Aneignung muss durch die Lohnarbeiter:innen selbst erfolgen

30. Mai 2024

In welchem Verhältnis stehen politischer und ökonomischer Kampf? Brauchen wir eine Partei, um die alte Welt hinter uns zu lassen? Und wenn ja, wäre eine demokratische, verschiedenen Fraktionen Raum bietende Massenpartei wie die deutsche Vorkriegssozialdemokratie vielleicht ein Modell?

Das sind einige der Fragen, die in der nunmehr zweieinhalb Jahre andauernden Debatte über Strategie und Organisation auf communaut verhandelt werden. Zuletzt hatte Mike Macnair auf Robert Schlossers Kritik an seinem Buch „Revolutionary Strategy“ (Macnair 2008) reagiert. Beide diskutieren u.a. Probleme des Übergangs in eine klassenlose Gesellschaft, die Rolle von Räten und Arbeiter:innen-Partei und das Konzept der demokratischen Republik. In der folgenden Replik präzisiert Robert Schlosser die Streitpunkte. Für ihn ist nicht die Frage, ob es einen politischen Kampf braucht, sondern in welchen organisierten Formen und mit welchen Zielen er geführt wird.

***

In seiner Kritik an meinem Artikel »Wider den Fetisch von Partei und politischer Macht« schreibt Mike Macnair eingangs:

»Communaut identifiziert sich selbst auf der Seite ›Über uns‹ mit den Worten: ›Dieser Blog wird von verschiedenen Gruppen und Einzelpersonen betrieben, die sich als antiautoritär-kommunistisch verstehen und gemeinsam für eine klassen- und staatenlose Weltgesellschaft streiten.‹

Die Genossinnen und Genossen der CPGB könnten 95 % dessen zustimmen, was in dem Text nach diesem Satz steht. Ich betone den Punkt. Wir haben im Großen und Ganzen gemeinsame Ziele.«1

Eine solche Zustimmung zu den Positionen, wie sie in der Redaktionserklärung von communaut niedergeschrieben sind, ist in der heutigen Linken nicht selbstverständlich, und ich schätze das hoch ein! Vor diesem Hintergrund ergibt die Auseinandersetzung weiter Sinn.

Was eine weitere und vertiefende Auseinandersetzung erschwert, sind weniger die unterschiedlichen Positionen zwischen uns als die Art der Auseinandersetzung. In der Vorstellung und Besprechung meiner Positionen erschwert Folgendes eine produktive Diskussion:

1. Mike Macnair bespricht meine Positionen als eine Wiederholung von Argumenten, die Bakunin, Bernstein, Eurokommunist:innen, Rätekommunist:innen und Trotzkist:innen bereits vorgetragen hätten. Ich werde auf keinen Fall versuchen hier deutlich zu machen, was meine Argumentation von denen Bakunins, Bernsteins usw. unterscheidet.

2. In Teilen gibt er meine Positionen nicht richtig wieder.2

Eine weiterführende Auseinandersetzung ergibt aus meiner Sicht keinen Sinn, wenn ich aufgefordert werde, meine Abgrenzung zu Bakunin, Bernstein usw. vorzutragen. Sie tut dies ebenso wenig, wenn ich mich zur richtigen Wiedergabe meiner Positionen ständig wiederholen muss. Mich interessiert, wo ich mit meinen tatsächlichen Positionen falsch liege und nicht, ob jemand angeblich schon mal auf gleiche Weise argumentiert hat.

Soweit Mike Macnair mir vorwirft, meine Kritik an seiner Schrift über »Revolutionäre Strategie« würde seiner Position nicht gerecht, verweist er auf andere Schriften von sich und auf den Programmentwurf der Communist Party of Great Britain (CPGB). Diese Schriften habe ich in der Tat nicht gelesen, sondern mich nur an Formulierungen in der »Revolutionären Strategie« abgearbeitet. Sollten sich daraus Missverständnisse meinerseits ergeben haben, so sollten diese sich ausräumen lassen. Aber handelt es sich tatsächlich um Missverständnisse? Ich werde mich im Folgenden nur auf einige Aspekte der Auseinandersetzung konzentrieren, die durch die Antwort von Mike Macnair jetzt neu dazugekommen sind.

