Das Elend des Aktivismus

11. Januar 2023

Das Elend des Aktivismus

Die Ende Oktober erschienene Dokumentation Rise Up will filmische Antworten auf die drängende Frage nach der Möglichkeit der Weltveränderung liefern. Laut Presseheft möchte der Film den Hoffnungslosen neue Hoffnung machen, indem gezeigt wird, „dass politischer Einsatz kein Kampf gegen Windmühlen ist, sondern dass man globalen Krisen und sozialer Ungerechtigkeit entgegentreten und gewinnen kann!“ Er will vorführen, „wie sich jeder Einzelne konkret gegen die großen Ungerechtigkeiten unserer Zeit einsetzen kann“, damit die nun mit neuer Hoffnung Ausgestatteten schließlich den Mut fassen können, „die Entscheidung [...] [zu fällen], Normalität und Sicherheit hinter sich zu lassen, um etwas ganz Neues zu wagen.“ Den vier Regisseur:innen aus dem deutschen Filmkollektiv leftvision geht es – wie so vielen Menschen, die die bedrückende Gegenwart fast wahnsinnig macht –, um die Freisetzung der politischen Potentiale des Einzelnen, sich den herrschenden Verhältnissen durch die Tat zu widersetzen.

Dieser hoffnungslose Einzelne muss sich im filmischen Prolog zunächst schier erdrücken lassen von der Schwere und Wucht des Gegenwartskapitalismus. Abstrakte wie messerscharfe Bilder aus dem Schoß der warenproduzierenden Gesellschaft prasseln auf einen ein: die kanonischen Bilder der Verwüstungen des Klimawandels wechseln sich ab mit Szenen aus der Welt der Isolation und „Decadence“ des Tech- und Plattformkapitalismus. Dieser spektakuläre kapitalistische Realismus wird von einer brüchigen Stimme erzählt, die im Zustand der Hoffnungslosigkeit Reflexionen über sich und diese Welt anstellt: „Wie bin ich eigentlich in einem Leben gelandet, in dem es normal ist, sich das Essen liefern zu lassen“, „Ich habe tief im Inneren Angst, dass ich gar nicht will, dass sich etwas ändert“, „Im Homeoffice wurde einem klar: deine Arbeit braucht keine Sau“, „Wie ist es möglich, dass Straßen nicht hell erleuchtet sind von brennenden Barrikaden?“, „Wo genau ist der Punkt, an dem sich Menschen wehren?“. Das soziale Profil der Erzählerin kristallisiert sich durch ihre Fragen und Thesen zur Gegenwart schnell heraus, bis bei Minute 20 ganz explizit ausgesprochen wird, was wir im Grunde bereits wussten: die Erzählerin (wie die Filmemacher:innen auch) hat einen Job im Medienbereich. Unsere hoffnungslose Begleiterin durch das Elend der Gegenwart, deren Perspektive zur Identifikation einladen und aus deren Sorgen der kommende Aufstand erwachsen soll, ist also eine Bullshitjobberin im Homeoffice. Dieses wohl potentiell revolutionäre Subjekt soll bald die Normalität hinter sich lassen und den Weg der Revolution einschlagen.

