„Wir waren zweimal bestraft – das erste Mal als Frau, das zweite Mal als Migrantin“

06. April 2025

Spontane (»wilde«) Streiks waren in Deutschland keine Seltenheit, galten aber als subversiv und zersetzend. Als im August 1973 bei der Firma Pierburg in Neuss migrantische und deutsche Arbeiter:innen solidarisch streikten, war die Stimmung angespannt. Noch weit gereizter und zorniger fielen Reaktionen in Politik, Wirtschaft und Medien aus, als vor allem türkeistämmige Arbeiter die Produktion von Ford in Köln tagelang stilllegten und streikten.

Die vorwiegend migrantisch getragenen Streiks des Jahres 1973 waren sowohl Reaktionen auf inhumane Arbeitsbedingungen als auch gegen Diskriminierung und Rassismus. Das kürzlich erschienene Buch „Der Streik hat mir geholfen, als junger Mensch Kraft aufzubauen“ Migrantische Kämpfe gegen Ausbeutung und Rassismus erinnert an diese Kämpfe um Anerkennung, Gerechtigkeit und Würde. Es versammelt u.a. mehrere Beiträge zu den Fordstreiks von 1973, beleuchtet das Verhältnis von Arbeitskämpfen und Antirassismus und reflektiert die Rolle der Gewerkschaften.

Mit freundlicher Genehmigung des Verlags Die Buchmacherei  veröffentlichen wir im Folgenden ein Gespräch zwischen Nuria Cafaro und der Zeitzeugin und Aktivistin Irina Vavitsa, die im Jahr 1973 maßgeblich am Streikgeschehen bei Hella in Lippstadt beteiligt war. Sie berichtet über den Ablauf des Streiks, die Probleme migrantischer Arbeiter:innen im Deutschland der 1970er Jahre und das Verhältnis zwischen deutschen und migrantischen Arbeiter:innen. Das Buch ist auf der Homepage der Buchmacherei bestellbar.

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NURIA CAFARO: Liebe Irina, du hast 1973 maßgeblich dazu beigetragen, dass die Arbeiterinnen bei Hella gestreikt haben. Zwei Jahre zuvor bist du nach Deutschland gekommen. Warum hast du dich zur Migration entschieden?

IRINA VAVITSA: Ich bin 1971 nach Deutschland gekommen, aber vorher angefangen: Ich bin geboren und aufgewachsen in der ehemaligen Sowjetunion. Meine Eltern kamen aus Griechenland, sie waren Widerstandskämpfer im Zweiten Weltkrieg. Danach war der Bürgerkrieg in Griechenland, als Linke haben sie damals den Partisanenkrieg verloren. Sie sind emigriert in die ehemalige Sowjetunion. Da bin ich geboren und groß geworden. Da bin ich zur Schule gegangen. 1966 gab es eine Amnestie für alle griechischen politischen Emigranten. Und so durften wir wieder nach Griechenland zurückkehren. Wir sind 1967 nach Griechenland gekommen, aber wir hatten nicht so viel Glück, weil kurz danach die Militärdiktatur begann und so die Geschichte wieder von vorne angefangen hat. Mein Vater ist im Gefängnis gelandet, wir lebten in Griechenland einige Jahre ohne Papiere.

Wir waren wie Flüchtlinge. Also richtige Flüchtlinge im eigenen Land, im eigenen Heimatland. Wir hatten überhaupt keine Rechte. Wir durften nicht zur Schule gehen. Ich durfte nicht zur Schule gehen, durfte nicht studieren. Wir durften überhaupt nichts machen. Wir konnten uns nicht frei bewegen, wir mussten bei der Polizei anmelden, ob wir jemanden besuchen wollten, auch innerhalb unserer Verwandtschaft.

Das war ein bisschen schlimm, aber nicht nur das. Auch die wirtschaftliche Lage in Griechenland war sehr schlecht. Und da konnten wir überhaupt nicht arbeiten. Wir hatten überhaupt keine Zukunft in Griechenland. Dass Deutschland damals ein Anwerbeabkommen mit Griechenland abgeschlossen hat, war eine gute Gelegenheit. Deutschland brauchte Arbeitskräfte und so sind wir in Deutschland gelandet. Nach vielen Schwierigkeiten. Ich habe einen Griechen geheiratet und damit bin ich Griechin geworden, wodurch

ich auch Papiere gekriegt habe. In einer Nacht- und Nebelaktion sind wir nach Deutschland gekommen. Hella brauchte damals Leute. Erst ist mein Mann gekommen und ein halbes Jahr später bin ich gekommen. Dann durfte ich viel arbeiten, aber nur mit der Genehmigung von meinem Mann. Mein Mann musste das bewilligen. Weil er bei Hella war, durfte ich auch nur bei Hella anfangen. Und so habe ich bei Hella angefangen. Ich bin damals, ich und mein Mann, wir sind alle mit einem Koffer nach Deutschland gekommen und dieser Koffer war voller Hoffnungen. Nach den Erzählungen von unserer Verwandtschaft war Deutschland ein Paradies-Land, einige von ihnen waren schon hier in Deutschland.

Ja, wir sind bei Hella gelandet, da kam die erste Überraschung. Die Fabrik sah nicht unbedingt modern oder schön aus. Das war eine alte Fabrik, wir waren viele, viele Migranten damals, also wir waren damals Ausländer oder Gastarbeiter. Immer wieder gibt es eine neue Verpackung.

Wir waren vier Personengruppen: Italiener, Spanier, Jugoslawen und Griechen. Wir hatten auch vier Dolmetscher. Die Dolmetscher hatten damals kein politisches Mandat, deswegen haben sie uns auch nicht über unsere Rechte aufgeklärt. Bei jeder Schwierigkeit im Betrieb haben wir den Dolmetscher geholt, der hat uns erklärt, was für Pflichten wir hatten: Wir mussten pünktlich sein, wir mussten uns um die Qualität kümmern und um Stückzahlen. Die Hauptsache war auch die Stückzahl. Wir hatten damals Akkord. 

Obwohl Hella ein tarifgebundenes Unternehmen war. Da gilt dann noch der IG-Metall-Tarifvertrag. Niemand hat uns erklärt, dass es im Betrieb gewerkschaftliche Funktionäre gab, dass es den Betriebsrat und IG-Metall-Funktionäre gibt. Oder die Rolle des Betriebsrats. Wir wussten überhaupt nicht, was der Betriebsrat, was die IG Metall ist. Wir haben gedacht, es gibt eine Gewerkschaft im Betrieb, weil in unseren Herkunftsländern die gewerkschaftlichen Strukturen in den Betrieben sind, die sitzen direkt im Betrieb. Wir haben auch mit einigen deutschen Kollegen zusammengearbeitet und immer viel zusammengesessen. Bei einem Frühstück haben wir immer unsere Lohntüten gekriegt und auch auf unsere Lohnabrechnungen geguckt. Wir konnten die deutsche Schrift nicht lesen, wir konnten nicht definieren, was da draufstand. Also was für eine Lohngruppe wir überhaupt haben? Die Abzüge? Wir wussten aber ganz genau, wie viele Stunden wir gearbeitet haben und was wir an Hella bezahlen mussten. Die Miete war bereits abgezogen, weil die meisten von uns in Wohnheimen gewohnt haben. Hella hatte damals viele separate Wohnheime für Männer und Frauen sowie Wohnheime und Baracken für Ehepaare. Wir haben dort eine gemeinsame Küche gehabt mit mehreren Familien. Auch die Badezimmer haben wir gemeinsam genutzt. So haben wir die erste Zeit gelebt. Wir haben alle auf ein Jahr befristete Verträge gehabt.  Das war die Probezeit, auch schon bevor wir kamen: Der Gesundheitsdienst war in Athen, die haben alles an uns untersucht, du solltest ein olympiareifer Mensch sein. Du solltest gesunde Zähne haben, solltest einen gesunden Magen haben. Du durftest als Frau nicht schwanger sein, sonst hattest du überhaupt keine Chance nach Deutschland zu kommen. Nach dem Jahr Probezeit musstest du wieder Untersuchungen machen. Da haben sie nicht noch mal untersucht, ob wir schwanger sind, aber wir mussten schriftlich festhalten, dass wir nicht schwanger waren. Wurde eine Frau schwanger, wurde sie nicht übernommen. So habe ich eine feste Anstellung gekriegt. Ich habe einen Vertrag gekriegt, da stand nur drin: „Wir übernehmen dich unbefristet“ und das war es. Da stand keine Regelung drin, wann ich Rentnerin werden würde und aufhören müsste. Da stand überhaupt nichts. Und alles auf Griechisch. Wir sollten das unterschreiben. Ein Mal unterschreiben, dass wir nicht schwanger sind und ein Mal unterschreiben, dass wir unbefristet übernommen wurden.

