Wie ich ein Verräter wurde
Der folgende Essay ist aus der Perspektive eines sozialen Außenseiters verfasst, der wenig Neigung verspürt, für die ihn malträtierende Ordnung in den Krieg zu ziehen: „Dreißig Jahre lang hat die Gesellschaft darauf bestanden, dass ich abnormal sei, nur weil ich auf Männer stehe. Jetzt verlangt sie plötzlich, dass ich sie verteidige.“ Aber Ilja Kharkow bläst nicht ins Horn einer wohlfeilen Identitätspolitik. Ihm geht es um mehr, um etwas Grundsätzliches: um Einspruch gegen die Anmaßung des Staates, über das Leben seiner Untertanen zu verfügen. Und um das befremdliche Schauspiel, wie eine Gesellschaft im Krieg genau dem immer ähnlicher wird, was sie dabei doch angeblich bekämpft. Eine dringend notwendige Abrechnung mit Nationalchauvinismus und autoritärer Formierung auf beiden Seiten der Front – zu einer Zeit, in der die mit roher Gewalt durchgeführte Zwangsrekrutierung in der Ukraine auf wachsenden Widerstand stößt.
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Vorteile der Außenseiterexistenz
„Ich war hier kein Mensch. Kein Besucher. Ich war ein Geflüchteter. Ein Opfer. Und es war ihnen egal, dass ich auch ein Jäger war. Ein echter Sadist. Ich war auf der Jagd nach meinem Räuber. Aber sie sahen mich nur in einer Dimension.“ – Aus The Mining Boys
Ich muss zugeben, dass ich in meinem Roman The Mining Boys einige Momente beschönigt habe.1 Zum Beispiel heißt es in der Szene, in der ich auf meiner Flucht zur Grenze von einem Militärangehörigen geschlagen werde, er hätte dabei die ukrainische Nationalhymne gesungen. In Wirklichkeit hat er nicht gesungen, sondern laut geflucht. Die Hymne schien mir ein ausdrucksstärkeres Mittel zu sein, um die Absurdität des Geschehens zu vermitteln: Die Figur sucht Schutz, wird aber am Ende von genau der Person gefangen gehalten, vor der sie Schutz sucht. Der Kern jedoch blieb unverändert: Es war ein bösartiger, hässlicher, gesetzeswidriger körperlicher Übergriff, der perfekt veranschaulicht, wie die Ukraine in den ersten Tagen des Krieges aussah, während im Fernsehen von nationaler Einheit die Rede war.
Solche Abweichungen habe ich mir erlaubt, weil ich mit dem Roman ein fiktives Werk schaffen wollte, keinen dokumentarischen Text. Mit diesem Essay verfolge ich ein anderes Ziel, nämlich die ungeschönte Wirklichkeit zu zeigen – eine Wirklichkeit, über die nicht gesprochen wird.
Warum spricht niemand über sie? Weil es unpatriotisch ist, die Wahrheit zu sagen. Weil man im Krieg sein Land unterstützen muss, egal welche Verbrechen es begeht – andernfalls wird man zu einem exzentrischen Außenseiter. Weil die patriarchale Gesellschaft verlangt, dass alle Männer an die Front wollen, sonst wird ihnen das entscheidende Recht genommen, ein Mann genannt zu werden. Weil sie einen sonst schlagen und man sich am Ende öffentlich entschuldigen muss.
Warum also kann ich sagen, was andere nicht sagen können? Weil ich schwul bin und die ukrainische Gesellschaft derart homophob ist, dass sie Russland mental viel ähnlicher ist als Europa. Da ich dreißig Jahre lang in einem homophoben Land gelebt habe, weiß ich, wie es ist, ein Außenseiter, ja Aussätziger zu sein; nicht nur macht es mir keine Angst, ich kenne es sogar sehr gut.
Die Metamorphose des Staates amüsiert mich. Dreißig Jahre lang hat die Gesellschaft darauf bestanden, dass ich abnormal sei, nur weil ich auf Männer stehe. Jetzt verlangt sie plötzlich, dass ich sie verteidige. Das Opfer, das den Täter verteidigt, ist ein Moment der slawischen Kultur, das besonders in der russischen Literatur häufig auftaucht. Doch so großartig diese Literatur auch sein mag, mit gesundem Menschenverstand hat ein solches Verhalten wenig gemein. Das gilt für vieles, was heute in der Ukraine und in Russland geschieht.
Mit diesem Text möchte ich den Schleier der Propaganda lüften, durch den die Welt Informationen über den russisch-ukrainischen Krieg erhält. Die Propaganda behauptet, die Ukraine kämpfe für die Demokratie, obwohl dort die Menschenrechte außer Kraft gesetzt werden. Sie behauptet, es gebe eine kollektive Verantwortung, soll heißen: Jeder Russe trägt Schuld am Krieg – aber auf das eigene Land wendet sie dieses Prinzip nicht an. Die Propaganda erklärt, Töten sei normal und jeder Ukrainer solle wissen, wie man tötet. Ich betrachte jedes Töten als eben das: als Töten und sonst nichts. Genauso wie ich jede Vergewaltigung als Vergewaltigung betrachte, unabhängig vom Kontext. Es ist merkwürdig: Wenn der erzwungene Geschlechtsverkehr als Vergewaltigung bezeichnet wird, warum nennen wir die erzwungene Landesverteidigung dann nicht ein Verbrechen? Die Zwangsmobilisierung in der Ukraine scheint ihren Zenit überschritten zu haben, aber es gibt keine Anzeichen dafür, dass sie bald aufhören wird. Genau darüber möchte ich sprechen.
