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Heute jährt sich der Brand im Geflüchtetenlager Moria auf Lesbos zum ersten Mal. In der Nacht vom 08.09 auf den 09.09.2020 brannte das Lager vollständig nieder. Aufgrund von COVID Ausbrüchen und einer deshalb verhängten Ausgangssperre war es zuvor bereits zu Unruhen gekommen. Nach dem verheerenden Brand, bei dem ca. 12000 Menschen obdachlos wurden, gab es kurzzeitig große internationale Medienaufmerksamkeit die jedoch bald wieder abnahm. In der Folge wurden zwar einige Menschen aufs Festland gebracht, aber über die Hälfte der ehemaligen Bewohner:innen des Lagers musste in ein neues provisorisches Zeltlager auf einem alten Schießübungsplatz des griechischen Militärs an der Küste von Lesbos umziehen, Kara Tepe II. Was ist seither passiert? Unter Ausschluss der Öffentlichkeit wurden mehrere Jugendliche aus dem Camp als vermeintliche Brandstifter in dubiosen Gerichtsprozessen zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Nach wie vor leben tausende Menschen auf Lesbos unter menschenunwürdigen Bedingungen. Zudem steigen die Coronazahlen und in Kara Tepe II mangelt es weiterhin an grundlegender Infrastruktur, der Boden ist mit Blei belastet und Menschen finden immer wieder scharfe Munition. Im Zentrum der Insel wird indessen ein weiteres Lager gebaut, angeblich eher ein Hochsicherheitsgefängnis als ein Camp für Geflüchtete.
Anfang diesen Jahres sprachen wir mit Paul, einem deutschen Arzt, der im Jahr 2020 zweimal auf Lesbos war, um Geflüchtete medizinisch zu versorgen. Sein erster Aufenthalt fand im Frühjahr 2020 in Moria statt. Paul war Teil einer ärztlichen Gruppe, die zunächst eine Klinik außerhalb Morias betreute. Kurz vor Pauls Aufenthalt wurde diese im Februar von Faschisten angegriffen und zerstört. Daraufhin wurde eine neue Klinik innerhalb des Lagers errichtet, in dem zeitweise 20.000 Menschen lebten, obwohl es lediglich für 2800 Personen ausgelegt war. Bei seinem zweiten Aufenthalt im Winter 2020 war Paul in Kara Tepe II als Teil eines emergency medical teams (EMT). Obwohl seit seiner Tätigkeit dort einige Zeit verstrichen ist, halten wir seine Erfahrungen weiterhin für mitteilenswert und aktuell.
Communaut: Wie müssen wir uns Moria und Kara Tepe II vorstellen?
Paul: Das Lager Moria war in sehr unterschiedliche Bereiche aufgeteilt: Manche Unterkünfte waren von einer niederländischen NGO gestellt worden, die sahen alle professionell aus. Dann gab es selbstgebaute Hütten mit Wellblech, die aus allen möglichen Materialien zusammengeschustert waren. Und dann gab es aber auch Decathlon-Wurfzelte, die in den Außenbereichen des Camps standen. In Kara Tepe II sind es fest installierte Zelte. Es gibt dort Dixi-Toiletten und es sind Feuerwehrschläuche zur Wasserversorgung im Camp verlegt. Es gibt ein Stativ mit ganz vielen Auslässen dran, wo auch die Frauen, also wirklich nur die Frauen, ihre Wäsche waschen. Sie kommen dann in die Klinik und sagen: „Ich kann meine Hände nicht mehr richtig bewegen, wenn ich die Wäsche wasche, weil das Wasser so kalt ist!“ Da hat man auch als Ärzt:in nicht viel guten Rat zur Hand. Unbegreiflich ist auch, warum in Kara Tepe II keine Duschen installiert wurden. Angeblich war das ein Planungsfehler.
Kara Tepe II wird oftmals prekärer als Moria dargestellt. Wie siehst du das?