I. Über Räte im »Arbeiterstaat«

Was das politische Gemeinwesen in der ersten Phase einer möglichen kommunistischen Gesellschaft betrifft, so halte ich auch das heute für eine offene Frage, die ohnehin allein im theoretischen Disput nicht zu klären ist. Dazu bedarf es erneut einer revolutionären Praxis, von der wir heute weit entfernt sind. Weder durch die beschränkte Praxis der Pariser Kommune noch durch die beschränkte Praxis der Räterevolution in Russland ist geklärt, wie ein solches Gemeinwesen, dass schon kein Staat im eigentlichen Sinne mehr ist, in den heute sehr viel weiter entwickelten komplexen Gesellschaften insgesamt aussehen könnte. Trotzdem liefern uns die Pariser Kommune und die Rätebewegung wesentliche Anknüpfungspunkte, an denen es festzuhalten gilt. Wenn ich mich von Positionen abgrenze, wie sie Macnair in seiner »Revolutionären Strategie« entwickelt hat, dann geschieht das, weil ich in der demokratischen Republik als Parteienstaat kein solches politisches Gemeinwesen erblicken kann. Nicht Selbstverwaltung, sondern Repräsentation in arbeitsteilig verselbstständigter Organisation sind das A und O der demokratischen Republik. Wenn ich jetzt noch einmal kurz auf die Bedeutung und die Rolle von territorialen, politischen Räten zurückkomme, dann nur um den Widerspruch zur Position von Macnair nochmals möglichst klarzumachen.

Meine Kritik an Macnairs Position hatte nicht darin bestanden, dass er den Räten jede Existenzberechtigung und Bedeutung abgesprochen hätte. Sie bestand darin, dass er ihnen die mögliche Rolle »als alternative Form der Autorität« absprach. Um zu unterstreichen, dass er die Bedeutung von Räten durchaus anerkennt, verweist Macnair auf den Programmentwurf der CPGB. Er zitiert:

»Bei jedem entscheidenden Zusammenstoß von Klasse gegen Klasse entstehen neue Organisationsformen, die höher, allgemeiner und flexibler sind als die Gewerkschaften. In Russland wurden sie Sowjets genannt, in Deutschland Räte, in Großbritannien Councils of Action.

Solche Organisationen, die alle Kämpfenden umfassen und koordinieren, haben das Potenzial, zu Institutionen im zukünftigen Arbeiterstaat zu werden. Kommunisten unterstützen jede derartige Entwicklung.«

Immerhin wird den Räten hier »das Potenzial« zugesprochen, »Institutionen im künftigen Arbeiterstaat zu werden«. Welche Rolle diese Institutionen im künftigen »Arbeiterstaat« spielen, bleibt offen. In der »Revolutionären Strategie« lässt Macnair dagegen keinen Zweifel daran, dass Räte nur eine untergeordnete Rolle spielen können:

»Es sind die existierenden Parteiorganisationen der Arbeiterklasse, die eine alternative Form der Autorität zur Autorität der Bourgeoisie bieten können:

Nicht die Gewerkschaften und nicht die improvisierten Organisationen des Massenkampfs wie die Sowjets. Mehr noch, alle Staaten sind Parteistaaten, geformt durch die Parteien, die sie geschaffen, und die Parteien ausschließend, die sich ihrer Erschaffung entgegengestellt haben.«

Alle Staaten seien also Parteistaaten, das gelte auch für den »Arbeiterstaat«. Bezüglich der Rede vom »Arbeiterstaat« im Programm der CPGB würde ich mich vollkommen der Kritik von Engels am Gothaer Programm anschließen:

»Man sollte des ganze Gerede vom Staat fallen lassen, besonders seit der Kommune, die schon kein Staat im eigentlichen Sinne mehr war. … Wir würden … vorschlagen, überall statt Staat ›Gemeinwesen‹ zu sagen, ein gutes altes deutsches Wort, das das französische ›Kommune‹ sehr gut vertreten kann.«3

