Der Krieg in der Ukraine und die „Arbeiterklasse“

07. Oktober 2023

Im Folgenden veröffentlichen wir einen kurzen Kommentar unseres Genossens Robert Schlosser zur aktuellen Situation in der Ukraine. Schlosser geht unter anderem auf die große Fluchtbewegung von wehrfähigen Männern aus der Ukraine und das Risiko einer nuklearen Eskalation ein.

Anlass des Artikels war ein Interview der Frankfurter Rundschau mit dem Brigadegeneral a.D. Helmut Ganser. Wir hätten es vor ein paar Jahren wahrscheinlich nicht für möglich gehalten, aber im Kontext der aktuellen Diskussionen um den Krieg, auch innerhalb der Linken, erscheinen die Aussagen eines Bundeswehrgenerals wie eine Stimme der Vernunft.

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Als Lohnarbeiter:innen noch mit eigener Stimme sprachen, nahmen sie zum deutsch-französischen Krieg von 1870/71 u.a. wie folgt Stellung:

„Die Stimme der französischen Arbeiter ist zurückgehallt aus Deutschland. Eine Arbeitermassenversammlung in Braunschweig hat am 16. Juli sich mit dem Pariser Manifest vollständig einverstanden erklärt, jeden Gedanken eines nationalen Gegensatzes gegen Frankreich von sich gewiesen und Beschlüsse gefaßt, worin es heißt:

‘Wir sind Gegner aller Kriege, aber vor allem dynastischer Kriege ... Mit tiefem Kummer und Schmerz sehn wir uns hineingenötigt in einen Verteidigungskrieg als ein unvermeidliches Übel; aber gleichzeitig rufen wir die gesamte denkende Arbeiterklasse auf, die Wiederholung eines solch ungeheuren sozialen Unglücks unmöglich zu machen, indem sie für die Völker selbst die Macht verlangt, über Krieg und Frieden zu entscheiden und sie so zu Herren ihrer eignen Geschicke zu machen.‘

[...] Die englische Arbeiterklasse reicht den französischen wie den deutschen Arbeitern brüderlich die Hand. Sie ist fest überzeugt, daß, möge der bevorstehende scheußliche Krieg endigen, wie er will, die Allianz der Arbeiter aller Länder schließlich den Krieg ausrotten wird. Während das offizielle Frankreich und das offizielle Deutschland sich in einen brudermörderischen Kampf stürzen, senden die Arbeiter einander Botschaften des Friedens und der Freundschaft. Diese einzige große Tatsache, ohnegleichen in der Geschichte der Vergangenheit, eröffnet die Aussicht auf eine hellere Zukunft. Sie beweist, daß, im Gegensatz zur alten Gesellschaft mit ihrem ökonomischen Elend und ihrem politischen Wahnwitz, eine neue Gesellschaft entsteht, deren internationales Prinzip der Friede sein wird, weil bei jeder Nation dasselbe Prinzip herrscht – die Arbeit!“1

Das ist lange her, es war eine andere Zeit, es waren andere Umstände und es gab eine erwachende, selbständige Bewegung der Lohnarbeiter:innen, die ihre eigenen Positionen suchte und fand … in deutlicher Abgrenzung zum öffentlichen Kriegsgeschrei.

Solche Äußerungen und Stellungnahmen zum Krieg zwischen Russland und der Ukraine, den Russland unter dem Schlachtruf eines wieder zu belebenden Großrussland begonnen hat, findet man heute praktisch überhaupt nicht. „Linke“, die für Demokratie und Menschenrechte streiten, kennen nur noch eins: uneingeschränkte militärische Unterstützung für den gerechten „nationalen Befreiungskrieg“ der Ukraine. Die Empörung über diesen Krieg gilt ausschließlich der Verletzung des Völkerrechts, der territorialen Integrität der Ukraine und der Bombardierung der zivilen Bevölkerung in der Ukraine mit zahllosen Opfern. Die Opfer der Kriegführung selbst, die zahllosen Soldat:innen, die ihr Leben lassen oder verstümmelt werden, werden weder gezählt noch beklagt. Weder die russische noch die ukrainische Regierung veröffentlichen Zahlen über die Opfer an der Front. Es scheint sie gar nicht zu geben. Wer sind diese Opfer, die nirgends beklagt werden? Es sind vor allem Männer im „wehrfähigen Alter“, die „eingezogen“ wurden. Die meisten dieser Menschen waren vor ihrem Einzug in die Armee Lohnarbeiter:innen, die jetzt in Schützengräben verbluten. Sie sind die Opfer von nationalem russischen Größenwahn und Verteidigung nationalstaatlicher Grenzen der Ukraine!

Kein „Linker“ oder „Arbeiter“, sondern ein General a.D. der deutschen Bundeswehr sagt dazu:

„Die New York Times hat kürzlich unter Berufung auf amerikanische Regierungsquellen berichtet, dass in diesem Krieg bereits 500.000 Soldaten gefallen2 sind. Auf ukrainischer Seite sollen es 70.000 sein. 70.000! Junge Menschen, Wehrpflichtige. Zerfetzt, verbrannt, verblutet. Tausende zivile Opfer kommen noch hinzu. So eine Zahl ist schwer zu begreifen und lässt sich deshalb leicht verdrängen.“

Und weiter:

„Auch ich reibe mir die Augen, wenn ich Grünen-Politiker wie Anton Hofreiter oder Michael Roth von der SPD höre, die mit hochmoralischen Argumenten quasi die Seiten gewechselt haben.“3

Allein nach Deutschland sind inzwischen über 160.000 „wehrfähige“ Männer  aus der Ukraine geflohen.4

„Während ein Teil der ukrainischen Bevölkerung gegen die Invasoren kämpft und einen hohen Blutzoll zahlt, haben sich Hunderttausende Wehrpflichtige in den Westen abgesetzt. Kiew erhöht den Druck auf die EU, diese Landsleute auszuliefern. Doch es gibt keine rechtliche Handhabe dafür.“5

Es sollen insgesamt 650.000 sein, die da geflohen sind. Eine ganze Armee, wenn man so will!