Verdammtes Gitter der Gleichgültigkeit
„Erwachsene schreien lauter als ihre Kinder. Kinder werden nach jeder lauten Explosion erwachsen. Jazz, das hat mich davor bewahrt, verrückt zu werden. Ja, die Leute sind buchstäblich durchgedreht. Einmal habe ich auf der Straße ein Paar gesehen. Das Mädchen küsst den Jungen, und sie weint. Der Junge lacht, und deshalb küsst sie gar nicht seine Lippen, sondern sein Zahnfleisch. Er lacht. Dann schieben die Ärzte ihn in den Krankenwagen“. – Aus Holes in the Shape of Humans
Ich schreibe diesen Text in Portugal, in der gemütlichen Biblioteca Municipal Almeida Garrett. Wegen Renovierungsarbeiten ist der Haupteingang geschlossen, also musste ich durch den Parque da Quinta da Macieirinha um das Gebäude herum gehen. Ich lief den kleinen Hügel hinunter und von der Westseite auf rutschigem Kopfsteinpflaster wieder hinauf. Die Steinmauer, an der ich entlang ging, hatte hier und da Öffnungen, die mit einem Eisengitter versehen waren.
Hinter einem dieser Gitter stand ein Mann um die dreißig, in der einen Hand eine Zigarette, in der anderen einen Pappbecher Kaffee. Da es gerade geregnet hatte, rutschte ich auf dem Kopfsteinpflaster aus und stürzte. Ich fiel genau vor die Füße des Mannes. Er gestikulierte mit den Händen, verschüttete aber nur seinen Kaffee. Wegen des Gitters konnte er mir nicht helfen. Ich sah, wie ihn das schon nicht mehr weiter kümmerte. Erstaunliche Verwandlung. Ich stand auf, schüttelte den Dreck ab und ging weiter.
In dieser portugiesischen Bibliothek fühle ich mich nicht fremd, denn neben den braungebrannten Portugies:innen sind dort viele lebhafte Menschen aus Brasilien und Afrika, ein paar aus Russland, ein paar aus Amerika, deren Akzent sofort an ein englisches Hörbuch erinnert, und ein lustiger sechsjähriger Filipino, der mich einmal versehentlich „Daddy“ nannte. Man könnte annehmen, dass ich mich in Europa immer so wohl fühle. Aber dem ist nicht so.
Die meisten Menschen in Europa – vor allem Männer – stellen mir oft die Frage: „Warum wolltest du nicht für dein Land kämpfen?“ In dieser Frage steckt keine Sympathie. Keine Solidarität. Nur Neugierde. Genau wie bei meinem Sturz vor das Eisengitter. Bei jeder Begegnung, die ich mit Menschen in Europa habe, taucht dasselbe unsichtbare Gitter auf. Die NATO gibt ihnen ein Gefühl der Sicherheit. Einen Krieg in Portugal kann man sich nicht vorstellen, und so herrscht im Umgang mit einem Geflüchteten aus der Ukraine eine Kälte, die im Gegensatz zur portugiesischen Wärme steht.
In Portugal bin ich ein skurriles Exponat, jemand, der während des Krieges nutzlose Lebenserfahrung gesammelt hat. Die Menschen hier sind zu weit entfernt von der Ukraine, um zu verstehen, dass der Feind nicht Russland oder die Ukraine ist, sondern das System. Ein Krieg in Portugal mag unmöglich scheinen, aber das schützt das Land nicht vor dem Schaden, den das System anrichten kann. Das Komische an der portugiesischen Situation ist, dass hier vor noch nicht allzu langer Zeit die Diktatur von António de Oliveira Salazar herrschte und im benachbarten Spanien die von Franco. Aber auch das trägt nicht dazu bei, dass die Leute aufwachen und erkennen, dass hinter dem Krieg in der Ukraine mehr steckt, etwas, das nicht nur Slaw:innen, sondern alle bedroht.
Gleichgültigkeit ist die Gefahr unserer Zeit. Gleichgültigkeit aus Überdruss. Aus trügerischer Sicherheit. Ein Fernsehbildschirm, ein Computermonitor, das Eisengitter in einer Steinmauer – wir alle sind Geiseln des staatlichen Systems. Man kann sich für noch so systemfremd halten, ein Randständiger oder Aussätziger sein, der Staat betrachtet einen trotzdem als seine Ressource. Frauen fordern ein, dass Männer sie abends in der Bar nicht zum Objekt machen; derweil werden die Männer vom Staat zum Objekt gemacht. Die Ukraine hat ihre männliche Bevölkerung mühelos in eine Mobilisierungsreserve verwandelt. Jetzt erklären die ukrainischen Behörden offiziell, alle im Ausland lebenden ukrainischen Männer sollten abgeschoben werden, um sie zuhause vor die Wahl zwischen Gefängnis und Krieg zu stellen. Ich akzeptiere diese Alternative nicht. Wie würden Sie sich entscheiden?
Es ist bemerkenswert, wie ein Staat, der seine Bürger mit dem Tod bedroht, zugleich die Drohung mit dem Entzug der Staatsbürgerschaft als Druckmittel einsetzt. Ich werde mich nicht lange damit aufhalten zu erläutern, wie absurd es ist, auf etwas stolz zu sein, das man nicht durch eigene Anstrengungen verdient, sondern zufällig verliehen bekommen hat. In jedem Fall ist es keine Schande, die Staatsbürgerschaft eines Landes zu verlieren, das einen bedroht; es ist eine Ehre und ein Privileg. Es ist die gleiche Ehre wie die, in Russland als ausländischer Agent gebrandmarkt zu werden. Auch wenn er im gegebenen Moment wie eine Katastrophe wirken mag, ist jeder solche Stigmatisierungsversuch des Staates historisch gesehen eine Auszeichnung.
Nicht alle Menschen in Russland sind schlecht. Nicht alle in der Ukraine sind Helden. Es gibt keinen Grund, russischen Statistiken zu vertrauen, denn schon vor dem Krieg wussten wir, dass die zuständigen Institutionen vom Regime kontrolliert werden. Ukrainischen Statistiken zu vertrauen ist ebenfalls naiv, aber aus irgendeinem Grund ist das vielen Leuten weniger klar. Beide Seiten beeinträchtigen das Leben von Menschen und machen den Verwandten von gestern zur Zielscheibe für die Artillerie.