Wie soll dieser hoffnungslose, vereinsamte und schwächliche Mensch nun den Ausgang aus Homeoffice und Normalität finden? Der Film liefert zu diesem Zweck keine Analyse des in der Tat verstörenden Gegenwartskapitalismus, sondern versucht sich an einem Mythos des Aktivismus. Es sind die Geschichten von fünf Aktivist:innen, die uns dafür begeistern sollen, unser Smartphone aus der Hand zu legen und in den Kampf zu ziehen. Die deutsche Kurdistankämpferin Marlene Sonntag, die aus revolutionärer Ungeduld nach Rojava umzog: „Dort passiert einfach gerade die Revolution, von der wir hier immer nur geredet haben.“ Judith Brabend aus der DDR-Linksopposition, die es bis heute bedauert 1990 nicht die Macht ergriffen zu haben. Die chilenische Aktivistin Camila Càceres, für die der chilenische Aufstand von 2019 ohne den Feminismus nicht möglich gewesen wäre. Shahida Issel von der United Democratic Front, die den Verrat und Opportunismus innerhalb des African National Congress (ANC) nach dem Ende der Apartheid anprangert. Zuletzt Kali Akuno, aus der radikalen schwarzen Bewegung aus den USA, der in Jackson, Mississippi eine Kooperative aufbaut. Diese Portraits sollen jedoch offensichtlich rein emotionale Wirkung entfalten: Sie sollen durch ihre Vorbildfunktion die apathischen und linksliberalisierten Ex-Linken, die nicht wissen, ob sie noch „Kräfte haben, ihr Leben umfassen zu ändern“, dazu animieren, sich auf den letzten Metern doch noch für eine bessere Welt einzusetzen. Die aktivistischen Charaktere und nicht ihre politischen Bewegungen stehen im Vordergrund. Man erfährt daher auch so gut wie nichts über Inhalte oder Historie dieser doch recht disparaten Kämpfe. Warum ist die feministische Bewegung in Chile so zentral gewesen, warum ist sie überhaupt so stark? Was meint Brabend mit Machtergreifung, wann war dies möglich, wie wurde die DDR-Linke durch die BRD-Konterrevolution besiegt? Befinden sich die Produktionsmittel in Rojava in Arbeiter:innenhand, wie gestaltet sich dieser Sozialismus in einem Land, das auch noch ständig angegriffen wird und warum sollte man für dieses Projekt sein Leben riskieren? Hat der ANC anders als die Linken in der DDR die Machtfrage richtig beantwortet? Wie organisiert man eine radikale schwarze Kooperative im rassistischen amerikanischen Hinterland? Und in welchem Verhältnis stehen diese Kämpfe überhaupt zueinander – inhaltlich sowie historisch? Auf keine dieser (oder anderer) Fragen kann der Film eine Antwort liefern, man ist nach den 1,5 Stunden Spektakel keinen Deut klüger oder gar revolutionärer – ebenso ergeht es offenbar auch der Erzählerin. Die politischen Konklusionen, die unserer depressiven Heimarbeiterin entweichen, sind dürftig bis unverständlich: „Wem ist eine Welt bewusst, die nicht nur heimgesucht wird von Alpträumen, sondern permanent verändert wird von Träumenden?“ „Etwas wiederfinden, was uns bekannt vorkommt: ein Leben von dem wir vergessen haben, dass wir es einst träumten“. Diese ständige Referenz auf das Träumen als Voraussetzung für den Aufstand ist nicht verwunderlich, lautet der Untertitel des Films doch „Heimgesucht von Albträumen, auf der Suche nach Träumenden“ und ist der träumerische Utopismus doch typisch für Teile einer Neuen Linken, die vor den materiellen Verhältnissen oft in imaginär antagonistische Gemeinschaften flüchten.