So, und irgendwann haben wir diese Lohnabrechnung aufgemacht. Wir saßen mit mehreren Kollegen zusammen und haben die Unterschiede gesehen und dann haben wir gesagt: „Moment mal!“ Wir konnten die Abrechnungen vielleicht nicht richtig definieren und ganz genau sagen, was da stand, aber wir wussten ganz genau, wie viele Stunden wir gearbeitet hatten und was wir am Ende dafür gekriegt haben. Und das war ein Unterschied. Wir haben die Unterschiede zwischen Frauen und Männern gemerkt und auch, dass es einen Unterschied zwischen ausländischen Kollegen und deutschen Kollegen gab. Wir waren zweimal bestraft – das erste Mal bist du als Frau bestraft und das zweite Mal bist du als Migrantin bestraft.

Das war so ein bisschen ungerecht und auch schon eine Auseinandersetzung zwischen Geschäftsführung und Arbeitskollegen bevor ich kam. 1969 gab es eine wirtschaftliche Krise und da wussten die Leute schon, dass es Unterschiede gibt, aber nicht, dass sie so gravierend waren. Und an einem Tag haben wir mitbekommen, dass die Geschäftsführung und der Betriebsrat beschlossen haben, eine freiwillige Zulage für die deutschen Kollegen zu zahlen. Nur für die deutschen Kollegen, für die deutschen Facharbeiter. Damals war im Betriebsrat nur ein italienischer Kollege vertreten, obwohl wir über 3000 Migranten waren.

Wir waren aber im Betriebsrat nicht vertreten. Weil Italien EWG-Mitglied war, durfte der italienische Kollege in den Betriebsrat.1 1972 gab es eine Novellierung des Betriebsverfassungsgesetzes und dadurch haben wir alle als Personengruppe das Recht bekommen, für den Betriebsrat zu kandidieren.

CAFARO: Wenn du sagst, 3000 Kolleginnen waren Migrant:innen – wie viele Leute haben dann insgesamt ungefähr bei Hella gearbeitet?

VAVITSA: Also bei Hella arbeiteten damals 7000 Beschäftigte, 2000 Angestellte, 5000 Gewerbliche. Und ein ziemlich großer Teil davon, also circa 3500, waren Migranten. Also diese vier Personengruppen. Es gab nicht so viele Deutsche, also schon viele Deutsche, aber nur im Werkzeugbau zum Beispiel, dort waren fast nur deutsche Kollegen, ganz, ganz wenige ausländische Kollegen. In der Ausbildung ist damals kein ausländischer Jugendlicher gewesen. Nach 1976 haben die auch ausländische Jugendliche für die Ausbildung angestellt.

Also dieses Gefühl zu beschreiben, das ist sehr schwierig. Wo hast du so eine Ungerechtigkeit erlebt? Das war ziemlich schwierig. Man kann das nicht beschreiben, das Gefühl kann man nicht beschreiben mit Worten, das war schlimm, das was war sehr, sehr schlimm. Also im Betrieb haben wir Dolmetscher gehabt, privat waren wir ganz allein. Aber wie geht jetzt der Streik los?

Das war im Juli 1973, ich war in diesem Sommer hochschwanger. Da konnte ich mich frei bewegen, das war meine schönste Zeit bei Hella – meine beiden Schwangerschaften dort. Ich war nicht an den Arbeitsplatz gebunden und konnte mich frei bewegen. Ich habe meinen Kolleginnen und Kollegen immer wieder ein Brötchen gebracht oder ich habe sie mit Getränken versorgt. In der Raucherecke waren zwei Getränkeautomaten, dort habe ich immer etwas für meinen Kollegen besorgt, und da war es ziemlich laut. So war unser Temperament, kann man sich das vorstellen? Spanisch. Italienisch. Griechisch. Jugoslawisch. Viel Temperament, Mittelmeer-Temperament. Die Kollegen waren ziemlich laut und aufgeregt. Ich habe mitgekriegt, was der Betriebsrat beschlossen hatte. Aber wir wussten nicht, dass es der Betriebsrat war, wir haben gedacht, dass die Gewerkschaft die Vereinbarung getroffen hätte. Für uns war klar, das war die Gewerkschaft. Und wir haben gesagt: „Wie konnte die Gewerkschaft so was mit uns machen? Warum haben die uns so ausgegrenzt?“

Die Kollegen haben mich angesprochen, damit ich die anderen Kollegen aufrufen konnte, schon eher in die Pausenecke zu kommen. Es war schönes Wetter, die Fenster waren offen, wir hatten einen Tisch in der Mitte von der Raucherecke. Ich habe die Leute dorthin gerufen, sie kamen und die Kollegen haben in allen unterschiedlichen Sprachen erklärt, worum es ging.

Sie haben gefragt: „Wollen wir jetzt die Arbeit niederlegen, zur Geschäftsführung gehen und mehr Geld verlangen?“ Wir fanden unsere Behandlung ungerecht. Ja klar, ohne Wenn und Aber haben wir gesagt: „Ja, wir machen alle mit!“ Ich kann das jetzt noch vor meinen Augen sehen, als ob es gestern war. Wir haben gesagt: „Klar!“ Wir haben nicht nach dem Wetter gefragt, nicht um eine Erlaubnis gefragt, überhaupt nicht. Wir haben gesagt: „Ja, ab morgen gibt es Streik, wir gehen auf die Barrikaden.“ Wir waren so bescheiden, wir wollten nur 50 Pfennig. Später haben wir mitgekriegt, dass die anderen Kolleginnen bei Pierburg eine DM verlangt haben, und wir waren so naiv und so bescheiden. Wir wollten nur 50 Pfennig, nur 50 Pfennig. Wir haben von allen vier Personengruppen einen Vertreter gewählt und waren alle froh. Da war ein Kollege unter uns, der konnte schon ein bisschen Deutsch –man darf nicht vergessen, diese Sprachbarriere war da. Du konntest bei Hella alles Mögliche lernen, aber kein richtiges Deutsch, weil keine 20 Prozent Deutsche in der Abteilung arbeiteten. Die meisten, 80 Prozent, waren Ausländer. Diese Vierer-Vertretung sollte für uns zur Geschäftsführung gehen, um zu verhandeln.