Aber ist ein Mensch von Natur aus böse? Die erste Reaktion des Mannes hinter dem Eisengitter bei der Bibliothek war zum Beispiel überaus achtenswert – er wollte jemandem helfen, der gestürzt ist. Aufgrund des Gitters hat er aber nur Kaffee über ihn geschüttet. Die Menschen neigen von Natur aus eher zum Guten als zum Bösen, aber vom System geschaffene Umstände wie dieses Gitter machen aus einem gewöhnlichen Menschen einen Übeltäter. Wie kann das passieren? Das System liefert den Menschen eine Rechtfertigung für ihre Gleichgültigkeit. Gleichgültigkeit führt zu Untätigkeit. Und die Untätigkeit des Einzelnen ermöglicht es dem System, Verbrechen zu begehen und ungestraft zu bleiben.
Der Feldzug gegen die Kultur mündet im Dreck
„Es ist unmöglich, die Schrecken des Krieges genau zu schildern, denn wenn man das tut, fügt man ihnen eine Logik hinzu, die während des Krieges oft gar nicht existiert.“ – Aus The Mining Boys
Aus Büchern über das Handwerk des Schreibens kenne ich die Handlungsstruktur, die die meisten Menschen interessant finden. Man muss nur Gegensätze aufeinanderprallen lassen. Man muss schildern, wie eine Figur am Ende auf der Seite desjenigen steht, den sie anfangs bekämpft hat. Eine KZ-Überlebende begegnet einem ehemaligen Wachmann und verliebt sich in ihn. Eine interessante Geschichte? Durchaus, aber viel aufschlussreicher ist es, nicht ein Individuum, sondern ein ganzes Land zu beobachten.
Zu Beginn des Krieges hat die Ukraine nach Kräften zu beweisen versucht, dass Ukrainer:innen und Russ:innen nicht nur keine brüderlichen Völker sind, sondern überhaupt nichts miteinander gemein haben. Das führte zur Ächtung der russischen Kultur in der Ukraine, und damit haben wir genau wie in Russland Ignoranz legitimiert; für die Romane von Fjodor Dostojewski spüren wir keine Begeisterung mehr, stattdessen erleben wir eine brutale Mobilmachung und die Unterdrückung von Meinungsfreiheit und Dissens. Friedrich Nietzsches Attacken auf die Moral hat das ukrainische Militär noch übertroffen: In Odessa schlugen Soldaten einen Mann vor den Augen seines kleinen Kindes, weil er sich weigerte, dem Einberufungsbefehl nachzukommen.
Selbst wenn die Ukraine den Krieg gewinnen sollte, wird es das Land, in dem ich gelebt habe, nicht mehr geben. Als Russland zu Beginn des Krieges behauptete, sein Einmarsch diene dem Schutz der russischsprachigen Bevölkerung vor der Diskriminierung durch die ukrainischen Behörden, war das absurd. Als russischsprachiger Einwohner der Ukraine kann ich bestätigen, dass es eine solche Diskriminierung vor dem Krieg kaum gab. Jetzt aber durchaus: Der Bürgermeister von Charkiw zum Beispiel wurde zu einer Geldstrafe verurteilt, nur weil er ein Interview auf Russisch gegeben hatte.
Heute kann ein russischsprachiger Ukrainer eine solche Diskriminierung aber nicht mehr geltend machen, denn damit würde er indirekt die Behauptungen Russlands bestätigen und sich so auf die Seite des Aggressors stellen. Ich unterstütze die russische Aggression jedoch nicht, und trotzdem sage ich, dass Russisch, nicht Ukrainisch, meine Muttersprache ist. Selbst in meinem ukrainischen Pass steht mein Name in beiden Sprachen. Bedenkt man, dass die Hälfte der Bevölkerung russischsprachig ist, dann stellt die Unterdrückung dieser Sprache durch die Behörden einen ungeheuerlichen Verstoß gegen ihre Rechte dar. Und es geht nicht nur um Minderheitenrechte. Auch in dieser Hinsicht ähnelt die Ukraine stärker Russland als Europa, wo eine solche Diskriminierung zumindest als unfein gilt.
In den Medien wird die Ukraine als ein Land dargestellt, das für demokratische Werte und Freiheit kämpft. Gleichzeitig hat die Ukraine jedoch die Menschenrechte suspendiert. Der Krieg rechtfertigt alles. Seit dem ersten Tag des Krieges ist ein Ausreiseverbot für Männer in Kraft. Heute kann ein Mann in der Ukraine ohne Einschaltung des Militärkommissariats keine Arbeit finden, nicht ins Krankenhaus gehen, kein Haus kaufen oder verkaufen. Polizei und Militär verprügeln, demütigen und verhaften jeden, den sie in die Finger bekommen, um ihn zwangszuverpflichten. Einberufungsbescheide werden oft als Methode zur Bestrafung von Bürgern verwendet, die nicht so aussehen wie erwünscht, die falsche Sprache sprechen oder schlicht einen bestimmten Amtsträger nicht mögen.
Zu Beginn des Krieges habe ich die Ereignisse nicht über Nachrichtenseiten, sondern auf TikTok verfolgt, wo gewöhnliche Menschen Videos von Beschuss und Explosionen posteten. Man fand dort unzensierte Nachrichten, aber das ist inzwischen vorbei. In jedem Fall stand außer Frage, wer der Feind war. Schon bald tauchten Videos auf, die Verbrechen zeigten – Soldaten, die junge Männer gewaltsam auf der Straße aufgriffen. Geben Sie einfach Suchbegriffe wie „мобилизация Украине“,„Украина повестки“, „Украина призыв“ bei TikTok ein, und Sie werden Zeuge des Ausmaßes, in dem der ukrainische Staat die eigenen Bürger:innen einschüchtert, demütigt, ihr Leben zerstört. Aber solche Videos werden schnell wieder gelöscht. Ähnliche Bilder findet man auf der russischen TikTok-Seite, allerdings mit einem Unterschied: Während die Einberufung in Russland in regelmäßigen Abständen stattfindet, dauert sie in der Ukraine seit nunmehr eineinhalb Jahren ununterbrochen an.