Aus der Perspektive eines Arztes habe ich Kara Tepe II als organisierter wahrgenommen . Das muss aber nicht für die Bewohner:innen des Camps gelten. Zum einen gibt es die Situation von Menschen, die in Moria in Einzelräumen untergebracht waren. Das heißt in Containern und nicht in Zelten. Das betraf insbesondere vulnerable Menschen wie alleinstehende Mütter und ihre Kinder oder ältere Menschen. Sie haben natürlich mit dem Umzug nach Kara Tepe II automatisch eine eklatante Verschlechterung ihrer Lebensbedingungen erfahren: Sie sind nun in Zelten untergebracht, die über viele Wochen zunächst ohne Böden ausgestattet waren. Das heißt, es wurden erst im Nachhinein die Böden nachgerüstet und die Menschen haben anfangs auf dem Fußboden geschlafen. Zusätzlich war das Fehlen von Duschen in Kara Tepe II ein krasser Einschnitt. Und vor allem die exponierte Lage des Camps direkt am Meer. Ich hatte teilweise Nächte in meinem Hotel, in denen der Wind an der Tür geruckelt und gezerrt hat und ich mir dachte: „Die fliegt gleich ab. Ich bin nicht mal sicher in meinem befestigten Zimmer.“ Gleichzeitig lagen die Menschen in den Zelten, konnten vielleicht eh schon nicht schlafen und dann klappert es und ruckelt es die ganze Zeit an den Zelten. Diese Wetterbedingungen sind heftig. Besonders der Wind, der ein paar hundert Meter landeinwärts auch gar nicht mehr so stark ist. Problematisch ist auch der Matsch. Die Menschen haben sich eine Art Kanalisation gegraben, damit das Wasser abfließen kann. Aber wenn es ein, zwei Tage so richtig regnet, besonders in den Wintermonaten, wird das Leben zusätzlich erschwert und unangenehm. In den letzten zwei Monaten war das nur wenige Male der Fall. Also ich kann schon nachvollziehen, dass Kara Tepe II als eine Verschlechterung wahrgenommen wird. Matsch wird auch in Moria ein Problem gewesen sein, aber da war alles ein bisschen abschüssig, weshalb das Wasser besser ablief. Und jetzt ist auch noch eine Senke in der Mitte des Lagers.
Das erfolgreichste Bauprojekt, das während meiner Zeit dort in oder an dem Camp errichtet wurde, war eine riesengroße Betonmauer. Die Mauer wurde zwischen dem noch verbleibenden griechischen Truppenübungsplatz und dem Camp errichtet, damit die griechischen Soldat:innen dort wieder ungestört üben und Manöver durchführen können. Mein Kopfkino ist da auf jeden Fall angesprungen. Ich habe mir vorgestellt, dass jetzt endlich wieder Schießübungen auf der einen Seite der Mauer stattfinden dürfen, während auf der anderen Seite Menschen untergebracht sind, die vor Krieg und Vernichtung geflohen sind. Keine Ahnung, was die da genau machen. Es war aber verrückt, wie da einfach so eine riesige krasse Betonmauer gebaut wird. Das hat schon für sich genommen irgendwie Symbolwert
In Moria lebten ja bei deinem ersten Aufenthalt viel mehr Menschen als jetzt in Kara Tepe II. Weißt du wo sie jetzt sind und hat sich die Bewohner:innenstruktur verändert?
In Kara Tepe II leben jetzt offiziell keine Menschen mehr über 65 Jahren oder unter 18 Jahren. Wo die 7000 weiteren Menschen hingebracht wurden, die nun nicht mehr in Moria und auch nicht in Kara Tepe II leben, ist schwer zu sagen. Manche wurden vermutlich von westeuropäischen Ländern aufgenommen, aber mit Sicherheit nicht alle. Da gibt es manchmal so Tricks, um die Situation zu entzerren: Es wird den Leuten ein Status zuerkannt und dann dürfen sie sich frei bewegen. Sie verwirken damit aber gleichzeitig auch ihr Anrecht auf finanzielle Unterstützung und -ich glaube- bald auch das Anrecht auf Unterkunft. Das heißt, dass die Menschen dann einfach auf sich gestellt sind. Ich habe ebenso von Leuten gehört, die in der Folge binnen 30 Tagen von der Insel runter mussten. Ich weiß nicht, wie es gerade in Athen aussieht, aber ich habe von mehreren Leuten gehört, die hoffnungsfroh aufgebrochen sind und dann gemerkt haben, dass es in Athen überhaupt keine Strukturen für sie gibt und sie dort auf der Straße sitzen. So kann man natürlich auch die Zahlen beschönigen, ohne aber die tatsächliche Situation der Menschen zu verbessern.