Wir wollten mehr Geld, „das steht uns zu“, haben wir gesagt, „das ist ungerecht, für die gleiche Arbeit unterschiedliche Löhne zu erhalten!“ Viele deutsche Kollegen, die unsere Abrechnungen gesehen haben, waren auch überrascht, die wussten das auch nicht, mit diesen Unterschieden.

So, das war am ersten Tag. Am zweiten Tag war unser Team bei der Geschäftsleitung, um zu verhandeln, und wir waren mit unserem Streik in der Presse. Am Abend war der WDR da, die Zeitung, unsere Zeitung aus Lippstadt Patriot war da und es gab einen Polizeieinsatz, einen Polizeieinsatz mit Hunden. Wir sind als Kriminelle dargestellt worden. Wir waren die Unruhestifter. Wir wollten dem Unternehmen schaden und solche Sachen. Und das war nicht so. Wir haben nur nach der Gerechtigkeit verlangt. So ging das einige Tage lang. Unser Arbeitgeber hat verstanden, wir wollten 15 Pfennig. In unseren Sprachen werden die Zahlen anders gelesen. So und dann hat der Arbeitgeber gesagt: „Ach, fünfzehn Pfennig, ja klar.“ Das Verhandlungsteam ist rausgekommen und hat uns gesagt: „Also 15 Pfennig, ja, kriegen wir.“ Wir haben gesagt: „Nee, nee, nee!“ und auf Pappe geschrieben „50 Pfennig!“. Eine große Fünf und eine große Null.

Dann war der Arbeitgeber wieder nachdenklich und nicht einverstanden. Wir hatten viele spanische Kollegen und viel spanisches Temperament. Der spanische Botschafter ist gekommen, um uns zur Vernunft zu bringen. Es gab eine separate Belegschaftsversammlung, nur für die spanischen Kollegen. Aber wir standen alle draußen. Wir durften nicht mit rein. Aber am vierten Tag haben wir gesagt, wir werden unser Verhandlungsteam begleiten. Wir werden unser Verhandlungsteam bei der Geschäftsführung nicht alleine lassen. Wir stehen alle für diese Sache, diese vier Personen sind nicht alleine. Wir sind da, wir sind da und wir unterstützen unsere Männer. Als wir gesehen haben, dass die Polizisten mit Hunden vor Ort waren, haben meine Vorgesetzten gesagt: „Irene, geh mal nach Hause, bitte, Du bist schwanger, Du darfst so was nicht machen.“ Ich habe gesagt: „Meine Kollegen sind da. Was soll ich machen?“ Wer wird einer schwangeren Frau was Böses tun? Hätte ich nie gedacht. In Pierburg kam es aber zu einer anderen Situation. Wir sind auch durch die Stadt marschiert.

CAFARO: Wie war die Solidarität von den anderen Kolleginnen und Kollegen? Wer hat sich eurem Streik angeschlossen?

VAVITSA: Also die deutschen Kollegen durften nicht weiter arbeiten, das war eine Arbeitsniederlegung. Wir haben niemanden ins Werk gelassen. Niemanden, es ist alles still geblieben. Auch diese Facharbeiter haben nicht gearbeitet. Die sind nicht mit uns zum Hauptwerk zur Geschäftsführung marschiert, aber sie sind nach Hause gegangen. Niemand hat gearbeitet, niemand, niemand.

Womit wir nicht gerechnet haben, auch nicht der Arbeitgeber: Die ganze Stadt war auf den Beinen, weil niemand von diesem Lohnunterschied wusste. Und Lippstadt ist ein kleines Städtchen, in dem jeder jeden kennt. Es gab fast keine Familie, in der nicht eine oder zwei Personen bei Hella beschäftigt waren. Hella war der größte Unternehmer mit 7000 Beschäftigten in Lippstadt.

Unser Arbeitgeber kam aus Lippstadt und er war in bestimmten Vereinen aktiv. Viele waren überrascht und die Solidarität war da. Aber die Solidarität kam nicht nur von unseren Kollegen oder von den Lippstädtern, die Solidarität kam aus dem ganzen Ruhrgebiet. Wir waren überrascht. Wegen der Sprachbarriere konnten wir leider keine Flyer verteilen. Wir können uns noch gut an die vielen Flyer von vielen linken Organisationen erinnern. Kollegen aus Sprockhövel haben mich später darauf angesprochen; ich habe die ganzen Unterlagen recherchiert. Es waren alle da, die DKP, die KPD, die ganzen linken Organisationen. Sogar die Jusos waren da und viele Kollegen von der Roten Erde. Es waren auch viele Italiener da, viele italienische Kollegen von der Roten Erde, also Hoesch Rote Erde, in Dortmund.

Schade, wir konnten diese Flyer damals nicht verteilen. Damals wurde in den Medien überall behauptet, diese Streiks seien von außen organisiert worden, das kam aber nicht von uns, das war nicht so. Wir haben die Schnauze voll gehabt. Das Fass war richtig voll. Wegen dieser Ungerechtigkeit, wegen dieser ungleichen Behandlung. Für die gleiche Arbeit erhielten wir nicht das gleiche Geld. Und damals richtete sich auch eine große Wut gegen die Gewerkschaft. Also eigentlich nicht gegen die Gewerkschaft, sondern gegen die Betriebsräte. Aber wir haben gedacht, dass die Gewerkschaft diesen Deal mit der Geschäftsleitung verhandelt hätte, und wir waren stinksauer auf die Organisation, ohne zu wissen, wer genau schuld daran war. Denn diese Betriebsvereinbarung hat nicht die IG Metall beschlossen, sondern der Betriebsrat.

Aber wir kannten diese Strukturen nicht, das war sehr schade für uns damals. Wir haben uns immer wieder gefragt: „Warum? Warum hat die Gewerkschaft uns ausgeschlossen? Warum haben die uns ausgegrenzt?“ Wir waren doch die, die ausgebeutet wurden. Das konnten wir nicht verstehen. Viel, viel später haben wir das erfahren.

CAFARO: Wie ist euer Streik dann weiter verlaufen?

VAVITSA: Am vierten Tag hat uns der spanische Botschafter gesagt, dass er nichts für uns machen konnte. Die Betriebsräte haben versucht, uns so zur Vernunft zu bringen. Damals gab es eine große Spannung: In Spanien war die Franco-Diktatur und in Griechenland war Papadopoulos-Diktatur, das war nicht ohne. Also da wussten unsere Regierungen ganz genau, wer wo aktiv gewesen ist. Das hat viele betroffen. Meine griechischen Kollegen sind nach dem Urlaub nicht wieder zurückgekommen, wenn sie irgendwo aktiv waren, gerade bei der Gewerkschaft. Und der Betriebsrat hat versucht, uns zu erklären, wir dürften so was wie den Streik nicht machen. Viele von uns wohnten noch in den Baracken der Hella-Wohnheime. Wenn jemand entlassen wurde, hatte der überhaupt kein Dach über dem Kopf. Aber wir haben gesagt: Ach, wir haben so viele Freunde hier, so viele Kollegen hier – eine für alle und alle für eine!“ Also darüber haben wir uns überhaupt keine Gedanken gemacht. Wir waren einfach stolz, wir haben gejubelt, vier Tage lang. Da war keine Langeweile, wir haben keine langen Gesichter gezogen und wir waren auch nicht so pessimistisch. Wir haben immer wieder gehofft. Wir kämpfen für unsere Rechte und dann werden wir gewinnen.