Der »Arbeiterstaat«, der Macnair vorschwebt, ist eine demokratische Republik. Bezeichnete Marx in seiner Kritik am Gothaer Programm die demokratische Republik als »letzte Staatsform der bürgerlichen Gesellschaft«, in der »der Klassenkampf definitiv auszufechten ist«,4 so wird sie bei Macnair gar zur einzigen Form, in der sich die Lohnarbeiter:innen die Produktionsmittel aneignen können. Anders ausgedrückt: Die demokratische Republik wird als Parteienstaat mit dazugehöriger staatlicher Zentralregierung zu einem wesentlichen Merkmal der ersten Phase des Kommunismus.

»Arbeiterstaat« bedeutet Herrschaft einer Partei, die die Regierungsgewalt innehat. Das ist das »revolutionäre« Konzept des »Arbeiterstaates« und das war die bisherige Praxis von staatssozialistischen »Arbeiterstaaten«. Auch wenn dieses Konzept realistisch erscheint, so hat es von der subjektiven Seite her dazu geführt, dass die Distanz zwischen der realen Bewegung der Lohnarbeiter:innen und kommunistischem Gedankengut heute unüberbrückbar groß erscheint.5 Das Versprechen, nunmehr Partei und Staat konsequent demokratisch zu gestalten, nehme ich zur Kenntnis. Es überzeugt mich nicht, solange die wesentliche Entscheidungsmöglichkeit der Masse der lohnabhängigen Bevölkerung die Wahl von Parteien und deren Mitgliedern in von der Gesellschaft gesonderten (staatlichen) Organisationen, der »Regierungsmaschinerie« (Marx) bleibt.6

Anders als Macnair sah Marx diese demokratische Republik damals – in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts – bereits im Wesentlichen in den USA und auch in der Schweiz verwirklicht.7 Mich kritisiert Macnair dafür, dass ich die demokratische Republik – trotz »plutokratischen Regimes« (Macnair) – heute in vielen entwickelten kapitalistischen Ländern als im Wesentlichen verwirklicht ansehe und darin die angemessene Form bourgeoiser Herrschaft.8 Die Frage ist ja, ob die bestehenden demokratischen Republiken so gestaltet sind, dass darin der Klassenkampf definitiv ausgefochten werden kann, oder ob sie diesen Klassenkampf weitgehend verunmöglichen, weil sie den Lohnarbeiter:innen vor allem die Meinungs-, Organisations- und Versammlungsfreiheit verweigern. Damit zusammen hängt die Frage, ob das niedrige Niveau der Klassenauseinandersetzungen in den bestehenden bürgerlich-demokratischen Republiken auf den Mangel an diese Freiheiten zurückzuführen ist, oder tieferliegende gesellschaftliche Gründe hat (weiterhin vorhandene Wachstumspotenziale kapitalistischer Produktion, Reproduktionsniveau der Klasse der Lohnarbeiter:innen usw.). Ich bestreite, dass der Mangel an Klassenbewusstsein, also das niedrige Niveau der Klassenauseinandersetzung, auf einen Mangel an Demokratie zurückzuführen ist.

II. Über den Unterschied zwischen »Arbeiterkontrolle«
und genossenschaftlicher Produktion

Zu meinem Plädoyer für genossenschaftliche Produktion vermerkt Macnair zunächst: »Dies impliziert eine Orientierung an der Arbeiterkontrolle.« Später dann heißt es über meine Kritik an der »Revolutionären Strategie«:

»Es handelt sich weitgehend um negative Kritik, die dem Buch vorwirft, dass es keine strategische Linie vorschlägt, die sich auf die Fragen der Arbeiterkontrolle konzentriert…«