Wie ist denn euer Arbeitsalltag dort gewesen? Wie viele behandelnde Ärzt:innen waren anwesend? Wie war das Arbeiten für dich vor Ort?
Wie viele wir beim ersten Mal waren weiß ich nicht mehr. Die Klinik in Moria war im Prinzip ein kleiner Verhau, zwei Container und eine Art Korridor mit Maschendrahtzäunen, der Boden war Geröll. Unsere Sprechzimmer bestand aus abgeklebten Paletten, auf die man sich setzen konnte und Duschvorhänge als Abtrennung. Da hat man dann eine Patient:in nach der nächsten gesehen, jeweils mit Dolmetscher:in. Das war ein ziemliches Gewusel.
Beim zweiten Mal in Kara Tepe II hatten wir acht Sprechzimmer, die wir gleichzeitig betreuten, so sahen wir am Tag circa 80 bis 90 Patient:innen. Das ist, hochgerechnet auf 7000 bis 8000 Menschen, eigentlich sehr viel. Da hätte man alle paar Wochen die ganze Camp-Bevölkerung gesehen. Dabei muss man sich aber vor Augen führen, dass man mit der Arbeit, die man dort leistet, häufig die Probleme ja gar nicht lösen kann. Das heißt, man hält die Menschen in einem Kreislauf: „Du kriegst jetzt mal eine Woche Schmerzmittel“, und dann sind sie einige Zeit später wieder im Behandlung mit den selben Problemen.
Vor allem Moria war eine krasse Erfahrung für mich. Man scheitert sehr viel. Ganz viele Sachen, die man möchte und machen will und für wichtig hält, sind die meiste Zeit nicht möglich. Das ist manchmal super frustrierend. Es wäre z.B. einfach herauszufinden, ob bei der Patient:in dieses oder jenes Problem vorliegt oder ich müsste nur dieses Medikament haben und dann könnte ich das gut lösen. Das ist aber nicht da und geht dann eben nicht. Und gleichzeitig gibt es diese Unmittelbarkeit der Ärzt:in-Patient:innenbeziehung. Die Menschen kommen zu einem und bitten um Rat und wenn man direkt einen Idee hat, kann man sich auch darum kümmern und weiß, dass das in absehbarer Zeit niemand anderes machen wird. Je nachdem, wie sehr man sich dafür engagiert oder ins Zeug legt, kann man für die Person etwas Gutes erreichen. Das ist in einem durchstrukturierten deutschen Krankenhaussystem, wo du immer so komische Vermittler:innen hast, nicht der Fall. Da stellen sich primär Fragen, wie etwas abgerechnet wird usw.. Die Ärzt:in ist immer ein Segment in einer langen Kette, die quasi fordistisch organisiert ist. In Griechenland ist man die Person, an der alles liegt. An deren Engagement und Einfällen es sich aufhängt, ob ein Ergebnis für die Patien:in erzielt werden kann. Das ist selbstwirksam. Gleichzeitig ist man manchmal allein auf weiter Flur. Ich will das also in keiner Weise romantisieren.