Wir haben gedacht, wir lassen uns jetzt nicht runtermachen und das Wort Sklaven war an der Tagesordnung. Wenn du nicht so behandelt wirst, wie es sein sollte, als normaler gleichgestellter Mensch, dann fühlst du dich so erniedrigt, so wie ein Sklave. Und weil wir auch eine gewisse Sprachbarriere hatten, haben wir immer wieder gesagt: „Ja, wir wollten ein besseres Leben hier in Deutschland, aber wir wollten nicht als Sklaven hierbleiben. Wir wollten nicht nur arbeiten hier, wir wollten auch leben.“

Der Lohn war so niedrig, du konntest dir nichts leisten. Und wir hatten alle Familien in unseren Heimatländern. Wir haben Eltern und wir haben Kinder gehabt. Man hat versucht, immer wieder die Familie im Heimatland zu unterstützen und das war sehr schwierig. Wir waren zu vielem finanziell nicht in der Lage. Viele alleinstehende Menschen konnten sich niemals einen Kassettenrekorder oder einen Transistor leisten. Das Erste, was du in einem fremden Land besorgst, ist ein Radio, um die Nachrichten aus deinem Heimatland zu hören. Viele von unseren Kollegen mussten in dem Radio-Geschäft ihre Pässe abgeben. Sie mussten es in Raten bezahlen, weil sie nicht genug Geld hatten, und die Ladenbesitzer behielten die Pässe als Pfand. Das war schon traurig. Aber das alles zu beschreiben, wie man sich damals sich gefühlt hat, in welcher Lage wir uns wiederfanden, das kann man in Worten nicht beschreiben. Das war sehr traurig. Du bist in einem fremden Land gelandet, ohne Sprachkenntnisse, in einer fremden Kultur, fremde Menschen. Aber das Allerschlimmste war die Sprachbarriere. Im Betrieb hattest du einen Dolmetscher, aber privat hast du niemanden gehabt. Wenn dir was passiert ist, warst du alleingelassen, da war niemand da, um dir zu helfen, um dir einen Rat zu geben. Und so haben viele, viele Menschen damals die IG Metall oder die Gewerkschaft als Domizil gesehen. Und dann lassen sie dich in Stich, ohne dich zu unterstützen, ohne dir etwas zu erklären. Das war schon schlimm genug. Man kann das nicht in Worten beschreiben. Kann man nicht. Nein, kann man nicht. Wenn man als Mensch das nicht selbst durchgemacht hat, dann ist es unglaublich. Unglaublich.

CAFARO: Hatte euer Streik Erfolg?

VAVITSA: Unser Streik hatte Erfolg und wir haben gejubelt. Nur danach ist einiges passiert. Im Werk ist nicht alles so geblieben, wie es war. Die Akkordzeiten sind geändert worden, die Bänder liefen schneller, viele Menschen sind entlassen worden, viele Menschen sind nicht übernommen worden. Ja, das war schon ein bitterer Nachgeschmack. Das Wichtigste war aber, das wir festgestellt hatten, dass wir die Entschlossenheit hatten, für unser Arbeitsrecht zu kämpfen, für die Gleichstellung zu kämpfen. Alle für eine und eine für alle. Solidarität von anderen Kollegen, von anderen Menschen, die war da. Und was uns viel später danach klar geworden ist: Es reicht nicht, den Mut zu haben, für dich zu kämpfen und den guten Willen zu haben, auf die Straße zu gehen, du brauchst eine starke Gewerkschaft, die dir den Weg zeigt und in der du aktiv bist. Es ist erst mal wichtig, Mitglied zu sein. Es ist wichtig, in der Gewerkschaft zu sein. Es ist wichtig, aktiv zu sein, und es ist wichtig, in bestimmten Entscheidungsgremien zu sitzen, in denen sonst ohne dich überdich entschieden wird. Das ist ziemlich wichtig.

Also, zum bitteren Nachgeschmack und der Sprachbarriere als Problem: Nach dem Streik sind wir wieder vom Betriebsrat und von der IG Metall alleingelassen worden, von unserer Gewerkschaft. Weil niemand uns diese Strukturen, die gewerkschaftlichen Strukturen erklärt hat. Nicht die Rolle des Betriebsrates und der Gewerkschaft. Und was bedeutete überhaupt diese freiwillige Zulage, die wir erstreikt haben? Es gab ja damals nicht nur unseren Streik, also den bei Hella, sondern es gab auch Streiks in anderen Betrieben, es haben über 300 Streiks stattgefunden.

Die IG Metall hatte geholfen, eine bessere Tariferhöhung durchzusetzen. Damals, das weiß ich noch ganz genau, hat es die IG Metall nach der Tarifrunde geschafft, 40 Pfennig Lohnerhöhung und die Abschaffung der Lohngruppe eins durchzusetzen. Das hat nur dank unserer Arbeitskämpfe geklappt. Wir haben bei Hella Lohngruppe eins gehabt. Bei Pierburg haben sie schon darum gekämpft, die Lohngruppe zwei abzuschaffen, aber bei uns waren wir noch viel, viel, viel schlimmer dran.

Also die Lohngruppe eins wurde abgeschafft und wir bekamen Lohngruppe zwei. Aber viele Sachen sind geändert worden. Nach dieser Tarifrunde wurde unsere erkämpfte, freiwillige Zulage ausgeglichen und wir sind letztlich mit 10 Pfennig als Gewinn rausgegangen, da waren wir richtig sauer. Da war die Enttäuschung ziemlich groß. Warum hat uns das niemand erklärt?

Das Einzige, was uns der Betriebsrat damals gesagt hat, war: „Wir dürfen so was nicht machen. Mit welchem Recht geht ihr auf die Straße?“ Danach wurden wir allein gelassen und das war eine große Enttäuschung.

CAFARO: Wusstet ihr eigentlich, dass in anderen Betrieben in der Zeit auch vermehrt gestreikt wurde?

VAVITSA: Wir haben das viel später durch die Medien, durch das Fernsehen und den WDR erfahren. Unser Streik war im Juli, danach wurde bei Pierburg gestreikt und auch bei Ford. Dann haben wir gesagt: „Schade, warum haben wir das nichts gewusst?“ Also es gab keine Kommunikation. Nein, wir waren ausgegrenzt. Lippstadt liegt ja auch relativ weit von Köln um von Düsseldorf entfernt. Wir wussten nicht viel, viel später haben wir von den Streiks erfahren. Und da haben wir gesagt: „Guck mal, bei Pierburg verlangen sie schon eine DM mehr und dort hat auch der Betriebsrat den Streik unterstützt.“ Für uns war das eine große Überraschung, weil alle hinter den Kollegen bei Pierburg standen. Bei Ford war das ein bisschen anders, aber bei Pierburg gab es diese Unterstützung. Wir haben gesagt: „Wie konnte es bei uns so anders sein und warum kannten wir die Kollegen nicht früher?“ Nein, da gab es keine Kommunikation und keinen Kontakt zu den anderen Kollegen. Leider nicht.

CAFARO: Du hast ja schon erwähnt, dass es immer diese Behauptung gibt, dass der Streik gar nicht von den Streikenden selbst ausging, dass behauptet wird, er sei von außen in den Betrieb eingetragen worden. Gab es denn bei Hella zum Beispiel studentische Aktivist*innen, wie das bei Ford der Fall war?