Diese träumenden Aufständischen sollen in der Revolte schließlich anfangen kollektiv zu produzieren, neue Beziehungen zueinander entwickeln und – in der Tat – den stofflichen Reichtum irgendwie vergesellschaften. Es gibt laut der Sprecherin schließlich „viele gute Konzepte“. Das „gute Konzept“ des Kommunismus wird in dem Film an keiner Stelle erwähnt und auch die „Beziehungsform“ Klasse taucht in fast eineinhalb Stunden nicht ein einziges Mal auf. Auch hätte der Film die portraitierten Aktivist:innen einfach fragen können: Ist in Jackson, Mississippi durch die Kooperative von Akuno schon der Sozialismus in einer Stadt ausgebrochen? Welches gute Revolutionskonzept steht hinter der kurdischen Revolution? Welche Träume eines reformierten Sozialismus hatte man eigentlich damals in der DDR? Doch auch hier besteht erneut offenbar kein Interesse an einer inhaltlichen Bearbeitung der Revolution. Bis zum Ende wird der öde Mythos des Aktivismus gesponnen, der laut dem Film u.a. vom „Gefühl [lebt] als wir gemeinsam etwas reparierten“. Der propagierte Aktivismus ernährt sich ausschließlich von seinen unmittelbaren Erfahrungen: von brennenden Polizeiautos, vom gemeinsamen Bemalen von Transparenten oder von kurdischen Frauen, die an Traktoren herumbasteln. Was die Zuschauer:innen nach dem Film genau tun, ist im Grunde einerlei, in der Hauptsache tun sie irgendetwas. Die Dokumentation verrät ihren politischen Anspruch und erscheint am Ende vielmehr als eine Werbung für eine Agentur oder ein Start-Up für Aktivismus: Die vielfältige und komplexe Geschichte von Kämpfen wird zur zufälligen ästhetischen Oberfläche mit deren Hilfe man den Aktivismus an die Massen verkaufen will. Über Probleme und Inhalte des Aktivismus werden die betäubten Zuschauer:innen durch die unzusammenhängenden Bilderfluten hinweggetäuscht. Man kann sich förmlich einfühlen in das Leben eines Aktivisten, der sein politisches Ziel vor lauter Aktionen nicht mehr sieht.

Dieses Desinteresse des Filmes an der historischen Einordnung und inhaltlichen Stärkung von Kämpfen ist leider symptomatisch für ein großes Spektrum der Gegenwartslinken bzw. einer bestimmten Form linker Politik überhaupt. Der hier promotete Aktivismus mit seinem Primat der Tat und einer Abneigung gegenüber vermeintlicher Inaktivität oder Intellektualität hat spätestens seit den 1990er Jahren auch in Deutschland an Bedeutung gewonnen. Seine sprachliche Konjunktur kann erste Hinweise liefern: Das Institut für deutsche Sprache verzeichnet ab den 1990er Jahren einen enormen Anstieg der medialen Erwähnung des Begriffs Aktivist. Beziehen sich die drei Erwähnungen aus dem Jahr 1990er noch alle auf DDR-Aktivisten, so hat man es im Jahr 1999 bei bereits 127 Erwähnungen mit der breiten Palette zivilgesellschaftlicher Politik zu tun: Aktivisten gegen Walfang, für die Aidshilfe, für Greenpeace, gegen ein PKK-Verbot oder die Schottische Unabhängigkeit. Zu Beginn des letzten Jahrzehnts wurde der Begriff bereits mehr als 3000 Mal erwähnt.

