solidarisches Handeln unter Menschen, die sich nicht kennen, und den Aufbau unabhängiger Kampfeinheiten. Die Frage ist hier, ob eine materielle und politische Grundlage dafür besteht, dass diese Räume nicht vom ukrainischen Nationalismus, der Mafia, dem »starken Mann« oder den imperialistischen Mächten vereinnahmt werden. Woher kommen die Waffen? Wer hat die Kampferfahrung? Unsere Genoss:innen aus Polen berichten, dass der Preis für Waffen und Ausrüstung wie etwa Helme stark gestiegen ist – da besteht kaum Möglichkeit für unabhängige Bewaffnung. Faschistische paramilitärische Asow-Einheiten sind in die reguläre Armee integriert worden und erhalten moderne Waffen und Unterweisung über Kanäle, die mit der Nato verbunden sind und von der ukrainischen Oligarchie finanziert werden. Die ‚Gemeinschaft‘ könnte mit Unterstützung der lokalen Wirtschaft auch eine klassenübergreifende nationale Prägung erhalten. Ich persönlich denke, dass sich dieser ‚antiautoritäre‘ Geist ohne eine bereits vorher entstandene Einheit und politische Klarheit innerhalb der Arbeiter:innenklasse niemals entwickeln kann, wo das Kräfteverhältnis so vollständig für die staatlichen Kräfte und Nationalist:innen ausschlägt. Das ist nicht das Spanien von 1936. Doch dann wiederum ist es das nie, und wir können uns auch nicht einfach in unsere defätistischen Sessel zurücklehnen. Vielleicht müssen wir einfach akzeptieren, dass die Arbeiter:innenklasse ihre Stärke nicht allmählich über Arbeitskämpfe ausbilden wird, sondern sich auch in diesen chaotischen Situationen neu zusammensetzen muss…?

Was wäre die Alternative? Ist es realistisch, den Arbeiter:innen in der Ukraine zu raten, den russischen Staat einfach seine Marionettenregierung durchsetzen zu lassen und dann zu eigenen Bedingungen für ihre Freiheit zu kämpfen? Kann man sich unter den Voraussetzungen eines imperialistischen Polizeistaats einfach neu organisieren? Für beides kennt die Geschichte Beispiele. Es gab viele Situationen, in denen militante Arbeiter:innen am Ende isoliert, inhaftiert und im Exil waren, weil sie die Konfrontation scheuten und auf einen günstigeren Moment hofften. Oft gelang es Arbeiter:innen aber auch, sich gegen Polizeistaaten zu ‚eigenen Bedingungen‘ und ohne viel Blutvergießen und nationalistischen Bullshit zur Wehr zu setzen, so in Südkorea und Brasilien in den 1980er Jahren. Vielleicht müssen die Arbeiter:innen in der Ukraine da durch, vielleicht müssen sie die Köpfe einziehen und dem Sturm trotzen, um danach den russischen Besatzungsstaat zu ihren eigenen Bedingungen zu bekämpfen, statt unter nationaler bürgerlicher Führung eine Eskalation des Kriegs zu riskieren. Doch diese Wahl ist eine spekulative. Denn es gibt kein kollektives Subjekt, das als solches wählen könnte: Wer sind „die Arbeiter:innen in der Ukraine“? Vielleicht ist der Umstand, dass bereits über zwei Millionen das Land verlassen haben, Teil dieser Wahl.

Während anfangs die Frage „Was würdest du tun, wenn du in der Ukraine wärst?“ noch produktiv war, hat sie sich schnell in eine Art depolitisierte Sackgasse verwandelt. Was kann man denn tun, wenn es keine Klassenbewegung vor Ort gibt? Daher kommen wir am Ende überein, die allgemeinen ‚pazifistischen‘ Anstrengungen zu unterstützen und etwas verschämt noch die ‚Arbeiter:innenklasse‘ hintanzuhängen. Ich persönlich habe mich gefragt, was ich meinen Kolleg:innen im Krankenhaus zum Krieg erzählen würde. Ich hatte eine Diskussion mit einem schlecht bezahlten Kollegen vom Bettentransport, der aus Polen stammt. Er meinte: „Gut, dass die deutsche Regierung jetzt mehr für das Militär ausgibt. Das ist einfach nötig in der Welt, in der wir leben. Das sieht man an der Ukraine.“ Das hier angehängte Flugblatt ist ein Gedankenspiel: Was haben wir zu sagen, nicht untereinander oder zu anderen Linken, sondern zu unseren Kolleg:innen? Zugegeben, es liest sich vielleicht etwas langweilig, doch es ist auch Ausdruck einer objektiven Hilflosigkeit. Wie können wir wirklich, praktisch, wieder einen Internationalismus der Arbeiter:innenklasse aufbauen, jenseits abgestandener Prinzipien? Die Linke gleitet schnell in eines der beiden entgegengesetzten Lager ab (pro Putin/pro Unabhängigkeit), und die schwachen Stimmen, die nach Einheit der Arbeiter:innenklasse und Systemwandel rufen, sind kaum zu vernehmen. Welche Praxis – Selbstverteidigung, Unterstützung etc. – trägt dazu bei, dass diese Stimmen besser zu hören sind? Und welche Praxis erstickt sie oder widerspricht ihnen?