Was auch verrückt war, dass ich dort an vielen Stellen der erfahrenste Arzt war, obwohl ich mich selbst überhaupt nicht so empfinde. Abgesehen davon, dass man Erkrankungen behandeln muss, die mir in meiner beruflichen Laufbahn in Deutschland noch gar nicht über den Weg gelaufen sind, frage ich mich, wo die Generation der älteren Ärzt:innen ist. Es sind ganz viele Mediziner:innen anwesend, die gerade zwei, drei Jahre Berufserfahrung haben oder frisch von der Uni kommen und sich Zeit nehmen, da sie jetzt approbiert sind. Sie haben aber noch nicht Wissen und Erfahrung zu exportieren, was in der Medizin jedoch sehr wichtig ist. Ich sehe mich nicht gänzlich anders. Wir hatten einmal eine 65-jährige Kinderärztin mit im Team, sie dabei zu haben war einfach ein gutes Gefühl. Sie hat sich ein Kind angeguckt und hatte eine Einschätzung dazu: „Ach, mach' dir keine Sorgen, das geht schon von alleine wieder weg.“ Das hat mir sonst sehr gefehlt: Ein Netzwerk von Ärzt:innen, die einen dann auffangen, wenn ich mir mit einer medizinischen Einschätzung unsicher war.
Was für Krankheitsbilder habt ihr denn vor allem behandelt?
Im Prinzip lebt im Camp ja eine super junge, fitte Population. Sie haben schon alle möglichen Widrigkeiten überstanden und Über-65-Jährige sollte es in diesem Camp gar nicht mehr geben. Ein sehr großer Anteil der Beschwerden und Krankheiten, die bei uns vorgetragen wurden, sind schlicht den schlechten Lebensbedingungen geschuldet. Nr. 1 ist wahrscheinlich Krätze. Es kommen unglaublich viele Leute mit Krätze in allen möglichen Erscheinungsformen. Es gibt auch sehr stark ausgeprägten Varianten davon mit Komplikationen, wie zum Beispiel Hautinfektionen, die sich dann noch auf die Krätze setzen. Außerdem kommen viele Leute mit Rückenschmerzen. Die Menschen schlafen häufig auf Paletten mit ein paar Decken. Wenn sie mir erzählten, wie sie schlafen, dachte ich: „Naja, dann hätte ich auch Rückenschmerzen.“ In solchen Situationen fühlt es sich doof an, Paracetamol und Ibuprofen zu verschreiben, weil die Ursache für die Beschwerden ja woanders liegt.
Das größte Versorgungsdefizit betrifft sicher die psychische Gesundheit. Vieles kann man ja wirklich mit Schmerzmitteln behandeln, aber diese Sachen… Da gibt es einfach einen unglaublichen Bedarf. Wenn die Menschen in den Lagern ankommen, sind sie oft schon durch die Flucht und durch die Erlebnisse, die zu der Flucht führten, traumatisiert. Dann kommt noch alles hinzu, was im Camp passiert. Das vermischt und steigert sich. Neben Depressionen und selbstverletzendem Verhalten gibt es auch akut suizidale Menschen, die man einfach nicht angemessen behandeln kann und denen auch im Krankenhaus nicht angemessen geholfen wird. Ein Stück außerhalb des Camps existiert ein Programm zur psychischen Gesundheit, wo Einzel- und Gruppensitzungen stattfinden und auch ein Psychiater behandelt. Aber es gibt einfach so viel mehr Bedarf als Angebot. Es ist schwierig damit umzugehen, da die Wartezeiten teilweise zwei Monate betragen. In Griechenland darf man keine Psychopharmaka verschreiben, da die Regularien diesbezüglich sehr streng sind. Wenn man sich an die Regeln halten würde, könnte man psychisch akut dekompensierten Menschen nicht medikamentös durch akute Krisen helfen und schwere Schmerzen nur mit frei verkäuflichen, unzureichenden Medikamenten behandeln. Zum Glück hatten wir eine eigene kleine Apotheke, die größtenteils aus Spenden bestand, in der manche Medikamente dann eben versteckt in der hinteren Reihe standen.