Innerhalb der revolutionären Tradition wurde über das Verhältnis von Tat und politischem Endziel heftig debattiert und eine aktivistische Entkoppelung der Tat von ihrem politischen Zweck war noch kaum denkbar. Ihren prominentesten Ausdruck fand diese Frage in der Massenstreikdebatte, die innerhalb der II. Internationale ausgetragen wurde. Hier wurde über Funktion und Gefahren eines General- bzw. Massenstreiks gestritten. Die syndikalistischen Fraktionen waren Anhänger der Tat und betrachteten den Generalstreik daher auch als zentrales Instrument der Bewegung. 1893 schlugen sie gar die Ausrufung eines Weltstreiks vor, was durch die Mehrheit jedoch abgelehnt wurde. Ein anderes Verhältnis zur Aktion fand sich in den sozialistischen Fraktionen der Bewegung. Die Folgen von Aktionen müssen zunächst sorgfältigst geprüft werden, ob ihrer Folgen für die revolutionäre Organisation und ihrem strategischen Verhältnis zum Ziel der Revolution. Ein Massen- oder Generalstreik, der vom Syndikalismus als der Hammer der Revolution betrachtet wurde, dürfe auf keinen Fall zum falschen Zeitpunkt eingesetzt werden, da, wie der Theoretiker des Zentrums und spätere Renegat Karl Kautsky befürchtete, „eine Niederlage im politischen Massenstreik heißt, wenn er bis zum äußersten ausgefochten wird, die Niederlage der gesamten Arbeiterklasse, die Vernichtung ihrer gesamten ökonomischen und politischen Organisation, die völlige Kampfunfähigkeit des Proletariats auf Jahre hinaus“ 1  Mit einem größeren Vertrauen hingegen blickte Rosa Luxemburg auf die Aktionen der Massen: eine revolutionäre Partei könne sich den sozialen Dynamiken nicht entgegenstellen oder sie exakt planen, sondern müsse sie anleiten. Kurz nach der Russischen Revolution wird diese Anleitung der Aktivität der Revolution von Leo Trotzki als „Kunst des Aufstandes“ beschrieben: „Wie es dem Schmied nicht gegeben ist, mit bloßen Händen glühendes Eisen anzufassen, so kann das Proletariat nicht mit bloßen Händen die Macht ergreifen: es braucht eine für diese Aufgabe geeignete Organisation. In der Verknüpfung von Massenaufstand und Verschwörung, der Unterordnung der Verschwörung unter den Aufstand, der Organisierung des Aufstandes durch die Verschwörung besteht jenes komplizierte und verantwortliche Gebiet der revolutionären Politik, das Marx und Engels 'die Kunst des Aufstandes' nannten.“ 2 Der Aufstand war noch kein Selbstzweck oder ein Moment der Selbstfindung, sondern war der jeweiligen revolutionären Strategie untergeordnet.

Die Entkopplung von Tat und Endziel, die schließlich den politischen Aktivismus von heute schuf, begann spätestens ab den 1960er Jahren. Mit dem Aufstieg der Neuen Linken gewannen Politikfelder gesellschaftliche Relevanz, die zuvor zumeist in den Schatten des kommunistischen Endziels verbannt waren: Rassismus und Ökologie, die Frauen- und Schwulenbewegung, Stadtteil- oder Häuserkämpfe oder auch die Kämpfe von Student:innen und Insassen geschlossener Institutionen. Zugleich wurde auch die Sphäre des Politischen erweitert: es galt nicht mehr nur die Produktion umzuwälzen, sondern auch die privaten Verhältnisse. Diese junge Linke stand jedoch einem vollständig verknöcherten und konterrevolutionären Kommunismus gegenüber, der eher gegen den Aufstand konspirierte als ihn klug zu organisieren. Als symptomatisch hierfür kann ein Disput innerhalb der größten kommunistischen Partei des westlichen Hemisphäre gelten: der Streit zwischen der Redaktion der Zeitschrift Il Manifesto und dem Zentralkomitee der italienischen Partei. Die Redakteure der Zeitschrift verurteilten nicht nur den Einmarsch des Warschauer Pakts in Prag, sondern forderten ihre Partei auch dazu auf, sich gegenüber den neuen Kämpfen der 1960er Jahre zu öffnen. Lucio Magri, ein Mitglied der Il Manifesto Gruppe, beschreibt dieses Versagen der KPI in seinem voluminösen Nachruf auf die Partei: „Aber wenn die KPI genauer hingeschaut und konsequent gearbeitet hätte, wäre aus der Radikalität der Bewegung ein wertvolles Gut entstanden. Denn nur so konnte eine derart breite soziale Gruppe, die vorwiegend aus einer wohlhabenden, spießigen Klasse stammte, der Gefahr entgehen, korporativen Charakter anzunehmen, d.h. vor allem die eigenen Privilegien zu verteidigen und zu verbessern. Nur so war sie in der Lage, ihr eigenes materielles und geistiges Unbehagen in eine allgemeine Kritik an der Gesellschaft umzusetzen und zu versuchen, eine Verbindung zu den Bedürfnissen und Kämpfen der unteren Klassen herzustellen.“3 Die KPI war jedoch eher der Aufrechterhaltung des sozialen Friedens in Italien und Leonid Breschnew verpflichtet und kam dieser Empfehlung daher nicht nach, sondern schloss die Redakteure von Il Manifesto lieber aus der Partei aus.