Die ukrainische Führung erklärt, sie sei bereit, den Krieg um jeden Preis fortzusetzen; sie will um jeden Preis den Sieg erringen. Aber was ist der Preis für einen solchen Sieg? Der Preis bin ich. Mein Leben. Das Leben meiner Freundinnen und Freunde. Nur weil der Staat beschlossen hat, einen solchen Preis zu zahlen, heißt das nicht, dass ich dieselbe Entscheidung getroffen habe. Die List des Systems besteht darin, dass es unter dem Deckmantel des Patriotismus mit dem Bürger verschmilzt, wann immer es opportun ist, und sich im Übrigen von ihm abtrennt.
Ja, die Auslöschung der russischen Kultur in der Ukraine war erfolgreich. Heute bekommt man einen Gedichtband von Joseph Brodsky in Lissabon leichter als in Kiew, aber wer ist dadurch ärmer geworden? Heute begehen Russland wie auch die Ukraine Grausamkeiten, die mit dem Anliegen gerechtfertigt werden, Territorium zu erobern oder zurückzuerobern, Grenzen zu erweitern oder einfach nur die eigene Fortexistenz zu sichern – auf Kosten junger Männer aus armen Familien, die keine 10.000 Dollar haben, um ihrem Sohn einen Pass zu kaufen, mit dem er das Land verlassen kann.
Ein Verbrechen sollte unabhängig von den Motiven ein Verbrechen bleiben. Während die Menschen in Russland aus Angst schweigen, schweigen sie in der Ukraine aufgrund einer logischen Falle, die ihnen die Propaganda gestellt hat: Wer die russische Kultur und Muttersprache verteidigt, der rechtfertigt den Aggressor – eine kompromisslose und effektive Logik.
Aber warum sollte man die Kultur überhaupt angreifen? Das kommt nur beiden Kriegsparteien zugute. Ein kritisch denkender Mensch dagegen wird nicht so schnell den Abzug betätigen.
„Ich will nicht sterben wegen
zwei oder drei Königen, denen
ich noch nie in die Augen gesehen habe.“
– Joseph Brodsky
Kultur wird die Menschen am Sinn von Aggression zweifeln lassen. Kultur vermag zu zeigen, dass die Welt nicht in Schwarz und Weiß, in Fremde und Zugehörige eingeteilt, sondern viel komplexer ist. Deshalb gilt: Selbst wenn die Ukraine den Krieg gewinnen sollte, wird es das Land, in dem ich gelebt habe, nicht mehr geben, und es führt kein Weg zurück zu ihm. Ich will verhindern, dass sie dasselbe mit der Kultur machen.
Eine Preisliste für das Heldentum
„Ein irres Gefühl. Ich habe einmal eine Geschichte gelesen, in der eine Hand gegen ihren Besitzer rebellierte. Ich hätte nicht geglaubt, dass ich mich in einer ähnlichen Situation mit der Sprache befinden würde, und doch habe ich es geschafft…“ – Aus Holes in the Shape of Humans
Die Ukraine züchtet Held:innen. Zum einen, indem sie das ganze Land zu einer heroischen Nation erklärt, und zum anderen, indem sie einzelne Militärs und Politiker:innen entsprechend überhöht. Die so Geehrten haben beste Aussichten, das Gegenteil von dem zu werden, was wir gewöhnlich als einen Helden betrachten.
Heroisierung heißt, einen Menschen in dem Moment zu fixieren, in dem er im Höchstmaße ehrenhaft handelt. Das ist der Höhepunkt. Nach dem Gipfel kommt unweigerlich der Abstieg, daran lassen die portugiesischen Hügel keinen Zweifel. Gestern hieß es in den Medien „Ruhm der ukrainischen Armee“; heute lese ich in einem Artikel: „In der Stadt Kryvyi Rih hat eine Gruppe von Veteranen der ukrainischen Streitkräfte die jungen Teilnehmer einer Fahrradtour verprügelt, weil sie ihr Heimatland nicht verteidigen würden.“
Im Internet findet man mühelos Befunde soziologischer Studien, die anhand von Beispielen zeigen, wie verbittert Menschen aus dem Krieg zurückkehren, wie stark sich solche traumatischen Ereignisse auf die Psyche auswirken. Solche Menschen brauchen eine besondere Betreuung, aber da ich mein ganzes Leben in der Ukraine gelebt habe, bin ich mir mehr als sicher, dass der Staat nicht in der Lage sein wird, das zu leisten. Der Krieg ist noch nicht zu Ende, und schon sehe ich solche Nachrichten – in der Stadt Saporischschja wurde einem Soldaten der Zutritt zu einem Café verweigert, weil er seine Uniform trug. Ein ehemaliger Soldat, der nicht die ihm gebührende Achtung und Fürsorge erfährt, sondern mit der Gleichgültigkeit und Ungerechtigkeit der kapitalistischen Welt konfrontiert ist, wird zweifellos irgendwann in antisozialem Verhalten ein Ventil suchen. Als Außenseiter und Rebell, als russischsprachiger Autor in einer ukrainisch geprägten Diktatur, als schwuler Mann in einer patriarchalen Gesellschaft sind mir einige Erscheinungsformen solchen Verhaltens wohlbekannt, aber in meinem Fall geht es nicht um Gewalt.
Wer an einem Krieg teilgenommen hat, dürfte es kaum schaffen, die Gewalt auf dem Schlachtfeld hinter sich zu lassen – wenn es schon einer Lehrerin manchmal schwer fällt, von der Arbeit im Klassenzimmer abzuschalten, wie sollte es dann einem Soldaten gelingen? Aggression, Intoleranz, posttraumatische Belastungsstörung – Berufskrankheiten, die sich nicht so leicht abschütteln lassen. Nachrichten wie die folgende überraschen mich daher nicht: In Kyjiw wurde ein Soldat zu einer Geldstrafe verurteilt, weil er einen Designer in der Nähe eines Clubs aus homophoben Motiven geschlagen hatte. Die Strafe belief sich auf 45 Dollar.