Bei mir ist jedoch nirgendwo von »Arbeiterkontrolle« die Rede! Daher noch einmal zur Klärung: »Arbeiterkontrolle« ist nach meinem Verständnis etwas anderes als genossenschaftliche Produktion. Dort, wo sie entstand und praktisch wirksam war – etwa nach der Februarrevolution 1917 in Russland – bedeutete sie eine relativ weitgehende Mitbestimmung von Lohnarbeiter:innen in kapitalistischen Betrieben. Ich werfe der »Revolutionären Strategie« nicht vor, dass sie sich nicht auf »Fragen der Arbeiterkontrolle konzentriert« und erwarte von einer solchen Strategie nicht die Orientierung auf eine solche Form der Mitbestimmung. Vielmehr erwarte ich von ihr eine Konzentration auf »Selbstbestimmung« in genossenschaftlicher Produktion, also auf eine Form von Gemeineigentum in Selbstverwaltung, auf Abschaffung der Lohnarbeit und des in den Produktionsverhältnissen verankerten Klassenwiderspruchs. Ich beziehe mich auch dabei positiv auf die Kritiken von Marx und Engels am Gothaer Programm:

»Die deutsche Arbeiterpartei erstrebt die Abschaffung der Lohnarbeit und damit der Klassenunterschiede vermittels der Durchführung der genossenschaftlichen Produktion in Industrie und Ackerbau und auf nationalem Maßstab; sie tritt ein für jede Maßregel, welche geeignet ist, dieses Ziel zu erreichen! – so kann kein Lassalleaner etwas dagegen haben.«9

Im Zusammenhang mit genossenschaftlicher Produktion geht es da nicht um »Arbeiterkontrolle«, sondern um Abschaffung der Lohnarbeit!

Engels schlug die zitierte Formulierung vor, um die Einheit mit den Lassalleanern nicht infrage zu stellen.10

»Arbeiterkontrolle« schafft weder die Lohnarbeit noch die damit verbundenen Klassenunterschiede ab. Die Bolschewiki gingen nicht über die »Arbeiterkontrolle« durch Förderung genossenschaftlicher Produktion hinaus, sondern beseitigten die »Arbeiterkontrolle« durch Staatskontrolle, also durch Kontrolle der »Regierungsmaschinerie« (Marx).

Der neue »Sowjetstaat« oder »Arbeiterstaat« wurde von den Bolschewiki schnurstracks zu einem neuem »eigenen Organismus, durch Teilung der Arbeit von der Gesellschaft gesondert!« (Formulierung von Marx zur Kennzeichnung des Staates). Was die Bolschewiki in Bezug auf die Produktionsverhältnisse und auf den Staat unternahmen, führte weg von kommunistischen Zielen sozialer Emanzipation. Man mag das wie Macnair nur aus den widrigen Umständen erklären, den Notwendigkeiten, mit denen sich die Bolschewiki konfrontiert sahen, es ändert jedoch nichts an deren Preisgabe von Erkenntnissen radikaler Kritik und ebensowenig an den verheerenden theoretischen Desorientierungen in Gestalt des »kommunistisch« weiterentwickelten Sozialdemokratismus, die bis heute nachwirken. Die Entwicklung bolschewistischer Theorie und Praxis gilt es zu kritisieren, auch unabhängig davon, ob Kommunismus unter den damaligen Verhältnissen in Russland überhaupt möglich gewesen wäre oder nicht!

Im Unterschied zu trotzkistischen Gruppierungen würde ich aus der »Arbeiterkontrolle« kein strategisches Ziel machen und werfe das Fehlen eines solchen Ziels auch nicht der »Revolutionären Strategie« vor. In Russland entstand die »Arbeiterkontrolle« in der Phase der Doppelherrschaft zwischen Februar und Oktober 1917. Sie war ein Produkt der Umstände, die durch die Februarrevolution geschaffen worden sind. Es ist ebenso wenig sinnvoll – auf diesen Erfahrungen basierend – generell in entwickelten kapitalistischen Ländern heute auf politische Doppelherrschaft, wie auf »Arbeiterkontrolle« zu orientieren. Beides war ein Produkt der demokratischen Revolution (!) in Russland, in der die sozialistische Bewegung der Lohnarbeiter:innen eine herausragende Rolle spielte. Ob es im Falle einer beginnenden sozialen Revolution in hoch entwickelten kapitalistischen Ländern zu ähnlichen Formen von Doppelherrschaft und »Arbeiterkontrolle« kommt, kann natürlich nicht ausgeschlossen werden. Darauf jedoch die politische Arbeit auszurichten, halte ich für einen schweren und ziemlich sinnlosen Fehler.