Das ist eine Abstimmung mit den Füßen, über die hierzulande niemand reden will. Ständig wird betont, dass die Bevölkerung der Ukraine sozusagen wie ein Mann hinter der Regierung und dem Krieg steht. „Linke“ kommen mit Meinungsumfragen und Interviews und ereifern sich, wenn man das in Frage stellt.

Der Krieg zwischen dem russischen und dem ukrainischen Staat um die territorialen Grenzen der Ukraine ist zweifellos etwas anderes als der Krieg zwischen Frankreich und Deutschland 1870/71.

Das beginnt schon mit den zum Einsatz kommenden Waffensystemen und das endet bei den internationalen Kontexten in denen diese Kriege stattfanden bzw. stattfinden. Beides sind Aspekte, die heute die Gefahr einer katastrophalen Eskalation hervorbeschwören. Diese Gefahr hängt elementar mit der Atombombe zusammen, über die Russland in großer Zahl verfügt. Abhängig von dem Maß, in dem das Putin-Regime mit seinen Großrussland-Träumen in Bedrängnis gerät, droht eine atomare Eskalation des Konfliktes. Mit Blick auf diese Gefahr erscheint ein Sieg der Ukraine im konventionellen Krieg wenig wünschenswert. Ein solcher Sieg wäre überhaupt nur möglich durch immer stärkeres Engagement der Nato, was wieder die Gefahr der Eskalation erhöht. Die Gefahr dieser Eskalation spielt bei den begeisterten Verteidigern der nationalen Unabhängigkeit keine Rolle. Sowenig sie die toten Soldat:innen „lohnabhängiger Herkunft“ auf beiden Seiten interessieren, sowenig machen sie sich Gedanken über die möglichen Opfer des Atomeinsatzes.

Der bereits oben zitierte General antwortet in dem Interview mit der Frankfurter Rundschau auf die Frage, ob zu leichtfertig mit der nuklearen Bedrohung umgegangen wird:

Ja, zumindest einige, die sich so äußern. Wir dürfen uns doch nicht an die rote Linie der Russen herantasten und damit pokern. Die Folgen einer nuklearen Eskalation sind so gravierend, so katastrophal und wahrscheinlich auch nicht mehr kontrollierbar, dass man die Eintrittswahrscheinlichkeit so gering wie möglich halten muss.

Im Allgemeinen wird Risiko definiert als Eintrittswahrscheinlichkeit mal Schadenshöhe. Und wenn ich davon ausgehe, dass die Eintrittswahrscheinlichkeit zwar möglicherweise gering ist, aber die Schadenshöhe mit Millionen Toten extrem hoch, muss ich auch das Risiko als hoch einstufen. Deshalb plädiere ich seit Anbeginn des Krieges dafür, nicht mit dem nuklearen Risiko zu spielen.“6

Ich lese da das erste Mal in der Auseinandersetzung um den Krieg, dass jemand weiß, wovon er spricht, wenn es um das Risiko geht. Zur Risikobeurteilung gibt es eine internationale Industrienorm (DIN/EN/ISO), die der General offensichtlich kennt und deshalb sehr richtig zu dem Ergebnis kommt, dass das Risiko eines Atomkrieges sehr hoch ist. Sie steigt natürlich weiter, je größer die Eintrittswahrscheinlichkeit ist. In Industrien, in denen man nach „Stand der Technik“ arbeitet, weiß man den Wert von Risikobeurteilungen zu schätzen, um etwa schweren und tödlichen Arbeitsunfällen zu begegnen. Ich weiß aus Erfahrung, dass Missachtung solcher Risikobeurteilungen und daraus abgeleiteter Schutzmaßnahmen immer wieder zu vermeidbaren tödlichen Arbeitsunfällen führt. Die sind zwar hierzulande inzwischen recht selten, kommen aber immer wieder vor. Wenn es um die Gefahr eines Atomkrieges geht, ist die Bedeutung einer richtigen Risikobeurteilung und daraus abgeleiteter Vorbeugemaßnahmen natürlich noch sehr viel höher. In den öffentlichen Diskussionen, speziell unter „Linken“ spielt das aber keine Rolle. Von Risikobeurteilung versteht man nichts! Beurteilen kann man aber immer alles.

Weil der General das Risiko eines Atomkrieges aus richtigen Gründen (Eintrittswahrscheinlichkeit mal Schadenshöhe) so hoch einschätzt, kommt er zu „Vorbeugemaßnahmen“ (Kompromisslösung, Waffenstillstand), die auch im Interesse der Lohnarbeiter:innen liegen, die in der Ukraine für nationale Interessen verbluten.

Natürlich ist der General kein sozialrevolutionärer Kommunist und verschwendet keinen Gedanken daran, ob nicht durch eine andere Wendung der Ereignisse, ganze andere Faktoren den Krieg beenden könnten. Eine tiefgreifende allgemeine Weltwirtschaftskrise, die durch weitere Einschränkung des „Freihandels“ (Sanktionen, nationaler Protektionismus) ausgelöst werden könnte, würde die Karten neu mischen; je nachdem, wie nachhaltig die kriegführenden Länder selbst, wie die „Unterstützernationen“ der Ukraine davon betroffen wären. Das könnte dazu führen, dass die Regierungen den Krieg nicht fortsetzen können und die Lohnarbeiter:innen ihn nicht fortsetzen wollen.