Wenn 45 Dollar der vom Staat festgelegte Preis für Prügel ist, dann kann man in der Ukraine ohne Weiteres ein Geschäft eröffnen, in dem man zu einem festen Preis junge Männer verprügeln darf. Stimmlose und stumme Menschen. Machtlos und daher ohne Schutz.
Eines Tages wird der Krieg enden. Die Held:innen kehren heim, das Land ist noch ärmer. Man muss sich vor Augen führen, dass der Mindestlohn in der Ukraine 212 Dollar beträgt und die Rente 70 Dollar. Jemanden zu verprügeln kostet 45. Der Preis des Apple Pencil, mit dem ich mir Notizen für meine Texte mache, entspricht zwei ukrainischen Monatsrenten oder drei Prügelattacken.
Die Jagd auf junge ukrainische Männer
„Humanismus ist die Verteidigung des Einzelnen. Faschismus ist der Versuch, eine Nation zu ‚schützen‘.“ – Aus The Mining Boys
Meine Wandlungsfähigkeit erstaunt mich: Ich war einfach ein netter Kerl, und jetzt bin ich plötzlich Teil der Mobilisierungsreserve. Bei Kriegsbeginn gab es tatsächlich viele Freiwillige, aber bereits nach ein paar Monaten ging ihre Zahl stark zurück. Neue Soldaten mussten unter Zwang auf der Straße rekrutiert werden. Was für ein aufregendes Spiel es doch ist, vor dem Militär wegzulaufen, das einen eigentlich beschützen soll, und nachts die Explosionen der russischen Raketen zu hören, die angeblich zur Verteidigung Russlands auf unsere Städte fallen. Selbst ein gerissenes Kondom im Ecstasy-Club ist nicht so gefährlich wie die Verteidigung der Ukraine und Russlands, deren Narben ich noch in meinem Sarg durch einen Spalt sehen werde.
Am ersten Tag des Krieges machten mein Partner und ich uns naiv auf den Weg nach Lwiw, um dort die Grenze zu überqueren. Erst auf der Fahrt dorthin, die nicht wie üblich sechs, sondern dreiunddreißig Stunden dauerte, erfuhren wir, dass der Präsident ein Dekret unterzeichnet hatte, das Männern im wehrfähigen Alter die Ausreise verbietet. Trotzdem versuchten wir das Land zu verlassen, denn dieses Verbot klang so absurd, dass wir es nicht glauben konnten. Krieg. Geschlossene Grenzen. Ukrainisch sprechende Soldat:innen kontrollieren meinen Pass, und als sie sehen, dass ich aus dem Osten des Landes komme, behandeln sie mich sofort mit Misstrauen, so als ob ich ein Verräter und die Ursache des Krieges wäre.
Meine Heimatstadt wurde in den ersten Tagen des Konflikts besetzt. Sie ist es noch immer. Verwandte riefen mich an und meinten, ich solle besser bei ihnen Unterschlupf suchen, nicht in Lwiw. Ich dachte, sie seien durch den ständigen Beschuss verrückt geworden, der sie immer wieder in den Keller zwang – richtig: in der Ukraine gelten Keller als Schutzräume, selbst nach anderthalb Jahren Krieg gibt es wirkliche Schutzräume nur an wenigen Orten. Was abermals zeigt, dass die Ukraine ihre Grenzen schützt, nicht aber ihre Bürger:innen.
Wie sich herausstellte, waren die Grenzen zu Russland noch offen. Daher war es möglich, die besetzten Gebiete über die Krim in Richtung Russland zu verlassen, um von Russland nach Georgien oder in die Türkei und von dort schließlich nach Europa zu gelangen. Aber als mir das klar wurde, war es bereits zu spät: Wir befanden uns im ukrainischsprachigen Lwiw, wo alles Russische verachtet wurde, sogar wir, weil wir Ukrainisch mit Akzent sprachen.
Zweieinhalb Monate lang lebten wir in einem Büro und schliefen auf dem Boden – unter dem Tisch eines Konferenzraums mit Glaswänden. Was könnte absurder sein als der Versuch, sich zweieinhalb Monate lang in einem Raum mit durchsichtigen Wänden zu verstecken? Ich beschreibe diese Zeit in dem Roman The Mining Boys.
Von Zeit zu Zeit kamen Angestellte in das Büro. Ich versuchte, die Kommunikation mit ihnen auf ein Minimum zu beschränken, um Ärger zu vermeiden. Ich traute niemandem, schon gar nicht denen, die sich mein Vertrauen erschleichen wollten. Zweieinhalb Monate lang haben wir uns in einem Putzeimer gewaschen und mit Servietten abgetrocknet. Zweieinhalb verdammte Monate! Und das alles nur, weil wir uns in unserem eigenen Land vor der russischen Armee und ukrainischen Soldaten versteckten. Wir kämpften gegen Anfälle von Paranoia an. Doch Paranoia verfolgt mich bis heute.
In der Westukraine, die als Vorbild für jeden echten Ukrainer verkauft wird, hat sich eine unglaubliche Situation auf dem Wohnungsmarkt entwickelt. Während viele Menschen in Europa Geflüchtete aus der Ukraine kostenlos bei sich aufgenommen haben, kletterten die Mieten in Lwiw auf das Niveau von Paris. Die von den städtischen Behörden organisierten kostenlosen Unterkünfte wurden vom Militär kontrolliert, das dort Männer einzog und in den Tod schickte. Was für eine erhebende Zeit.
In Lwiw machten Polizei und Militär Jagd auf junge Männer. Sie hatten es besonders auf die abgesehen, die aus anderen Regionen nach Lwiw gekommen waren. Vor allem Russischsprachige waren ihnen ein Dorn im Auge, denn die waren für sie der Auslöser des Krieges. Das erzählte mir ein junger Mann, der in das Büro kam. Ich hatte Angst, dass einer der Angestellten uns bei der Polizei anzeigen könnte, nur weil ihm mein Akzent oder meine sexuelle Orientierung nicht gefällt. Und im Fernsehen war immer noch von der nationalen Einheit und dem bevorstehenden Sieg die Rede.