VAVITSA: Nein, bei uns gab es keine Student:innen damals. Nein.

CAFARO: Wie war die Atmosphäre bei der Arbeit? Wie war euer Verhältnis zwischen den Kolleg:innen untereinander und wie war euer Verhältnis zu den Vorarbeitern und Meistern?

VAVITSA: Also wir hatten ganz wenige deutsche Kolleginnen. Wir hatten zwei Vorgesetzte und drei Meister, die standen alle auf unserer Seite. Ich muss ganz ehrlich sein, vielleicht habe ich Glück gehabt. Ich war in meinem Montagebereich, in dem viele Frauen arbeiteten, und die haben uns unterstützt, die waren alle draußen. Von 300 Leuten waren ungefähr 20 Deutsche. Sie haben uns recht gegeben und das hat uns geholfen. Die Geschäftsführung hat den Werkzeugmachern ein bisschen Angst gemacht. Wir wären zu radikal, die haben versucht, uns zu kriminalisieren. Wir waren die Bösen.

Niemand hat gearbeitet, im Nordwerk. Wir haben zwei Werke, das Nordwerk, wo ich beschäftigt war, da war auch die Produktion, die Ausbildung und der Werkzeugbau und der Gesundheitsdienst angesiedelt. Das ganze Werk ist still geblieben. Im Hauptwerk da, wo die Geschäftsführung lag, war es ein bisschen anders. Dort waren auch einige Montagehallen, aber dort waren nicht so viele Kolleginnen und Kollegen beschäftigt. Die meisten Angestellten waren dort. Von den Angestellten haben wir keine Solidarität erfahren. Im Hauptwerk, da wo die Geschäftsführung saß, standen alle am Fenster, haben rausgeguckt und gesagt: „Wie können sie sich so was erlauben? Wie können sie so was machen? Mit welchem Recht?“

CAFARO: Als du dort gearbeitet hast, war der Nationalsozialismus in Deutschland gerade einmal 25/30 Jahre vorbei, Vorgesetzte und Kollegen waren potenziell noch in dieser Zeit sozialisiert worden. Würdest du sagen, man hat das noch gemerkt? Hat es atmosphärisch noch eine Rolle gespielt, dass die Männer, die bei Hella gearbeitet haben, auch Männer waren, die im Nationalsozialismus groß geworden sind?

VAVITSA: Ja, aber Gott sei Dank nur bei ganz wenigen. Die haben auch den Krieg mitgemacht. Einige Vorgesetzte waren damals noch ziemlich jung, sie waren Kriegskinder. Aber wir hatten wenig ältere Menschen im Betrieb, die meisten Facharbeiter und Qualitäter waren junge Leute. In unserer ganzen Abteilung hatten wir nur zwei ältere Leute, der eine hatte im Krieg eine Hand verloren. Aber einer hat uns, das muss ich ganz ehrlich sagen, der hat uns gehasst. Es gab Leute, die haben uns gehasst, aber die haben Angst gehabt, das zu zeigen. Das passierte ab und zu. Aber die meisten waren junge Menschen, von denen die meisten ihren Urlaub in Italien verbracht haben. Damals war nur Italien ein Urlaubsland. Einige deutsche Frauen waren auch mit Italienern verheiratet oder einige deutsche Männer mit spanischen Frauen, es gab gemischte Ehen. Aber dieser versteckte Rassismus war schon mal da, das eine oder andere Mal haben wir das schon erlebt. Nur damals konnten wir das noch nicht als Rassismus greifen, wir haben gedacht, dass viele Kollegen einfach kein Benehmen haben. Wenn die etwas unterschwellig Rassistisches geäußert, gesagt oder gemacht haben, dann haben wir gesagt: „Die Deutschen haben kein Benehmen.“ Aber das war versteckter Rassismus.

CAFARO: Kannst du dafür ein Beispiel nennen? In was für Situationen ist das etwa passiert?

VAVITSA: Ja, wir hatten keine Sozialräume, wir hatten ein Fließband und waren auf der linken und rechten Seite verteilt. Und wenn um 9:00 Uhr Frühstückspause war, konnten wir nur auf Knopfdruck das Band anhalten. Wir haben dann solche Pappen gehabt und unser Frühstück zu uns genommen. Da saßen wir alle zusammen, alle gemischt. Also das war jetzt kein Unterschied, die Griechen da und die Spanier auf der anderen Seite oder so. Nein, nein, wir saßen alle zusammen. Wir haben unser Essen geteilt und jeder konnte von jedem essen und probieren. Das war wie in einer Familie, sage ich jetzt. Es gab keinen Neid und keine Konkurrenz. Wir waren alle da und jede von uns war eine wichtige Person, jede brauchte die andere und jede war bereit, den anderen zu helfen, egal was für Schwierigkeiten jemand gehabt hat. Das war schon wie eine Familie.

Du kanntest diese Menschen, obwohl wir keine Sprache richtig sprechen konnten, aber wir konnten uns verständigen. Alle waren füreinander da. Da kam der ältere Kollege, ein Kriegsveteran, vorbei und guckte auf unser Essen, dabei hat er sich oft an die Nase gepackt. Ab und zu wollte er etwas probieren, dann hat er es vor uns ausgespuckt. Dann haben wir alle gesagt: „Also die Deutschen haben kein Benehmen.“ Besonders meine spanischen Kollegen, die sind auf 180 gegangen: „El alemán no tiene cultura!“ Das vergesse ich nie im Leben. Obwohl ich dann gesagt habe: „Doch, die Deutschen haben Kultur!“ Zu meiner Überraschung kannten viele Kollegen Brecht, Bach, Beethoven oder Wagner nicht. Das war für mich ein bisschen überraschend. Oder Marx und Engels. Wenn bestimmte Kollegen Marx und Engels von mir hörten, haben sie gesagt: „Bist du nicht zu jung, um über Politik zu reden, über so was Böses zu sprechen?“ So ungefähr, ja ich war ein bisschen so etwas wie Dorn im Auge für bestimmte Kollegen, ältere Kollegen. Weil ich die einzige aus der damaligen Sowjetunion war, und sie hatten Interesse, mit mir zu sprechen. Die meisten deutschen Kollegen waren bei mir, besonders mein Vorgesetzter stand immer neben mir und hat immer wieder nach bestimmten Sachen über die Sowjetunion gefragt. Damals waren viele Italiener oder Griechen, Spanier und Jugoslawen im Werk, aber jemand aus der Sowjetunion war selten. Sie konnten nicht verstehen, wie ich aus der Sowjetunion in Deutschland gelandet war, nicht in der DDR. Ich musste meine ganze Geschichte erzählen, immer wieder, mit meinem schlechten Deutsch. Aber ich habe versucht, Deutsch zu lernen. Obwohl es eigentlich immer noch Hella-Sprache war, das war Hella-Sprache. Bisschen von allem, aber kein richtiges Deutsch und das war traurig. Irgendwann hat mein Vorgesetzter gesagt: Irene, wenn ich dich hier sehe, tust du mir richtig leid. Du könntest etwas werden. Warum gehst du nicht zur Abendschule, um Deutsch zu lernen und eine Ausbildung zu machen?“ Das vergesse ich nie, das vergesse ich nie. Dieser Vorgesetzte war wirklich ein super Mensch. Er war das Gegenteil von den