Dann gibt es natürlich noch die ganz normale Bandbreite von Krankheitsbildern, aber auch Krankheiten, die ich vorher gar nicht kannte, weil sie in anderen Weltregionen auftreten. Da ist man durchaus auch mal mit Tropenkrankheiten konfrontiert. Und auch die Art und Weise, wie Menschen ihre Symptome und Beschwerden schildern, ist manchmal derart, dass ich das mit den mir bekannten Begriffen und den Symptomen nach denen ich frage, gar nicht verstehe. Da ist ganz schön viel Improvisation mit im Spiel
Du warst ja gerade in Moria, als die Covid-Pandemie begann. Wie war der Umgang mit Corona und wie hat das eure Arbeit beeinflusst oder verändert?
Im Frühling gab es noch keine Covid-Fälle, aber es gab auch keine richtigen Testmöglichkeiten, um das tatsächlich festzustellen. Es wurde mit viel Aufwand und zu Lasten der allgemeinen Gesundheitsversorgung eine Triagestation betrieben, um Covid-Fälle anhand der Symptomatik abzusondern. Das war aber bei den häufig asymptomatischen Verläufen und der Überfüllung des Camps eine ziemlich hoffnungslose Strategie.
In der ärztlichen Behandlung hat man die Leute nach Symptomen befragt und irgendwann hatte man dann die Möglichkeit, drei bis vier Menschen am Tag zu testen. Man musste sich das genau überlegen und immer die griechischen Behörden überreden, dass man sie auch wirklich testen muss. Das war also noch sehr in den Kinderschuhen. Gleichzeitig hatten Ärzte ohne Grenzen einen mega aufwändigen Isolationsbereich in einem Industriegebiet in der Nähe des Camps aufgebaut, quasi eine ganze Krankenstation für unzählige Personen, wo schwerere Covid-Fälle Tag und Nacht hätten betreut werden können. Das insgesamt viel zu rare medizinische Fachpersonal saß dort lange herum und hatte nichts zu tun, bis die Station unter dem Vorwand von Verstößen gegen Stadtplanungsrecht durch die griechischen Behörden geschlossen wurde.
Im Rahmen dieser WHO-Mission wurde im Herbst 2020 ein Labor nach Kara Tepe II eingeflogen. Das hatte eine ziemlich tolle PCR-Testungskapazität, und es standen auch ganz viele Schnelltests zur Verfügung, sodass man sehr viel testen konnte.
Das heißt alle Menschen, die an der Tür zu Covid-Symptomen befragt wurden und das bejaht haben, wurden getestet. Kurz bevor ich abgereist bin, gab es über 400 positive Tests. Dabei noch keinen einzigen schweren Verlauf und keinen Todesfall, was einigermaßen erstaunlich ist. Das ist also ganz gut gelaufen. Mitarbeiter:innen von der WHO haben auch eine Art Kontaktverfolgung etabliert. Sie haben mit Freiwilligen aus dem Camp zusammen die Kontakte aufgespürt und sie gebeten, in ihren Zelten in Selbstisolation zu gehen. Dort wurden sie dann auch versorgt. Das hat sehr gut funktioniert. Für nicht betroffene Bewohner:innen des Lagers waren eine Betreuung und ein eigenes Zelt so ansprechend, dass sie das Versorgungsteam angesprochen haben: „Ey, können wir nicht auch in Selbstisolation?“
Auf der anderen Seite war es bescheuert, dass der Isolationsbereich, wo die Covid-Positiven hinkamen, aussah wie das Basecamp vom Mount Everest: eine grobe Geröllhalde, zwei Dixi-Toiletten und Zelte neben völlig zusammengefallenen kaputten Zelten. Es war also extrem unattraktiv, sich testen zu lassen, wenn man Symptome hatte. Man musste dann zwei Wochen mit seiner Familie in diesem Isolationsbereich verbringen und war teilweise medizinisch und logistisch sehr schlecht versorgt.
Einem Übersetzer, der sich da engagierte und versuchte, Material wie Toilettenpapier und Hygieneartikel reinzubringen, wurde mitunter der Zutritt untersagt. Die meisten waren zum Glück nicht so schlimm erkrankt, aber es war einfach der furchtbarste Ort im ganzen Camp.