Viele dieser vom Projekt des Kommunismus getrennten jungen Linken fanden bald jedoch neue Alliierte: Unternehmen, die das Projekt des Kapitalismus retten wollten. Da es dem neuen Aktivismus an politischem Profil fehlte, ließ er sich leicht auf eine andere Zwecksetzung verpflichten. Anders als die Kommunist:innen waren die Kapitalist:innen an einer Integration der neuen Bewegungen interessiert und schickten (zumindest gegen die eigene Jugend) nicht nur ihre Panzer. Die Studie Die unregierbare Gesellschaft des französischen Philosophen Gregoire Chamayou beschreibt die Schaffung eines konformen Aktivismus durch das US-Kapital ab den 1970er Jahren: „Wenn ein auftretendes Problem kritisch zu werden droht, schickt der Problemmanager nicht mehr automatisch seine Truppen gegen den Angreifer ins Feld […]. Er sucht vielmehr den Kontakt zu den Wortführern der feindlichen Gruppen und Philosophien, um mit ihnen vernünftig zu erörtern, ob es möglich ist, gemeinsame Interessen zu finden, die von der Agenda gestrichen werden können“4, so formuliert ein Vertreter des strategischen Managements in den 1980er Jahren den neuen Ansatz des Konfliktmanagements. Insbesondere in den USA hatte dieser Schulterschluss zwischen Kapital und Aktivismus ab den späten 1970er Jahren die Gründung zahlreicher Öko-NGOs bzw. ein explosionsartiges Anwachsen von NGOs überhaupt im darauffolgenden Jahrzehnt zur Folge.

Zugleich schuf der Gegenangriff des Kapitals auch noch eine andere Form des Aktivismus. Das Kapital war nicht nur darauf angewiesen, Aktivist:innen in den eigenen PR Apparat zu integrieren, es brauchte auch Menschen, die ihm den Dreck wegräumen, schließlich verursacht die kapitalistische Warenproduktion zahllose Schäden an Arbeitskraft und Natur. Um die durch die sozialen Bewegungen in den 1970er Jahren geforderte stärkere, d.h. teurere, Regulierung der Unternehmen abzuwenden, machten sich die Strategen des Kapitals daran, einen neuen Aktivismus zu erschaffen. Einen Aktivismus, der nicht mehr auf teure Regulierung der Unternehmen abzielte, sondern vielmehr an sich selbst ansetzte, um z.B. Umweltzerstörung auf der Nachfrageseite möglichst gering zu halten. Es entwickelte sich zunächst in den USA ein unpolitischer und individualistischer Aktivismus, der primär von einer moralischen Verantwortung seiner kaputten Umwelt gegenüber getrieben ist. Nicht mehr das Kapital war verantwortlich für die Zerstörung von Mensch und Natur und deshalb durch Bewegungen in seinem Tun zu behindern bzw. zu bekämpfen, die Verantwortung lag nun bei den aktivierten und aktivistischen Menschen selbst. Chamayou untersucht auch diese Integration und Trennung des Aktivismus durch das Kapital: „Responsibilisierung ist auch der Name dieser Verlagerung des Widerspruchs in die individuelle Psyche, einer neuen Art von unglücklichem Bewusstsein, verbunden mit einer Form dilemmatischer Regierung.“5 Diese neue liberale Regierungsweise des Kapitals zerbrach gefährliche politische Kollektive und fabrizierte aus ihren Einzelteilen Aktivist:innen im Dienste des Kapitals.