älteren Kollegen, von dem Kriegsveteran. Wenn die Maschine nicht lief und es Störungen gab, mussten wir ihn rufen, der hat nur mit uns geschimpft. Be sonders ein Tag ist mir in Erinnerung geblieben, meine Kollegin hat geweint. Sie war noch jünger als ich, eine 19-jährige Griechin, sie kam aus Kreta. Der ältere Kollege hat mit ihr geschimpft und sagte: „Ja, du, was machst du, du machst extra die Maschine kaputt, du fährst absichtlich die Maschine kaputt.“ Sie konnte nicht verstehen, was er gesagt hat, aber sie hat verstanden, dass er mit ihr geschimpft hat. Er hat wirklich laut geschimpft und niemand außer den Kollegen hat das mitbekommen. Wir haben alle so Angst gehabt. Ja, und ich habe verstanden, was er gesagt hat. Das hat mich geärgert. Wir würden dieses Unternehmen sabotieren, wir würden nur Schlechtes wollen. Und wir wären extra hierhergekommen, um diesem Unternehmen zu schaden. Solche Sachen. Sie 19, ich 22. Ich habe gesagt: „Was haben Sie gegen meine Kollegin?“ Sie kommt aus Kreta und ich hasse alle Kreter“, sagt er zu mir. Ich habe ihm gesagt: „Aber warum schimpfen Sie mit mir? Was haben Sie gegen mich?“ „Ja, die Russen“ – ich hatte den Spitznamen die Russin – „ja, die Russen hasse ich noch mehr, weil ich war fünf Jahre in Sibirien.“ Ja, und ich mit meinen 22 Jahren frage ihn: „Wer hat Sie dahin eingeladen?“ Ganz frech, weil man das nicht einfach ertragen konnte.

Was haben wir jeden Tag bei der Arbeit erlebt? Du bist zum Dolmetscher gegangen und hast gesagt: „Da stimmt was nicht, oder da läuft was nicht und das ist nicht richtig.“ Und dann haben unsere Dolmetscher gesagt: „Halte deinen Mund. Sei froh, dass du hier arbeiten darfst.“ Also sei einfach froh, dass du hier bist, dass du hier sein darfst. Und du hast überhaupt keine Rechte hier. Du sollst nur arbeiten und nichts sagen. Also, das war schon nicht mehr zu ertragen. Da gab es so viele Ungerechtigkeiten, wir hatten so viele Schwierigkeiten und es war niemand da, um uns zu helfen. Und irgendwann sagst du einfach: „Ja, jetzt ist das Fass aber voll!“ Da kannst du nicht mehr, der Ma gen kann das nicht mehr ertragen, das kann man nicht beschreiben. Was haben wir nur erlebt? Man kann es nicht in einfachen Worten beschreiben. Du musst es selber erlebt haben, damit du es genau merkst. Du warst weit weg von deiner Familie und deinen Kindern, von deinen Eltern als junger Mensch. Und dann landest du in einem Land, in einem fremden Land, in einer fremden Kultur und dann wirst du so behandelt? Also das war schon schlimm. Es war schlimm genug. Und das zu hören immer wieder – warum bleibst du hier, wenn es dir nicht gefällt? Du kannst wieder gehen. Du kannst gehen. Also, das habe ich bis zum letzten Tag dort gehört. Sogar bis heute. Hörst du, wenn du mit Menschen über die schrecklichen Zeiten, über Nazizeiten, sprichst und sagst, dass so etwas nicht wieder passieren darf, dann sagen manche: „Ja, wenn du das alles so schrecklich hier findest, warum bleibst du noch hier? Da kannst du wieder nach Hause gehen.“ Ja, wo sind wir zu Hause? Wenn ich hier lebe? Hier schon seit 53 Jahren lebe? Wo bin ich zu Hause? Und ich bin 74! Wo bin ich zu Hause? Wo denn? Meine Kinder sind hier geboren und aufgewachsen. Meine Enkelkinder sind hier geboren und aufgewachsen. Wo sind wir zu Hause? Ich bin hier einmal fremd, in mein Heimatland bin ich zweimal fremd. Weil wir schon lange nicht mehr da gewesen sind. Wir sind hier, wir arbeiten hier, wir leben hier, wir zahlen unsere Steuern hier. Obwohl wir kein Recht haben, zu wählen. Ich denke mir, Wahlrecht ist auch ein Menschenrecht. Wir reden darüber, dass in anderen Ländern Menschen rechte verletzt werden, aber unseren eigenen Mist hier gucken wir uns nicht an. Werden hier alle Menschen gleichbehandelt? Warum gibt es in den Betrieben so eine Belegschaftsspaltung? Damals waren es die Deutschen gegen die Ausländer. Die Ausländer sind gekommen und haben angeblich Arbeitsplätze weggenommen. Jetzt gibt es diese Diskriminierung in den Betrieben wieder: Da gibt es Leiharbeiter, das Stammpersonal, die Belegschaft wird immer gespalten, einer gegen den anderen. Und was haben wir jetzt für eine Gesellschaft? Eine Ellenbogengesellschaft. Jeder denkt an sich selbst, Hauptsache, mir geht's gut. Das ist schon schlimm genug. Diese Solidarität, die wir frühererlebt haben – heute leben wir nicht mehr so. Weil die Menschen schon anders denken. Jede denkt, der Krieg ist so weit weg, hier kommt er nicht hin. Da sind Menschen arm, wir werden nicht arm. Aber wir können zurzeit eine Entwicklung sehen.

CAFARO: Du hast davon berichtet, dass ihr zum Beispiel unterschreiben musstet, nicht schwanger zu sein, dass ihr bei der medizinischen Untersuchung vor der Ankunft in Deutschland auch ausschließen lassen musstet, schwanger zu sein. Du hast berichtet, dass du nur mit der Erlaubnis deines Mannes arbeiten konntest. Fallen dir noch weitere Beispiele sexistischer Diskriminierung bei der Arbeit ein? Und in dem Zusammenhang vielleicht auch: Wie war die Situation der Kinderbetreuung? Du und dein Mann haben drei Kinder bekommen und ihr habt beide bei Hella gearbeitet. Wie hat das funktioniert?