Kannst du nochmal genauer erklären, wie der Isolationsbereich organisiert war? Sind die Menschen dort freiwillig rein oder wurden sie gezwungen? Wer hat die Versorgung übernommen?
Das war einfach so ein umzäunter Bereich vom Camp hinter der Klinik, in den man nicht einfach reinkonnte. Ich glaube, drüberklettern konnte man schon, manchmal sind wohl Leute auch rausgeklettert und wieder reingeklettert. Aber es war jetzt kein besonders hergerichteter Bereich, eher so ein trostloser Ort mit Zelten. Als es Gerüchte gab, dass dort sehr ruppig mit den Leuten umgegangen wird, bin ich ein paar Mal mit zur Visite in diesen Bereich, um mir das anzuschauen. Das war ein bisschen meet & greet und ich habe die Leute gefragt, ob es ihnen gut geht. Sie meinten ja, aber es ist nachts kalt und niemand hat Symptome. Dafür, dass die Leute das ja auch zum Schutz ihrer Umgebung auf sich nehmen, gab es quasi keinen Ausgleich durch z.B. eine gute Betreuung.
Man konnte da, soweit ich weiß, keine Gewalt anwenden um die Menschen zu zwingen, wenngleich die Polizei damit sonst in aller Regel nicht gespart hat. Ich glaube, die Menschen haben das dann notgedrungen schon gemacht. Ich habe die Situationen, in denen sie aufgefordert wurden, in den Isolationsbereich zu gehen, nicht erlebt. In einem Umfeld, wo man die ganze Zeit in einer Abhängigkeitsposition ist und machen muss, was einem der nächste Schritt im Asylverfahren diktiert, und wo Polizist:innen sind, die einen ruppig behandeln, mitunter auch verprügeln, kann ich mir allerdings gut vorstellen, dass die Leute sich nicht besonders vehement gewehrt haben.
Der Fairness halber muss man aber sagen, dass sich das jetzt ändern soll. Es wurden aus den Niederlanden Hospitainer angefahren, die für alle möglichen verrückten Intensivstationsaktionen geeignet sind, aber ohne Personal. Die könnten dann als Aufenthaltsmöglichkeit für die zu isolierenden Patient:innen auch im Winter genutzt werden. Es ist die Frage, ob das der sinnvollste Einsatz von Ressourcen ist, aber die bauen das jetzt aus. Es ist schon wahrgenommen worden, dass das nicht cool ist
Würdest du sagen, es fehlt generell an Mitteln, um eine bessere medizinische Versorgung in den Lagern zu garantieren?
Ich glaube, diese EMT-Mission ist schon sehr gut ausgestattet in die Lager geschickt worden. Das geht teilweise bis ins Absurde. Das erste Team, das da ankam, war so ein richtig professionelles aus Norwegen. Sie sind mit einer riesigen Militärmaschine angereist und hatten ein ganzes Lagerhaus voll mit Materialien für einen Kriegseinsatz mitgebracht: mit Thoraxdrainagen, um Brustschüsse zu versorgen, mit Tourniquets, um abgesprengte Gliedmaßen zu versorgen, und Arctic-Food-Rationen, als wären Sie in einem Kriegseinsatz unterwegs.
Ausreichend Material war da, aber das ging völlig an den Bedürfnissen vor Ort vorbei. Hätte man mal gefragt: „Was braucht ihr?“, wären ganz andere Sachen dabei rausgekommen. Das Geld wäre in den Lebensbedingungen und der Prävention besser investiert gewesen. Wenn man die 2 Millionen Euro Budget für Wohncontainer oder anständige Duschen ausgegeben hätte, dann bräuchte man ganz viele dieser tausend medizinischen Konsultationen pro Monat gar nicht mehr.
Im Februar 2020 wurde das Krankenhaus von faschistische Gruppierungen angegriffen. Kannst du dazu noch was sagen? Welcher Art von Anfeindungen oder Gewalt sind Geflüchtete oder Unterstützer:innen ausgesetzt?
