Proletarisches Bewusstsein contra ethnopopulistisches Ressentiment

04. März 2025

Wir haben ein Flugblatt übersetzt, das für einen Generalstreik am 28. Februar in Griechenland geschrieben wurde. Die friends of the uprooted pavements sprechen sich dafür aus, den Kern der kapitalistischen Gesellschaftsverhältnisse ins Visier zu nehmen. Um die Missstände im Land zu verstehen, wird es nicht helfen dem ethnopopulistischen Lager Glaube zu schenken.

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Da sind wir glücklich bei dem Prinzip der Gerechtigkeit angelangt, bei diesem alten, seit Jahrtausenden von allen Weltverbesserern in Ermangelung sicherer geschichtlicher Beförderungsmittel gerittenen Renner, bei der klapprigen Rosinante, auf der alle Don Quichottes der Geschichte zur großen Weltreform hinausritten, um schließlich nichts andres heimzubringen als ein blaues Auge.“ (Rosa Luxemburg)

Der schreckliche Tod von 57 Menschen bei der Zugkollision in Tempe (Τέμπη) vor zwei Jahren machte auf brutale Weise die tödliche Gewalt deutlich, die das Kapital und sein Staat strukturell gegen Arbeiter:innen ausüben – und gegen diejenigen, die gezwungen sind, abgewertete, deregulierte und heruntergekommene Dienstleistungen zu nutzen.

Um die kapitalistische Krise zu mildern, wurden in den letzten fünfzehn Jahren Arbeitskraft und Leben im Interesse der Rentabilität entwertet, auf Kosten unserer Klasse, mit Tausenden von Opfern und unermesslichem Leid. Wir meinen damit nicht nur die Toten in den Waggons eines Eisenbahnsystems, dessen Infrastruktur kollabiert und das keinerlei Sicherheitsmechanismen kennt. Dieser Kollaps ist uns wohl bekannt und er ist vom gesamten politischen Personal des Kapitals, das in den letzten Jahren regiert hat (ND, SYRIZA, PASOK), aktiv betrieben worden. Wir meinen damit auch die Zehntausenden von Toten in den Krankenhäusern des kaputten und unterbesetzten Gesundheitssystems. Wir vergessen nicht diejenigen, die krepiert sind, weil es während der Pandemie in den regionalen Krankenhäusern an Intensivstationen, Sauerstoff, Ärzt:innen und Pflegekräften mangelte. Wir weigern uns auch, die Tausenden von Arbeiter:innen zu vergessen, die an ihren Arbeitsplätzen, in Fabriken, auf Baustellen, auf der Straße und in Büros aufgrund unmenschlicher und stressiger Arbeitsbedingungen vorzeitig gestorben sind. Und wir weigern uns, die Migrant:innen zu vergessen, die zu Tausenden an den See- und Landgrenzen ermordet wurden.

Die sich auftürmende Welle der Empörung brach sich in den Demonstrationen mit noch nie dagewesener Beteiligung am 26. Januar Bahn – und in der wachsenden Zahl an Aufrufen zum Generalstreik am 28. Februar. Das ist nicht nur ein Protest breiter Bevölkerungsteile gegen das Verbrechen von Staat und Kapital in Tempe, sondern auch Ausdruck der angestauten Wut gegen das absolute Elend, das sich in den letzten Jahren in allen Bereichen der Lohnarbeit, der sozialen Reproduktion und des Lebens in Griechenland breit gemacht hat

In den von Niederlagen und Rückschlägen geprägten letzten fünfzehn Jahren wurden jedoch nicht nur Arbeitskraft entwertet und öffentliche Dienste abgebaut. Auch der Gedanke des Klassenkampfes und der kollektiven Organisation wurde ‚entwertet‘. Grundlegendes Element und Ergebnis der kapitalistischen Gesellschaftskrise, ihrer Bewältigung und des Scheiterns unserer Kämpfe war die Zersplitterung und Desorganisation unserer Klasse, ihrer kollektiven Formen und Ausdrucksweisen. Der Weg zum Klassenbewusstsein ist noch steiniger geworden. Die Unzufriedenheit drückt sich deshalb zunehmend in populistisch verzerrten Formen der Opposition gegen „korrupte Eliten“ aus, die angeblich den Untergang der „Nation und ihrer Kinder“ herbeiführen wollen und denen die „griechische Seele“ als positives Prinzip gegenübergestellt wird.

Dementsprechend wird der Kampf gegen die Regierungspolitik von einem Diskurs gegen Vertuschung und Korruption dominiert, der systematisch von der konservativen ethnopopulistischen Fraktion der herrschenden Klasse (sichtbar in Parteien wie Griechische Lösung, Plefsi Eleftherias usw.) gefördert wird, die versucht, eine führende Rolle bei den Protesten zu übernehmen. Es ist möglich, dass Treibstoff geschmuggelt wurde, der zu der Explosion während der Zugkollision führte. Und es ist möglich, dass dieser Umstand vertuscht wurde. Aber die Wahrheit liegt nicht in der Enthüllung solcher Vertuschungen und Verschwörungen, sondern im Verständnis der Situation. Vorzeitige Todesfälle und die alltägliche Missachtung unseres Lebens werden nicht durch ein Gericht, ein Justizsystem oder mediale Enthüllungen gestoppt werden. Korruption koexistiert mit der kapitalistischen Rechtsstaatlichkeit, die dialektisch als ihr Gegenteil zu definieren ist: als institutionalisierte Legitimität. Die Rechtsstaatlichkeit wird angesichts der „Bedrohung“ durch Korruption als offizielle Ordnung bekräftigt. Aber: Kein Regierungswechsel und kein Gericht wird die Welt verbessern. Wir können uns nicht auf die Gerechtigkeit der Herrschenden verlassen, sondern nur auf die kollektive Macht unserer Klasse. Vertuschung und Korruption in den Mittelpunkt zu stellen, aber zugleich ihre wirtschaftlichen, sozialen und ideologischen Voraussetzungen auszublenden, untergräbt die Entwicklung einer Bewegung, die durch die Organisierung von Arbeiter:innenkämpfen in den Betrieben, im Bildungs-, Verkehrs- und Gesundheitswesen die wirkliche Macht des Kapitals angreift; einer Bewegung, die die Befriedigung unserer Bedürfnisse nach einem befreiten Leben durchsetzen könnte, bis „der Tod keine Macht mehr hat“.