III. Über Zwangskollektivierung und die Probleme des Übergangs

Macnair wirft mir vor:

»Aber er thematisiert in diesem Zusammenhang nicht das Problem des Übergangs und der Fortexistenz – sowohl in der Gegenwart, als auch bei jeglichem Übergang, in dem das Kapital seine Macht verliert – der Klasse der Kleineigentümer (Kleinunternehmer, Bauern, Besitzer geistigem Eigentums an bestimmten Fähigkeiten und Informationen). Zudem argumentiert er, ohne dafür irgendeinen Beleg jenseits des Schicksals der bolschewistischen Revolution zu liefern: ›Nichts befähigt eine politische Partei oder staatliche Organe zu einer alternativen, von Herrschaft befreiten Organisation von Produktion.‹«

Wer meine Kritik an der »Revolutionären Strategie« aufmerksam gelesen hat, dem dürfte nicht entgangen sein, dass ich einen ganz anderen »Beleg« anführe, nämlich die Tatsache, dass alles nötige Wissen und alle nötigen Fertigkeiten für die Produktion bei der gesamten Klasse der Lohnarbeiter:innen liegen und nicht bei Parteimitgliedern – das ist die Logik meiner Argumentation. Nur durch die Selbstverwaltung in freier Assoziation von Lohnarbeiter:innen lässt sich daher die gesellschaftliche Produktion herrschaftsfrei organisieren. Meine Verweise auf die Russische Revolution dienen eher der Illustration, was aus sozialer Emanzipation wird, wenn eine politische Partei die Produktion organisiert und leitet.

Es kommt aber noch besser: Mein Beharren auf Beseitigung der Lohnarbeit in genossenschaftlicher Produktion, also auf der Basis von Gemeineigentum in Selbstverwaltung, schon in der ersten Phase der kommunistischen Gesellschaft beinhaltet für Macnair »als logische Notwendigkeit die Ablehnung jeglicher Übergangsphase zugunsten einer Zwangskollektivierung der Betriebe der kleinbäuerlichen Klassen … Das Ergebnis einer solchen Politik, die von den Massen unterstützt wird, wäre das gleiche wie das Chaos des ›Kriegskommunismus‹ von 1918 bis 21 oder das ›Jahr Null‹ in Kambodscha.«

Das ist ein ziemlich heftiger Vorwurf! Mir ist klar, dass ohne »despotische Eingriffe in die Eigentumsverhältnisse« (Kommunistisches Manifest) überhaupt keine »Kollektivierung« möglich ist. Die Frage ist, von wem der Zwang ausgeübt wird und wen er trifft! Bei Macnair ist es der »Arbeiterstaat«, die »demokratische Republik« oder die mit Autorität ausgestattete Regierung, die Zwang ausübt und »kollektiviert«. Nach meiner Überzeugung handelt es sich bei der »Zwangskollektivierung« aber nur dann um einen Akt sozialer Emanzipation, wenn der Zwang von der Masse der Lohnarbeiter:innen selbst ausgeht, wenn sie also die Fabriken etc. zunächst besetzen und dann die Produktion in eigener Regie fortführen. Diese »Zwangskollektivierung« unter Missachtung des Rechts auf Privateigentum wird zunächst vor allem aber nicht ausschließlich die Industriunternehmen treffen, speziell die Großunternehmen. Die Einführung genossenschaftlicher Produktion wird kaum auf einen Schlag in allen Bereichen von Produktion stattfinden. Eine Übergangsphase ist unvermeidlich.