In manchen Geschäften wurde ich wegen meines russischen Akzents nicht bedient. Noch nie war ich so angespannt wie während dieser zweieinhalb Monate. Der Gipfelpunkt war dann der 9. Mai, an dem in unseren Ländern das Ende des Zweiten Weltkriegs gefeiert wird. Es gab Gerüchte, dass Russland an diesem Tag eine Atombombe auf Kyjiw abwerfen würde. Wir hatten derart genug von der angespannten Situation in der Westukraine, dass wir uns am 9. Mai in das mutmaßliche Epizentrum des drohenden Atomkriegs begaben, nur um nicht mehr die ukrainische Sprache zu hören, um nicht mehr beschuldigt zu werden, einen Akzent zu haben, um nicht mehr für den Ausbruch des Krieges verantwortlich gemacht zu werden, und so weiter.
Während die offizielle Rhetorik das positive Bild eines für die Freiheit kämpfenden Landes zeichnet, das kurz vor dem Sieg über ein zerfallendes Imperium steht, werden wir in Wirklichkeit Zeuge einer schmerzlichen Zunahme von diskriminierenden Praktiken, der Straffreiheit autoritärer Strukturen und einer Ohnmacht der einfachen Menschen. In einer solchen Zeit sollten Schriftsteller:innen auf der Seite des gesunden Menschenverstands stehen. Aber was passiert stattdessen?
Das zum Beispiel: Der bekannteste ukrainische Schriftsteller, Serhij Zhadan, veröffentlicht ein Musikvideo, in dem sich ein paar Sekunden lang zwei junge Frauen küssen. Ein Teil des Videos spielt in einer Kirche. Die ukrainische Gesellschaft ist empört darüber, dass sich in einem Video, in dem auch eine Kirche zu sehen ist, zwei Lesben küssen. Der Priester, der die Dreharbeiten genehmigt hatte, wird vom Dienst in der Kirche suspendiert. Der Schriftsteller selbst sagt nichts Substanzielles zu der Angelegenheit und entfernt das Video gehorsam von YouTube. In einem Interview spricht er nur darüber, wie unpassend russischsprachige Schriftsteller:innen in der Ukraine aktuell seien. Und das seien sie schon vorher gewesen. Kampflos fügt er sich, er schweigt zu den wichtigen Fragen. Alles, was er sagt, passt sich in die offizielle Rhetorik ein: Russland ist der Aggressor, die Ukraine das heldenhafte Opfer. Ein Schriftsteller erlangt Bedeutung durch die Worte, die er schreibt; umgekehrt lässt ihn nicht nur ein unglückliches Wort, sondern auch das, was er zur gebotenen Zeit nicht sagt, jämmerlich erscheinen.
Ich glaube nicht an den Sieg der Ukraine, denn im Moment werden dort die Interessen der russischsprachigen Bevölkerung, die keine Minderheit ist, unterdrückt. Genauso wie vorher die Interessen der ukrainischsprachigen Bevölkerung. Ich glaube nicht an den Sieg der Ukraine, weil ukrainische Soldat:innen ihre Uniformen selbst kaufen müssen, während es auf höchster Ebene Korruptionsskandale gibt. Ich glaube nicht an ihn, weil ich kaum Unterschiede zwischen der ukrainischen und der russischen Propaganda sehe. Beide zielen darauf, zu täuschen, Begriffe zu vertauschen und Freiheiten zu unterdrücken.
Dem Staat geht es nur ums Überleben, koste es, was es wolle. Das rechtfertigt er mit allen Mitteln. Leidtragende sind wie immer die einfachen Menschen. Aber jetzt wird ihnen das Maul gestopft, weil es unpatriotisch ist, eine andere Meinung als die offizielle zu vertreten. In Odessa wurde ein Mann vom Militär gewaltsam abgeführt und zur regionalen Einberufungsbehörde gebracht. Die räumte später die „übermäßige Emotionalität“ ihrer Männer ein. So haben sie es genannt – „übermäßige Emotionalität“! Dagegen darf man nichts sagen, denn das wäre unpatriotisch. In genau einer solchen Situation bin ich froh, schwul zu sein – es gibt mir Freiheit.
Die lodernde Flamme der Zwangsmobilisierung
„Was nützt Höflichkeit, wenn sie höflich um Unsinn bitten?“ – Aus The Mining Boys
Sein Leben für einen anderen zu geben, ist ein sehr ehrenhafter Impuls. Aber wenn jemand in einem Büro sitzt und einen Plan ausarbeitet, wie man sein Leben hinzugeben hat, ist das ein Verbrechen, und der Inhaber dieses Büros folglich ein Verbrecher. Aber aus irgendwelchen Gründen wurde nicht er zum Verbrecher erklärt, sondern ich.
Im Fernsehen machen sie mir Angst damit, dass sie mir die Staatsbürgerschaft entziehen werden. In den sozialen Medien zeigen sie Videos von verängstigten Männern, die sich vor der Kamera dafür entschuldigen, dass sie es gewagt haben etwas zu sagen, das der offiziellen Rhetorik widerspricht. Gefängnis oder Krieg – ich bin angewidert, dass ich überhaupt vor eine solche Alternative gestellt werde. Zum Glück hat mich Nietzsche gelehrt, aus zwei Möglichkeiten eine dritte zu wählen. Deshalb erzähle ich Ihnen jetzt eine Geschichte, die Sie nicht glauben werden wollen.
Auf der einen Seite heißt es, die Ukraine sei eine Nation von Helden, auf der anderen, dass alle Russ:innen schlecht seien, weil sie sich nicht des Regimes entledigen. So wird die russische Kultur ausgelöscht und es entsteht eine reaktionäre ukrainische Kultur. Der US-Kongress unterstützt die Ukraine. Europäische Staaten unterstützen die Ukraine. Kultur und Politik eines Landes sind jedoch oft gegensätzlich. Russische Schriftsteller:innen haben gekonnt und scharfsinnig über ihr Land geschrieben und es kritisiert; kein ukrainischer Schriftsteller hat etwas Vergleichbares geschafft.