VAVITSA: Also die erste große Überraschung war, dass mein Mann bewilligen musste, dass ich arbeite. Das war für mich was ganz Neues. Aus der Sowjetunion kannte ich, dass Frauen gleichgestellt waren. Frauen haben die gleichen Rechte gehabt wie Männer. Sie durften studieren, was sie wollten, genau wie die Männer. Also es gab diese Einteilung in Frauenberuf und Männerberuf nicht, das war schon ein großer Unterschied hier. Ich komme auch aus einer sehr politisch bewussten Familie, da waren für mich bestimmte Sachen klar und selbstverständlich. Ich kannte das aus meiner ersten Heimat. Ja, gut, über Griechenland können wir überhaupt nicht reden, da war Militärdiktatur, da warst du kein Mensch, da zähltest du nicht als gleichgestellter Mensch, obwohl meine Eltern beide Griechen waren. Aber das hier auch in Deutschland zu erleben, das war für mich eine Überraschung. Dass die gleiche Arbeit, die ich gemacht habe und die ein Mann gemacht hat, eine unterschiedliche Entlohnung ergab, das war auch eine große Überraschung für mich. Und das war Diskriminierung, das war Frauendiskriminierung. Auch in der Ausbildung gab es keine Mädchen. Es waren nur Jungs da. Gott sei Dank haben die Zeiten sich jetzt geändert und es ist ein bisschen anders. Im Angestellten-Bereich; wie viele Kinder sind zu welcher Schule gegangen? Und wie viele Kinder von ausländischen Kollegen sind aufs Gymnasium gegangen? Da ist diese Spaltung wieder, schon die Ausgrenzung von ausländischen Kindern auf der Hauptschule. Ein ausländisches Kind kann nur eine Hauptschule besuchen und nicht ein Gymnasium oder eine andere Schule. Das war schon eine große Überraschung für uns, das ganze Bildungssystem war es. Ja gut, das Bildungssystem in Griechenland war auch sehr schlecht, aber über das Bildungssystem in Deutschland hätte ich das nie gedacht. So ein reiches Land wie Deutschland? Deutschland galt als Musterland im ganzen Westen, gerade durch die Gegenüberstellung mit der DDR. Obwohl Griechenland auch zum Westen gehörte und ganz anders war, auch in Spanien und Italien war es ganz anders. Aber Deutschland, ein reiches Land, ein Musterland für den ganzen Westen, das war schon beschämend, wie es hier damals gewesen ist, zum Beispiel mit der Kinderbetreuung. Sie wollten Arbeitskräfte, aber es sind Menschen hier hingekommen. Aber an so was wie Kinderbetreuung hat niemand gedacht. Wir haben auch hier gelebt und nicht nur gearbeitet und niemand war da, um uns zu unterstützen. Tages- und Kinderbetreuung wurde gar nicht thematisiert. Klar, wir waren junge Menschen, wir wollten auch Familien haben. Und dann kamen die Kinder und was war mit unseren Kindern? Unsere Kinder waren Kofferkinder. Und viele Kollegen fragen: „Warum sagst du Kofferkinder?“ Ja, warum wohl? Weil sie hier nicht bleiben durften, weil wir keine Wohnung finden konnten, keine Kinderbetreuung finden konnten. Wenn, du Glück hattest, bist du im gleichen Werk zur Arbeit gegangen wie dein Mann oder deine Frau. Bei Hella waren die meisten Menschen damals in der Frühschicht, im Ein-Schicht-System. Es gab ganz wenige Bereiche, wo es das Drei-Schichten-System gab, und in der Nachtschicht waren nur Männer angestellt, keine Frauen. Das war schwierig, um Kinder hier zu betreuen. Und so waren unsere Kinder mal in Griechenland, mal hier, mal mit einem Opa, mal mit einer Oma zusammen. Manchmal sind sie zu uns zu Besuch gekommen für einen oder zwei Monate und dann waren sie wieder weg. Du hattest immer ein Problem mit der Aufenthaltsberechtigung, mit dem Bleiberecht und allem möglichen. Es war sehr schwierig eine private Wohnung zu finden. Es gab immer die Frage? „Hast du einen Hund? Hast du eine Katze?“ Dann warst du herzlich willkommen! Aber wenn du Kinder hattest, warst du nicht erwünscht. So wurden unsere Kinder hin und her geschoben. Also richtige Kofferkinder. Das war sehr schwierig. Irgendwann haben wir bei einer Genossenschaft in Lippstadt, bei der GBR, eine Wohnung gekriegt. Die hatten auch die Nase voll: Wir hatten schon zwei Kinder und dann war ich zum dritten Mal schwanger und ich bin mit meinem großen Bauch einmal die Woche bei der GBR aufgetaucht. Irgendwann hatten sie die Nase voll und haben uns eine größere Wohnung vermietet. So sind unsere Kinder dann hierhin gekommen.

Ja, die Frage mit dem Kindergarten. Drei Kinder. Von allen drei hat nur eines einen Platz gekriegt. Mein Mann hat elf Jahre nur in der Nachtschicht gearbeitet. Und ich war in der Frühschicht, so mussten wir uns abwechseln. Man kann sich vorstellen, wie schwer das war. Es war schon schlimm. Wir haben das Problem bei der Geschäftsführung von Hella öfter erwähnt und eine Tagesstätte bei Hella verlangt. Aber die haben dann gesagt: „Wir sind nicht in der DDR, das brauchen wir nicht.“

So, jetzt hatte Hella zwei Tagesstätten, aber nicht für gewerbliche Mitarbeiter. Nur für Angestellte. Die Tagesstätte machte um 7:00 Uhr auf und wir mussten um fünf vor sechs am Band stehen. Wo sollte ich mein Kind eine Stunde lassen? An Gewerbliche wurde wieder nicht gedacht, die haben nur an Angestellte gedacht. So war es. Schwierig.

CAFARO: Du hast erzählt, dass ihr alle sehr enttäuscht von der Gewerkschaft wart?

VAVITSA: Damals, ja.

CAFARO: Und wie ging dann dein Weg mit der Gewerkschaft weiter?

VAVITSA: Nach dem Zerfall der Militärdiktatur haben meine Eltern griechische Papiere gekriegt. Und dann wollten sie unbedingt dieses Wunderland, Deutschland, besuchen, um selbst festzustellen, wie es hier ist. Und so waren meine Eltern zum Besuch hier. Bei Hella gab es immer wieder Krisen, sie hatten wenig Aufträge und mussten dann Leute entlassen und als Erste waren wir, die Migranten, dran. Und dann jedes Mal, wenn man mitkriegte, dass es wieder eine Krise und Entlassungen gibt, haben wir gesagt: „Die nächste bin ich.“ Also du hast dein ganzes Leben mit dieser Angst gelebt, bald bist du dran. Immer wieder, immer wieder. Die ersten waren immer die Migranten, weil wir meistens ungelernten Arbeitskräfte waren. Viele von uns waren Analphabeten und so haben wir richtig Angst gehabt. An einem Tag kam ich mit so einem langen Gesicht nach Hause, weil uns gesagt worden ist, dass Leute entlassen werden. Das habe ich erzählt und das Erste, was mein Vater gefragt hat, war: „Was sagt die Gewerkschaft?“ Ja, ich habe gesagt: „Welche Gewerkschaft? Die sehen wir überhaupt nicht. Die sitzen im Werk, aber wir sehen die Gewerkschaft nicht. Die werden uns auch nicht informieren, nach dem Streik habe ich keine Gewerkschaft gesehen. Und außerdem bin ich nicht Mitglied in der Gewerkschaft“. Da sagt er: „Ja, morgen wenn du von der Arbeit kommst, solltest du Mitglied geworden sein.“ Am nächsten Tag bin ich in einer Pause zum Betriebsrat gegangen. Auch nach so langer Zeit wusste ich noch nicht, dass es nicht die Gewerkschaft, sondern der Betriebsrat war. Ich habe gesagt: „Ich möchte Mitglied werden.“ Dann haben sie ein bisschen die Augen verdreht, aber die haben mich aufgenommen. Als ich nach Hause kam, fragte mein Vater mich nicht danach, er wusste ganz genau, ich musste das tun, was Papa gesagt hatte. Er war ein Vorbild für mich. Aber mein Vater hat gefragt: „Wie viele Leute sitzen im Büro der Gewerkschaft?“. Fünf Betriebsräte, fünf freigestellte Betriebsräte, fünf Leute“, habe ich gesagt. Und dann sagte er zu mir: „Aber du glaubst nicht, dass diese fünf Leute euer Problem lösen werden?“ Ich guckte ihn an und wollte verstehen, was Papa da sagen wollte. Er sagte zu mir: „Ja, ihr sollt aktiv werden. Es reicht nicht, dass du jetzt Mitglied geworden bist, du musst immer wieder für deine Arbeits rechte kämpfen. Es reicht nicht, wenn du Mitglied bist. Fünf Leute alleine schaffen es nicht, eure Probleme zu lösen.“ Nur so bin ich so aktiv geworden.