Was die »Betriebe der kleinbäuerlichen Klassen« betrifft, so bin ich – wie Engels – gegen jede Anwendung von Zwang. Das betrifft aber die Überwindung des Klassengegensatzes von Lohnarbeit und Kapital insofern überhaupt nicht, als dass in diesen kleinbäuerlichen Betrieben wenig oder gar keine Lohnarbeit angewandt wird. Mir zu unterstellen, ich würde jede Übergangsphase leugnen und daraus würde mit Notwendigkeit die »Zwangskollektivierung der Betriebe der kleinbäuerlichen Klassen« folgen, ist an den Haaren herbeigezogen! In meinen Überlegungen zu einer sozialen Revolution existiert überhaupt keine mit entsprechender »Autorität« ausgestattete Institution, die so etwas anordnen und durchführen könnte. Sofern die Organe des neuen politischen Gemeinwesens Gewalt anwenden, bricht diese Gewalt den Widerstand der besitzenden, ausbeutenden Klassen (Kapital und kapitalistischer Grundbesitz), wenn sie ihr Eigentum verteidigen. Die »despotischen Eingriffe in die Eigentumsverhältnisse«, die Aneignung der gegenständlichen Bedingung der Reproduktion, aber muss durch die Masse der Lohnarbeiter:innen selbst erfolgen. Dass sich aus meinen Überlegungen mit »logischer Notwendigkeit« »Kriegskommunismus« und/oder ein Pol-Pot-Regime ergeben sollen, macht mich etwas sprachlos.

Schluss

Mit diesen kurzen Ausführungen habe ich mich erneut bemüht, die Widersprüche zwischen den Positionen von Mike Macnair und mir möglichst klar zu benennen. Im Unterschied zu Macnair habe ich keine »Revolutionäre Strategie« ausgearbeitet. Aber auch ich habe einiges mehr zu den hier strittigen Fragen geschrieben. Man findet diese mittlerweile über Jahrzehnte entwickelte Texte, die die Entwicklung meiner politischen und theoretischen Positionen ausdrücken, auf meiner Homepage. Dort findet sich einige Arbeiten zum Thema Reform und Revolution, speziell aber auch Arbeitsmanuskripte zu Fragen der Kritik der politischen Ökonomie, zur Frage der Aktualität der marxschen Kapitalkritik. In diesen Texten finden sich überall Bezüge zu den hier aufgeworfenen Fragen. Wer darin liest, dem sollte deutlich werden, warum ich in der gegenwärtigen Situation relativ wenig von strategischen Disputen halte, umso mehr aber von Diskussionen über gründliche Kritik von Kapital und Staat und über die Ziele sozialer Emanzipation.

  • 1. Anm. d. Red.: Schlosser arbeitet mit eigenen Übersetzungen der Zitate von Macnair, weshalb es stellenweise zu Abweichungen des Wortlauts von der auf communaut veröffentlichten Version der Replik von Macnair kommt.
  • 2. Wenn ich über das Scheitern der russischen Revolution schreibe:

    »Dieses Scheitern ist aber eines der Revolution selbst, nicht bloß ihrer organisatorischen Form in Gestalt der Räte. Sehr wohl aber muss man ihm (Mike Macnair, R.S.) widersprechen, was die Ursachen dieses Scheiterns betrifft. Das gilt wieder ganz besonders für die objektiven Umstände, unter denen die Menschen – vor allem Lohnarbeiter:innen und Bauern – begannen, ihre Geschichte in die eigene Hand zu nehmen. Besonders die Bedingungen in Russland waren in keiner Weise reif für eine ›proletarische‹, sprich kommunistische Umwälzung. (Da hatte Kautsky ausnahmsweise recht!) Die Resultate der Revolution in Russland, in der sich das Scheitern der kommunistischen Tendenzen ausdrückte, hatten jedenfalls wesentlich tiefer liegende gesellschaftliche Ursachen als den Mangel an einem ›alternativen Zentrum der Autorität‹, unregelmäßig tagenden Räten etc.«

    dann wird in Mike Macnairs Darstellung daraus:

    »Für das Scheitern der Revolution werden die bösen Absichten der Bolschewiki verantwortlich gemacht.«

    Wenn ich über die heutigen bürgerlich-demokratischen Republiken schreibe:

    »Die Demokratie … ist so gestaltet, dass sich die Klassenkämpfe ziemlich frei entfalten könnten.«
    dann wird aus »ziemlich frei entfalten könnten« umstandslos ein »ganz frei entfalten können«!