Die Abschaffung der Kultur in der Ukraine ging reibungslos vonstatten. Offenbar bedeutete Kultur den meisten Menschen in der Ukraine nicht viel. Wer von 212 Dollar leben muss, kümmert sich eher ums Überleben als um die Probleme, die ein Fjodor Dostojewski oder Leonid Andrejew beschreiben. Ohne Kultur aber gibt es keine Menschenwürde, keine Werte, die zu verteidigen sich lohnt. Ohne Kultur gibt es keine Bedeutungen, die es zu bewahren gilt. Ohne Kultur kann ein Mensch leicht in den Krieg getrieben werden. Dann fällt es leicht, Freund und Feind zu definieren; es fällt leicht, ein Land entlang von Sprachen zu spalten, Konflikte in ihm zu schüren und geschwächte Gruppen zu regieren.
Es widert mich an, dass der Krieg meine Kreativität beeinträchtigt hat. Ich würde jeder erotischen Szene einen höheren Wert beimessen als dem Thema Krieg, denn der Krieg entspringt dem Tod, noch die jämmerlichste erotische Szene dagegen der Liebe. Aber gleichzeitig kann ich nicht auf das Schreiben verzichten. Ich kann es nicht, denn ich will Einspruch erheben, damit nicht immer weitere Verbrechen geschehen, In Europa habe ich als Geflüchteter Schutz vor der russischen Aggression erhalten, aber kaum jemand nimmt zur Kenntnis, dass ich hier auch vor der Ukraine Schutz suche.
Mein ganzes Leben lang bin ich von Anarchist:innen umgeben gewesen: Rockmusik und alternative Literatur gefallen mir, Gegenkultur zieht mich an. Ich verstehe mich nicht als Anarchisten, aber vielen Prinzipien des Anarchismus fühle ich mich verbunden, genauso wie manchen religiösen Prinzipien, ohne dass ich ein religiöser Mensch wäre. Das alles gehört in den Bereich der Kunst, der Literatur. Ich entwerfe in meinen Büchern ein Territorium der Freiheit, und wie man diese Freiheit später nennen wird, ist mir egal.
Aber als jemand, der seit Langem mit Anarchist:innen zu tun hatte, habe ich mich blauäugig verhalten. Ich hatte geflissentlich vergessen, dass der Staat ein Ausbeuter ist, und jeder einzelne Mensch für ihn entbehrlich. Hätte ich das nicht vergessen, wäre ich kaum überrascht gewesen, dass die Ukraine mich von einem Menschen zu einer Mobilisierungsreserve umdefiniert hat.
Zu Beginn des Krieges hatte ich erwartet, dass mein Staat mich beschützen würde, aber er stellte eine Forderung: Gib dich dem Krieg hin, mir zu Ehren. Lass deinen blassen Körper von Kugeln durchsieben. Lerne unsere Parolen und vergiss deine Prinzipien. Während der gesamten Zeit, die ich in der militarisierten Ukraine verbracht habe, gab es für Frauen und Kinder nur einen Feind: die russischen Raketen. Für mich gab es zwei: die russischen Raketen und die ukrainische Polizei, die mich in die Nähe der russischen Raketen bringen wollte. In meinem eigenen Land saß ich, wie viele andere auch, in der Falle. Ich durfte diesen Ort, der für mich ein gefährlicher war, nicht verlassen. Warum die militärische Zwangsmobilisierung nicht genauso als eine schändliche Tatsache der Vergangenheit ist, so wie es für die Verbrennung der Hexerei verdächtiger Frauen auf dem Scheiterhaufen gilt, will mir nicht in den Kopf.
Landesgrenzen, Kultur und Individuum – alles verrottet
„Obdachlos. Eine Granate. Soll ich sie aus Mitleid töten oder sie bemitleiden, um gleichgültig gegenüber ihnen zu bleiben… Wie ich über all das denke, gefällt mir gar nicht. Und ich denke darüber nach aufgrund des Krieges. Wenn ich mir vorstelle, was die Rückkehrer von der Front denken werden, bekomme ich es mit der Angst zu tun.“ – Aus Holes in the Shape of Humans
Im Internet stößt man auf allerhand Diskussionen über die Grenzen und wo sie eigentlich gezogen werden sollten. Sollte die Ostukraine zu Russland und Lwiw zu Polen gehören? Auch Ungarn könnte einige Gebiete für sich beanspruchen, etwa Uschhorod, wo viele ethnische Ungar:innen leben, deren Sprache ebenso ausgelöscht wurde wie die russische. Die Ukraine des Nazismus zu beschuldigen, bedeutet für viele Menschen im Land, sich auf die Seite Russlands zu stellen. Aber kehrt die Ukraine nicht selbst ihre negative Seite hervor, indem sie ethnische Gruppen auf ihrem Staatsgebiet unterdrückt?
Was die Frage der Grenzziehung betrifft, habe ich eine Lösung. Ockhams Rasiermesser, das alles Unnötige abschneidet. Meine Lösung für das Grenzproblem lautet folgendermaßen: Krieg schweißt Menschen zusammen, aber die Akzeptanz der historischen Schande wird eine wirkliche Grenze innerhalb jedes Landes schaffen. In der ukrainischen Rhetorik findet man zum Beispiel den Gedanken der kollektiven Verantwortung: Der durchschnittliche Ukrainer ist der Meinung, jeder Russe sei mitschuldig am Krieg. Aber versuchen wir einmal, das Prinzip der kollektiven Verantwortung auf die Ukraine anzuwenden. Es ist kein Geheimnis, dass das Massaker in Wolhynien2 die Menschen in Polen berührt. Wenn es eine kollektive Verantwortung gibt, dann sollte jeder Ukrainer anerkennen, dass er selbst an diesem Massaker Schuld trägt, so wie jeder Russe am derzeitigen Krieg. Dort, wo diese Schuld nicht anerkannt wird, wird die wirkliche Grenze der Ukraine verlaufen, denn das Massaker in Wolhynien wurde von Ukrainern begangen, die die staatliche Propaganda heute als ein Vorbild für die Bevölkerung im Osten des Landes hinstellt.