Das erste Mal als ich in Moria war und rausgegangen bin, wurde ich von einem alten Mann als Mafia beschimpft, er sagte, dass wir daran Schuld seien, dass diese ganzen Menschen hier ankommen. Das blieb dann aber im weiteren Verlauf meines Aufenthalts die einzige derartige Erfahrung, die ich persönlich gemacht habe. Diese ganzen Übergriffe mit deutschen und international zugereisten Faschos fanden eher im Februar 2020 statt. Meine Erfahrung ist hingegen eher die, dass es eine starke Antifa und linke Szene aus Mytilini gibt, die auch Soli-Demos gemacht haben. Der Rassismus, den ich mitbekommen habe, fand eher in den Krankenhäusern statt, wo die Geflüchteten mies behandelt wurden. Ich weiß natürlich nicht, wie die Griech:innen selbst dort behandelt werden, da das griechische Gesundheitssystem seit der „Eurokrise“ radikal kaputt gespart wurde. Was ich dort mitbekommen habe, war teilweise auch aus medizinischer Sicht katastrophal.
Die meisten üblen Situationen gingen allerdings von der Polizei aus. Das ist ganz eigenartig. Die Polizei ist vor allem am Tor des Lagers sehr präsent und ab und zu wird man dann daran erinnert, wer die Hosen anhat, indem zum hundertsten Mal dein Ausweis verlangt wird. Da stand immer ein Mannschaftsbus mit fünf bis sieben Polizist:innen vor der Tür. Dann hatten die noch ein eigenes Zelt am Eingang und gelegentlich sah man auch ein Auto im Lager hin- und herfahren. Häufig gab es die Situation, dass bei uns morgens niemand an der Klinik stand, was ungewöhnlich war. Die Polizei hatte einen Checkpoint vor der Klinik errichtet und wollte die Menschen nicht durchlassen, da sie annahmen, dass diese falsch abbiegen, um aus dem Camp abzuhauen, anstatt in die Klinik zu gehen. Wir haben auch konkrete Polizeigewalt erlebt. Zum Beispiel wurde in einem Zelt jemand von der Polizei verprügelt. Wir standen in der Nähe und wurden dann sehr aggressiv verscheucht. In der Zeit als ich da war ist auch ein Video aufgetaucht, in dem zu sehen war, wie am Straßenrand vor dem Camp zwei Geflüchtete verprügelt werden, also richtig grün und blau geprügelt. Die Polizist:innen stehen da den ganzen Tag herum, trinken Kaffee und sind ruppig zu den Geflüchteten. Das ist deren Job
Aber die konnten jetzt niemanden vom Ein- und Austreten des Lagers abhalten?
Doch, absolut. Während des Lockdowns Anfang Dezember wurde das Camp abgeriegelt. Es wurde damit gerechnet, dass es Tumulte geben würde. Die Menschen wurden ja auch im Frühjahr lange im Lockdown gehalten, obwohl es sich überall schon normalisierte. Die Tumulte blieben aber irgendwie aus. Ich glaube, weil im Dezember eine Person pro Familie einmal in der Woche raus durfte, um einzukaufen. Damit hat man das vielleicht ein bisschen entschärft. Für die Geflüchteten war es zudem vielleicht auch nachvollziehbarer, dass sie im Lockdown sind während auch die restliche Stadt unter derselben Situation zu leiden hat. Im Sommer war das einfach nur Diskriminierung.
Für ausführlichere Informationen zu den Lagerzuständen und der europäischen Grenzpolitik gibt es eine von medico international in Auftrag gegebenen Studie.
Es gibt zwei selbstorganisierte Gruppen, die die Zustände im Lager bekämpfen: die Moria White Helmets und das Moria Corona Awarness Team. Zwei Briefe wurden zu Weihnachten 2020 und im Mai 2021 an die europäische Öffentlichkeit geschrieben.