Es ist klar, dass die Sachwalter des Staates ein von Verschwörungsdenken geprägtes, ethnopopulistisches Lager als Gegner bevorzugen. Deshalb stärken sie diese Tendenz auf jede erdenkliche Weise durch mangelnde Transparenz und schlechtes Kommunikationsmanagement. So können sie die ideologische Karte der „Stabilität“ und „Rationalität“ (d.h. der instrumentellen Vernunft des Kapitals gegenüber denjenigen, die es ausbeutet) gegen die „Irrationalität“ und den „politischen Opportunismus“ ihrer Gegner ausspielen, ohne dass irgendetwas ihre (parlamentarische) Herrschaft gefährden würde.

Das wachsende postfaschistische Lager ist im Übrigen auch auf globaler Ebene genau die politische Form, in der die verbreitete Empörung der Massen über die gesellschaftlichen Existenzbedingungen in Populismus, Nationalismus und Rassismus umgewandelt wird, die die vorherrschenden Formen des autoritär-liberalen Kapitalismus nicht im Geringsten in Frage stellen. Stattdessen ergänzt diese „Opposition“ diese Formen, indem sie als Hebel zur Normalisierung von politischen Maßnahmen dient, die einst als extrem und inakzeptabel galten, während sie gleichzeitig einen falschen Gegner kreiert, um die Maßnahmen zu legitimieren.

Genau hier liegt die größte Gefahr: Anstatt die tief im System verankerten Ursachen ins Visier zu nehmen, die das proletarische Leben im Kapitalismus entwerten (von Tempe bis Pylos und von vorzeitigen Todesfällen und schweren Verletzungen bei der Arbeit bis hin zu Preiserhöhungen und niedrigen Löhnen), drohen sich die Mobilisierungen gegen die tödliche Gewalt des Staates in Tempe auf Forderungen nach vermeintlicher „Säuberung“ und Gerechtigkeit zu fokussieren – und dadurch auf die Gerichte eben jenes Systems zu setzen, das die Wurzel all unserer Probleme ist.

Eine solche Entwicklung wird nichts anderes bewirken, als die reaktionären Kräfte zu stärken, die sich derzeit in der ganzen Welt formieren. Diese Kräfte fördern keine (theoretische und praktische) Kritik an der kapitalistischen Realität, sondern stützen sich darauf, einen Haufen an Glaubenssätzen (Klischees und Plattitüden) zu verbreiten, die nicht zu einem besseren Verständnis der Situation beitragen, sondern etwas beschwören, das wir (angeblich) „schon wissen“. Der Versuch, eine Masse von konkurrierenden Individuen um eine gemeinsame (nationale) Identität und gemeinsame Feinde zu vereinen, führt dazu, dass die Realität von Herrschaft und Ausbeutung, die diesen Erzählungen zugrunde liegt, verschleiert wird. Diese Identitäts- und Denunziationspolitik kann niemals einen proletarischen, antikapitalistischen Charakter haben. Anstatt das Proletariat als revolutionäre Klasse zu konstituieren, findet eine Massenformierung statt, die sich im nächsten Moment mehr oder weniger gewaltsam gegen die Schwächsten wendet - wie es in Bolsonaros Brasilien oder Mileis Argentinien geschehen ist.

Diese Tendenz zeigt sich bereits in den Aufrufen in den so genannten „sozialen Medien“, die zum einen den rechtsextremen Diskurs gegen „politische Parteien“ aufgreifen, indem sie an eine unteilbare „nationale Einheit“ appellieren, und zum anderen Verschwörungstheorien über angebliche „Provokateure“ verbreiten: Wer sich für die Konfrontation mit den Sicherheitskräften entscheidet, wird präventiv als „Undercover-Cop“ und Agent der Regierung denunziert.

In der gegebenen Konstellation setzt die Entstehung einer proletarischen Bewegung voraus, dass wir uns kritisch gegen das ethnopopulistische Lager, das sich zu bilden scheint, und seinen moralistisch-denunziatorisches Denken stellen. Stattdessen müssen wir in diesem wie auch in anderen Kämpfen, die dort entstehen, wo sich die Arbeiter:innenklasse reproduziert – auf den Straßen der Metropolen, an den Arbeitsplätzen, im Gesundheits- und Transportwesen – jene Tendenzen erkennen und stärken, die den Kern der kapitalistischen Gesellschaftsverhältnisse ins Visier nehmen.