Seit spätestens den 1990er Jahren hielt dieser Aktivismus auch Einzug in Deutschland. Der Begriff des Aktivisten fand nicht nur eine wachsende mediale Erwähnung, auch die Anzahl von NGOs und gemeinnützigen Organisationen wächst seit den 1990er Jahren stetig – vom unglücklichen Aktivismus der Müllsammler ganz zu schweigen. Neben dem Kapital, das auch in Europa auf den konstruktiven Aktivismus der Einzelnen baut, ist es in Deutschland insbesondere der Staat, der seine Bürger in Aktivist:innen verwandeln möchte: „In Zeiten knapper öffentlicher Kassen gewinnt die Förderung und Stärkung der Zivilgesellschaft an Bedeutung, denn die öffentliche Hand wird sich wegen der unumgänglichen Haushaltskonsolidierung auf ihre unabweisbar notwendigen Aufgaben konzentrieren müssen. Es ist daher notwendig, Anreize für die Bereitschaft zum bürgerschaftlichen Engagement zu stärken.“6 So steht es im Gesetzesentwurf zur Stärkung des Ehrenamts von 2013. Diese Freiwilligkeit soll u.a. durch staatliche Förderprogramme, Policy-Instrumente, Preise oder Werbung gefördert werden. Zugleich nimmt die aktivistische Freiwilligkeit auch Zwangscharakter an: Dort wo ein überforderter und kaputtgesparter Staat kaum mehr Abhilfe schafft, müssen Ehrenamtliche oft übernehmen, damit die Infrastruktur nicht zusammenbricht. In der Soziologie wird dieses Phänomen als „Verzivilgesellschaftlichung der sozialen Frage“ bezeichnet: „Es geht um unbezahlte oder geringfügig entschädigte Tätigkeiten jenseits von Staat, Markt und Familie, die – mobilisiert durch eine Gemeinschaftsethik – einen Beitrag zur sozialen Infrastruktur und Daseinsvorsorge leisten sollen: Ehrenämter, Freiwilligenarbeit, zivilgesellschaftliches Engagement, Nachbarschaftsprojekte, Pflegekollektive, Community Gardening, Mehrgenerationenhäuser, Repair-Cafés, Service Learning an Schulen oder Open-Source-Projekte.“7 Zahlreiche dieser Projekte werden, ehrenamtlich oder in Form der billigen Lohnarbeit, durch linken Aktivismus am Leben erhalten. Netzwerke oder Organisationen von Aktivist:innen kümmern sich um Opfer von faschistischer und/oder männlicher Gewalt, um die Rettung und Eingliederung von Geflüchteten, um die Sauberkeit verdreckter Städte, um die Ernährung von Obdachlosen oder um die Rettung der Bienenbestände.

Dieser linksliberalisierte Aktivismus erscheint auch in der Dokumentation Rise Up, die zugleich symptomatisch für Teile der deutschen Linken steht: Ein unglückliches Bewusstsein steht vor dem Trümmerhaufen der Gegenwart und fühlt sich schuldig im Angesicht dieser Katastrophe zu erstarren. Diese mehr als gerechtfertigte Verzweiflung an der Gegenwart müsste eine revolutionäre Linke jedoch in mehr verwandeln als in rastlose Bewegung, die leicht von Staat und Kapital absorbiert werden kann. Sie müsste die Taten der Einzelnen wieder in ein politisches Verhältnis zu Strategie und Endziel stellen, sonst ist sie selbst Teil des Problems und nicht der Lösung.

  • 1. Kautksy: Allerhand Revolutionäres
  • 2. Trotzki: Geschichte der Russischen Revolution
  • 3. Lucio, Magri: Der Schneider von Ulm, S. 251.
  • 4. W. Howard, Chace: Issue Management: Origins of the Future, Stanford 1984, zit. Nach: Gregoire Chamayou: Die unregierbare Gesellschaft.
  • 5. Ebd., S. 263.
  • 6. Deutscher Bundestag 2013
  • 7. Vgl. u.a. Sylke, van Dyk: Community Kapitalismus.