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Flugblattentwurf

 

Von der Krise bis zum Krieg: Welchen Ausweg gibt es?

Wie die Arbeiter:innen andernorts auch kommen wir gerade aus der Pandemie und sind jetzt mit den Gefahren eines eskalierenden Kriegs in der Ukraine konfrontiert. Wir sind müde von unseren eigenen täglichen Kämpfen. Einige von uns haben während der Pandemie ihren Job verloren, andere sind überarbeitet, jetzt stehen alle vor steigenden Lebenshaltungskosten. Haben wir überhaupt einen Kopf für den Krieg?

Ob wir wollen oder nicht, dieser Krieg betrifft auch uns. Als Menschen sehen wir andere leiden. Als Arbeiter:innen sehen wir unsere Löhne von steigenden Energie- und Lebensmittelpreisen aufgefressen. Wir sind mögliche Opfer, falls der Krieg weiter eskaliert. Doch auf andere Weise sind wir sogar noch tiefer in die Situation verstrickt.

In einer Gesellschaft, in der alles ein Preisschild hat und auf dem Markt verkauft wird – von Arbeit über Nahrung bis zu Waffen –, kann Krieg für manche ein gutes Geschäft sein. Einige EU-Länder verkaufen Waffen an die Ukraine und kaufen gleichzeitig Öl und Gas aus Russland. Nationalstaaten konkurrieren auf diesen Märkten, und oft schlägt diese Konkurrenz in Krieg um.

Wir leben in einer Gesellschaft, in der sich die Potentiale für ein gutes Leben gegen uns wenden. Neue Technologie führt zu Arbeitsplatzverlusten und stressigerer Arbeit, weil sie nicht zu unseren Gunsten, sondern für Profite verwendet wird. Während die Armut zunimmt, werden Milliarden an Dollars, Euros und Rubel für die Kriegsmaschinerie ausgegeben. Wie können diejenigen, die an der macht sind, diesen Wahnsinn rechtfertigen, aus dem sie Privilegien und Profite ziehen? Indem sie einen externen Feind schaffen. Arbeiter:innen in Russland sind sicher nicht glücklich, ebenso wenig Arbeiter:innen in der Ukraine. Doch statt die Herrschenden zu stürzen, sind sie jetzt in einen Krieg verwickelt.

Es war ein internationaler Arbeiter:innenaufstand, der den Ersten Weltkrieg beendete. Jetzt brauchen wir einen Arbeiter:innenaufstand, um den Dritten Weltkrieg zu verhindern. Wir können unsere mutigen Schwestern und Brüder in Russland unterstützen, die gegen den Krieg protestieren und dabei Festnahme und Haftstrafen riskieren. Wir können die tausenden Lehrer:innen in Russland unterstützen, die sich öffentlich geweigert haben, Putins Version über den Krieg zu lehren. Wir können Arbeiter:innen in Russland unterstützen, die aktuell wegen unbezahlter Löhne, eine weitere Kriegsfolge, streiken. Wir können diejenigen unterstützen, die sich weigern, in einer der kriegführenden Armeen zu kämpfen und versuchen, aus dem Land herauszukommen. Wir können Arbeiter:innen in der Ukraine unterstützen, die sich gegen die militärische Besatzung wehren und zugleich dagegen, in ein nationalistisches Blutvergießen hineingezogen zu werden. Wir können die vielen Hafenarbeiter:innen unterstützen, die sich weigern, Öl aus Russland oder Raketen für den Export nach Saudi-Arabien zu verladen.

Unsere beste Unterstützung liegt darin, für eine bessere Gesellschaft hier bei uns zu kämpfen. Wir brauchen eine Gesellschaft der Solidarität und Zusammenarbeit, in der nicht Märkte, Profite und Kriegsherren, sondern in der wir selbst entscheiden, wie und was wir für ein besseres Leben produzieren. Haltet zusammen, gegen Zwangsräumungen, Lohnkürzungen, Abschiebungen und andere Angriffe auf uns als Arbeiter:innen!