Jetzt, wo ich Mitglied der IG Metall war, durfte ich auch jammern und motzen, wenn etwas nicht in Ordnung war. Wenn ich und meine Kollegen etwas am Arbeitsplatz nicht in Ordnung fanden, sind wir nicht mehr zum Dolmetscher, sondern zum Betriebsrat gegangen. Ich als Erste. Am Anfang bin ich immer alleine gegangen, aber dann habe ich gesagt: „Kollegen, die haben die Nase voll von mir, wir müssen mit mehreren Personen dahin gehen. Wenn ich alleine komme, denken sie, ich sei die Unruhestifterin, nur ich würde jammern und die anderen wären zufrieden.“ Wir haben gesagt: „Jetzt gehen wir alle zusammen!“ Weil ich wegen Schwierigkeiten immer beim Betriebsrat war, haben die irgendwann gesagt: „Weißt du was, Irina, du musst Vertrauensfrau werden in den gewerkschaftlichen Strukturen.“ Später habe ich erfahren, dass der Ortsvorstand der IG Metall unser Verhalten beim Streik lang und breit diskutiert hat. Ich denke mal, das kam auch vom Vorstand, weil die gesagt haben: „Das sind viele Menschen, das ist ein großes Potenzial für die IG Metall. Wir können diese Menschen nicht ausschließen.“ Irgendwann haben die kapiert, dass es nicht fair war, nicht korrekt war, so mit uns umzugehen. Wir waren die Ausgebeuteten und wir waren Arbeiter. Egal welche Nationalität jemand hat, egal was für einen Pass, egal was für ein Geschlecht –wir waren Arbeiter und die konnten uns nicht ausschließen. Und dann haben die versucht, uns in alle gewerkschaftlichen Strukturen im Betrieb zu integrieren, und so sind später alle vier Personen-Gruppen in diesen gewerkschaftlichen Strukturen gewesen. Wir haben unsere Leute vertreten, denn unsere Leute konnten mit uns besser in unserer eigenen Sprache sprechen. Man darf nicht denken, dass eine ausländische Frau in den 70er- und 80er-Jahren mit irgendeinem Problem zu einem deutschen Betriebsratskollegen gegangen wäre. Nie im Leben. Jetzt schon, damals aber noch nicht. Weil wir dann alle vier Personen-Gruppen in diesen Gremien vertreten hatten, haben wir Vertrauen gewonnen. Wir haben viele Kollegen in der Gewerkschaft organisiert. Wir waren immer in der ersten Reihe. Ich vergesse nie den Kampf um die 35-Stunden-Woche, der 83 begann. Ich war zufällig damals auch im griechischen Verein im Vorstand und viele Jahre Vorsitzende und als IG Metall haben wir überlegt, wie wir alle Kollegen erreichen könnten. Wir waren damals Vertrauensleute und noch keine Betriebsräte. Ich habe gesagt: „So, ich bin Vorsitzende im griechischen Verein, ich lade jetzt meine Landsleute ein – wir haben auch viele IG-Metall-Mitglieder dabei gehabt – und dann laden wir jemanden von der Abteilung Ausländische Arbeitnehmer ein, ein Grieche. Und so haben die Spanier, die Italiener und die Jugoslawen das auch gemacht. Wir haben gedacht, dass da so viele Menschen sind, die man nicht alle erreichen kann, weil du nicht die Zeit hast, dich allen Menschen zu erklären. Auch wir waren in bestimmten gewerkschaftlichen Sachen nicht so fit. Und so haben wir die Leute in unsere Vereine eingeladen. Und dann kamen die Kollegen und wir haben in unserer Sprache alles erklärt. So haben wir viele, viele Kollegen erreicht. Damals haben wir nicht diese Medien wie heute gehabt, keine Handys oder WhatsApp-Gruppen und alles, was die jungen Leute heute haben. Damit ist es viel, viel einfacher, viel leichter. Aber damals war es anders. Da war Mundpropaganda wichtig und der griechische Verein war damals auch der Ort, an dem wir alle betrieblichen Probleme gelöst haben. Das war ein griechischer Verein, aber das war auch ein Raum, in dem jeder seinen Frust ablassen und über seine Probleme reden konnte. Als griechischer Kollege hast du da mehr Vertrauen als zu einem deutschen Kollegen. Ich denke mal, es ging nicht nur um das Vertrauen, sondern auch um die Sprachbarriere –wir hatten noch viele, viele Jahre später viele Kollegen, die immer noch nicht richtig Deutsch konnten. Und die haben sich geschämt. Das war eine andere Situation damals. Man kann es einfach nie beschreiben, wie viele Schwierigkeiten wir erlebt haben. Ich denke mir, wenn viele deutsche Kollegen wissen würden, aus welchem Grund wir hier gelandet sind, was wir durchgemacht und unter welchen Bedingungen wir gearbeitet haben, unter welche Bedingungen wir gelebt haben, was wir überhaupt alles erlebt, wie viel Ungerechtigkeiten wir erlebt haben, wären wir für diese Kollegen nicht der böse Buhmann. Sie würden uns nicht die Schuld an dieser miserablen Situation jetzt geben. Ich denke mir, auch diese populistischen Gedanken würde es vielleicht nicht so geben.

CAFARO: Du warst dann mehrere Jahrzehnte Betriebsrätin und aktive Gewerkschafterin. Vor ein paar Jahren bist du verrentet worden. Aber aktiv in der IG Metall bist du heute immer noch?

VAVITSA: Ja, ich finde es ziemlich wichtig, in bestimmten Gremien aktiv zu sein. Wie gesagt, es gibt bestimmte Entscheidungsgremien, wo sonst ohne dich über dich entschieden wird. Aber ich vergesse auch nicht die Worte meines Vaters, der sagte: „Als Mensch musst in deinem ganzen Leben für den Frieden und für die Gerechtigkeit kämpfen, egal wie alt bist du.“

Und ich nutze das aus und sag: „Solange wie in der Satzung von IG Metall nicht steht, der Rentner soll sich vor den Fernseher setzen und sich verblöden, sollen Rentner aktiv sein.“ Aber ich habe auch Verantwortung. Ich habe Kinder und ich habe Enkelkinder und ich möchte auch nicht nur für meine Kinder, sondern für alle Kinder dieser Welt eine bessere Zukunft ohne Armut, ohne Kriege, ohne Flucht, ohne Ausbeutung. Ich wünsche mir als erstes Frieden, weil es ohne Frieden nichts gibt, es gibt kein Leben ohne Frieden. Wir müssen erst mal für den Frieden kämpfen. Es reicht nicht nur gegen den Krieg zu sein, du musst etwas für den Frieden tun. Du musst lebenslang nicht nur lernen, sondern auch kämpfen für die Gerechtigkeit, für eine bessere Zukunft für alle Menschen, für alle Kinder dieser Welt.

Es ist schon traurig, nach Palästina zu gucken. Wie viele Menschen eiskalt auf Kriege gucken. Man kann nicht neutral bleiben, man kann nicht die Augen vor solchen Sachen verschließen. Das ist nicht fair. Wir leben nur einmal und niemand hat das Recht, das Leben von anderen Menschen wegzunehmen. Niemand.

CAFARO: Danke, liebe Irina, für das Gespräch.

VAVITSA: Gern.

  • 1. Das passive Wahlrecht für Beschäftigte aus EWG-Ländern wurde 1963 beschlossen.