Die Frage der Grenzen interessiert mich nicht sonderlich, genauso wenig wie die der Nationalität. Auf dem Grabstein des russischen Dichters Welimir Chlebnikow steht geschrieben: „Vorsitzender der Erde“. Ein spöttischer Titel, aber es steckt mehr Vernunft darin, als es auf den ersten Blick scheint. Im Ausland zu leben, bereitet mir kein Unbehagen, denn der kulturelle Raum ist heute ein gemeinsamer. Ich lese immer noch Dostojewski und Thomas Mann, den Marquis de Sade und Kōbō Abe. Die russische Literatur wird immer noch in den Buchläden Europas verkauft, weil sie einen bedeutenden Beitrag zur Weltkultur geleistet hat.
In den letzten anderthalb Jahren habe ich den Roman The Mining Boys und eine Sammlung von Erzählungen mit dem Titel Holes in the Shape of Humans geschrieben. Beide Bücher handeln von Kampf, Hass, Sex, Freiheit und Unterwerfung. Sie tauchen in das Reich der Verbrechen ein und schildern, wie ein ganzes Land zu dem wird, was es bekämpft.
Offen gestanden bin ich ziemlich pessimistisch, denn was in Russland wie auch in der Ukraine passiert, scheint mir durchweg von propagandistischen Vorwänden getrieben, nicht von einem Bemühen um Frieden und Gerechtigkeit. In Europa wiederum stoße ich immer wieder auf eine zynische Neugierde:
„Warum bist du nicht in den Krieg gezogen?“
„Würdest du es tun?“
Schon die Frage erscheint mir ungeheuerlich, denn im Grunde möchte man von mir wissen, warum ich nicht sterben wollte. Eines Tages beschloss ich, Statistiken zu suchen, um der Dreistigkeit solcher Fragen besser begegnen zu können.
Wie viele Prozent der Soldaten sterben im Kampfeinsatz? Diese Frage stellte ich ChatGPT. Die künstliche Intelligenz antwortete mir: „Es ist unmöglich, einen definitiven Prozentsatz anzugeben, da dieser von zahlreichen Faktoren abhängt.“ Also präzisierte ich, dass es mir um die Todesstatistik für den Krieg zwischen Russland und der Ukraine geht. ChatGPT antwortete: „Zum Zeitpunkt des Endes meiner Daten im Januar 2022 befindet sich die Ukraine nicht im aktiven Krieg, und ich kann keine aktuellen Statistiken liefern.“
Über einen Krieg in der Ukraine war ChatGPT nichts bekannt. Wie hinters Licht geführte Eltern, die keine Ahnung haben, dass ihr Kind gerade die Schule schwänzt, denkt ChatGPT, es sei alles in Ordnung in der Ukraine – keine Angriffe, keine Toten, nichts ist geschehen. Und ich, ich existiere nicht, solange ich nicht das Wort ergreife. Bis meine Geschichte veröffentlicht wird. Und wenn es auf diese Geschichte keine Reaktionen gibt, bedeutet das, dass die Verbrechen zunehmen dürfen. Und sie nehmen zu. Währenddessen steht alle Welt Schlange für den morgendlichen Cafè latte mit Kokosmilch und bekommt von all dem nichts mit.
Der Text wurde von Peter Brandt aus dem Englischen übersetzt und von der Redaktion geringfügig gekürzt. Leider konnten wir darüber weder mit dem Autor noch mit dem Übersetzer Rücksprache halten, da alle Versuche, sie zu kontaktieren, fehlschlugen. Das englische Original findet sich hier. Brandt dem wir hiermit für seine Übersetzung noch einmal danken möchten, stellte ihr folgende Bemerkung voran: „Es ist nun etwa ein dreiviertel Jahr her, dass Ilja mich kontaktiert und um Hilfe bei der deutschsprachigen Veröffentlichung seines Essays gebeten hat. Für mich war von Anfang an klar, dass ich auf diese Bitte eingehen will. Denn Iljas Essay ist nicht nur ein spannend geschriebener, persönlicher Einblick in die Realität des Kriegs in der Ukraine, sondern fügt den hier in Deutschland geführten Debatten um diesen Krieg einen noch immer unterrepräsentierten Aspekt hinzu. Mit großem Bedauern muss ich feststellen, dass sich heute, im Spätsommer 2024, also ein gutes Jahr nach der ursprünglichen Veröffentlichung von Iljas Text, weder die Lage an der Front in der Ukraine noch die Lage im ukrainischen Hinterland, die Ilja so eindrücklich beschreibt, signifikant verändert haben. Noch immer sterben jeden Tag Soldat:innen an der Front, noch immer werden neue Rekruten dazu gezwungen, ihre Reihen aufzufüllen. Ich hoffe, dass dieser Beitrag dabei hilft, die Komplexität der Situation besser zu verstehen. Mein Dank gilt Ilja für seine persönlichen Einblicke und seine Geduld, genauso wie den Genoss:innen von communaut.org dafür, dass sie diesem wichtigen Text eine Plattform bieten.“
- 1. Anm. d. Red.: So weit wir im Bilde sind, ist der Roman The Mining Boys noch nicht veröffentlicht, dasselbe gilt für den Band mit Erzählungen Holes in the Shape Humans.
- 2. Anm. d. Red.: Gemeint sind damit „Massaker an der polnischen Bevölkerungsgruppe in den ehemaligen polnischen Ostgebieten durch die Ukrainische Aufständische Armee (UPA) während des Zweiten Weltkrieges bezeichnet.“ (https://de.wikipedia.org/wiki/Massaker_in_Wolhynien_und_Ostgalizien)