    Wenn ich über die politische Arbeit eines möglichen »Bundes der Kommunist:innen« schreibe:

    »Will man unter den heutigen Bedingungen eine politische Organisation von Kommunist:innen ins Leben rufen, dann wären die hier formulierten Gedanken aus meiner Sicht das Minimum an nötiger Übereinstimmung. Damit wäre zugleich geklärt, was denn ›Politik‹ dieser kommunistischen Organisation heißt: nämlich zuerst Organisation von wissenschaftlicher theoretischer Kritik, von theoretischer Auseinandersetzung und von Schulung und erst dann die praktische Unterstützungsarbeit in sozialen Bewegungen und Organisationen. Auf Basis solch grundsätzlicher, minimaler Übereinstimmung ließe sich eine kleine programmatische Erklärung verfassen. Man könnte arbeitsteilig theoretische und praktische Aufgaben angehen. Man könnte Arbeitspläne für bestimmte Agitationskampagnen erstellen usw.«

    dann wird bei Mike Macnair daraus die Behauptung ich würde vertreten, dass »das in Ermangelung spontaner Massenbewegungen nur theoretische Arbeit möglich sei.«

    Wenn ich geschrieben habe:

    »Spontaneität ist nicht alles, aber die Grundlage von allem, weil allein sie Ausdruck einer ›unter unseren Augen vor sich gehenden geschichtlichen Bewegung‹ (Marx) ist.«

    dann werden daraus »Argumente für die ausschließliche Dominanz der spontanen Bewegungen.«

  • 3. Engels an August Bebel, März 1875, in: »Kritik des Gothaer Programms«, Dietz Berlin 1972, S. 45-46.
  • 4. Karl Marx, »Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei« in: »Kritik des Gothaer Programms«, Dietz Berlin 1972, S. 34.
  • 5. Mike Macnair schreibt:

    »Die Argumente von Genosse Schlosser beruhen ausschließlich auf ›linken‹ kommunistischen (antiparlamentaristischen) oder rätekommunistischen Einschätzungen der Ereignisse von 1914 bis 23. Ein Jahrhundert später hat es endlose Versuche gegeben, die eine oder andere dieser Politiken umzusetzen, und keine von ihnen hat mehr erreicht als gelegentliche ›Spektakel‹ wie ›Occupy‹ und kleine Kreise. OK, ich gebe zu, dass keine der linken Politiken wirklich ›gewonnen‹ hat. Aber einige von ihnen sind der Verwirklichung nähergekommen als andere.«

  • 6. Marx spricht in seiner Kritik am Gothaer Programm vom »Staat, soweit er einen durch Teilung der Arbeit von der Gesellschaft besonderten, eigenen Organismus bildet«. (Karl Marx, »Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei« in: »Kritik des Gothaer Programms«, Dietz Berlin 1972, S. 34).
  • 7. Vgl. seine »Kritik des Gothaer Programms«.
  • 8. Er schreibt:

    »Dass selbst die politischen Nachfahren der KAPD das Regime der Staatskontrolle so weit verinnerlicht haben, dass sie sich einbilden, das plutokratische Regime sei ›demokratisch‹ und ›die Demokratie sei so organisiert, dass sich die Klassenkämpfe ganz frei entfalten können‹, ist ganz und gar außergewöhnlich.«

    Da werde ich auch gleich noch so nebenher zu einem »Nachfahren der KAPD«. Das finde ich auch außergewöhnlich. Man lernt nie aus.

  • 9. Engels an August Bebel, März 1875, in: »Kritik des Gothaer Programms«, Dietz Berlin 1972, S. 44.
  • 10. Auf die Frage der »deutschen« Arbeiterpartei und des »nationalen Maßstabs« gehe ich an dieser Stelle nicht kritisch ein, weil das den Rahmen dieser Auseinandersetzung vollständig sprengen würde.