Leserbrief: Pohrt richtig verstehen

19. November 2025
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Im Herbst 2024 veröffentlichten wir einen kurzen Text von Wolfgang Pohrt zum Nahostkonflikt und eine direkte Kritik daran von Thomas Ernest. Nun meldet sich ein Leser zu Wort.

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Ihr habt noch nicht richtig verstanden, worum es geht bei Pohrt. Er meint damit, dass sich eine linke Position nicht auf eine oder gegen eine jeweilige nationale Konstitution (Konstruktion) zu beziehen hat, weder rechtfertigend noch anklagend.

Die gegebenen nationalen und territorialen Bedingungen sind Ausgangspunkt für eine andere Politik, die über den Nationalismus hinausgehen muss.

Konkret bedeutet dies im Nahostkonflikt, sich gar nicht auf die Polarität entweder pro Israel oder pro Palästinenser einzulassen. Thomas Ernest übernimmt aber einseitig das palästinensische Narrativ als passives Opfer eines aggressiven Aktes. Und das stimmt überhaupt nicht. Das ist eine völkische Konstruktion. Die palästinensischen Führer lehnten damals den Teilungsplan für das britische Mandat ab und beanspruchen bis heute das gesamte Territorium des britischen Mandats ausschließlich für die eigene Volksgruppe. Denen ging es nicht um die arabische Zivilbevölkerung dort. Sondern um eine eigene maximale nationalistische Forderung.

Für eine linke Position wäre es deswegen wichtig, sich wirklich die historischen Ereignisse und Strukturen anzuschauen, auf deren Grundlage sich der Konflikt zwischen Palästinensern und Israelis bildete. Dann ist nicht zu unterschlagen, dass das islamistische Projekt, von dem die Hamas ein Teil ist, selbst ein imperialistisches Projekt ist. Und es hat strukturelle Ähnlichkeit mit dem Nationalsozialismus. Der war ja auch eine Form von reaktionärem, selbst imperialistischem Antikapitalismus. Das muss man studieren und verstehen. Dazu muss man sich den Aufbau und die Funktionsweise, die Kommunikation der islamistischen Netzwerke anschauen. Der islamistischen Bewegung insgesamt dient der Palästina-Konflikt nur als Vehikel eines größeren Projektes. Die ansässige arabische Bevölkerung in Palästina wird für dieses Projekt instrumentalisiert, und zwar schon seit den 40er Jahren durch den Mufti von Jerusalem, die Muslimbrüderschaft und so weiter.

Aus der Perspektive der Juden ging der antijüdische Krieg sofort nach 1945 weiter. Man muss sich mal die Dimensionen wirklich richtig anschauen: Da wurden 6 Millionen Juden in Europa ermordet gerade, weil nationalistischer Furor Juden aussonderte, und 700.000 Juden in Palästina erkämpften sich einen kleinen Staat zum Schutze vor wirklicher Bedrohung. Das Gebiet ihres Staates ist ein kleiner Teil des gesamten Palästinas. Denn zu Palästina gehörte auch Jordanien. Und dieses kleine Gebiet, so groß wie Hessen, wurde sofort angegriffen von den arabischen Nachbarn. Die antiisraelischen arabischen Freischärler gingen selbst aggressiv gegen friedliebende kooperative arabische Bewohner in der Region vor. Bis heute werden moderate arabische Menschen, die sich ein Leben neben den Juden vorstellen können, von den palästinensischen Extremisten mit dem Leben bedroht oder gar getötet. Gleichzeitig mit dem Angriff auf Israel wurden damals von Marokko bis in den Irak 900.000 Juden vertrieben. Nur so viel zur Nakba.

Diese Gewalt fand in der Folge der nationalistischen Kriege in Europa statt. Zur Verewigung des Nahostkonfliktes führte die Nichtanerkennung des israelischen Staates durch die palästinensische politische Führung bis heute.

Noch schwieriger gestaltet sich die Sache, weil sich tatsächlich eine Form von reaktionärem anti-westlichen, antikolonialistischem Imperialismus bildete in der Levante und auf der arabischen Halbinsel, zu dessen Entstehung der Westen, die USA, aber auch Deutschland und Europa, beigetragen haben: weil die soziale Integration oder soziale Revolutionen mehr gefürchtet wurden, haben sie die Islamisten stark gemacht. Ich denke an die Förderung von Islamisten während des Kalten Krieges. Aber auch an den Umgang mit den palästinensischen Flüchtlingen.

Dann ist noch zu bedenken, dass der sowjetische Antizionismus dazu geführt hat, dass Israel sich mehr an den Westen, an die USA anlehnte. Das war am Anfang noch nicht so der Fall. Die Sowjetunion war zuerst die erste Förderin Israels.

Ich will jetzt nicht weiter belehren. Aber konkret bedeutet das für den Konflikt jetzt: wirkliche konkrete Vorschläge zu machen, wie dieser Krieg deeskaliert werden kann: das Pogrom im Oktober 23 durch die Hamas zeigte, dass es dieser um die Auslöschung Israels geht, nicht um irgendetwas Sozialistisches. Also da gibt es überhaupt keine Solidarität mit denen. Das muss ganz klar benannt werden. Es muss ganz klar gesagt werden, dass die palästinensische Zivilbevölkerung im Gazastreifen unter der Herrschaft der Hamas unterdrückt ist und sogar mit dem Leben bedroht. Der Hamas geht es nicht um das Überleben der Palästinenser, sondern um die Vernichtung Israels. Dafür nimmt sie auch die Todesopfer unter der palästinensischen Zivilbevölkerung in Kauf. Deshalb müssen wir Linken sagen, fordern, dass die Zivilbevölkerung aus dem Kampfgebiet im Gazastreifen evakuiert wird. Und wenn es europäische Verantwortung gibt, dann ist es diese: wir waren verantwortlich für die Vertreibung der Juden und letztendlich die Gründung des Staates Israels. Deswegen sind wir für diesen gewalttätigen Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern verantwortlich. Deswegen haben wir die Pflicht, die Zivilbevölkerung aus dem Gazastreifen aufzunehmen. Auch wenn sie fanatisiert und traumatisiert ist, wir müssen das bewältigen, jetzt sofort, als Notmaßnahme. Das nicht zu tun wäre unterlassene Hilfeleistung. Das müssen wir auch gegen alle Rechten und Abschottungsnationalisten durchsetzen.

Langfristig muss es eine Lösung geben für das Leben der Palästinenser, auch in der Region des Nahen Ostens. Wir müssen die Sicherheit der Palästinenser und der Israelis garantieren. Aber man sollte die Bevölkerungsdichte bedenken: durch diese ganze falsche Flüchtlingspolitik ist die Bevölkerungsdichte im Gebiet Israel - Gazastreifen - Westjordanland exorbitant erhöht gegenüber der Umgebung: 5800 pro Quadratkilometer im Gazastreifen. Über 500 im Westjordanland. Über 500 im Libanon. 450 in Israel, wenn man die Wüste Negev abzieht, sogar 800 pro Quadratkilometer. Europa hat eine Bevölkerungsdichte von 108 pro Quadratkilometer, selbst Deutschland nur 236 pro Quadratkilometer. Die Bevölkerungsdichte in Jordanien ist 120 pro Quadratkilometer. Also man muss dann schon eine Entflechtung hinkriegen. Dass der Kampf so erbittert geführt wird auf dem Gebiete Gazastreifen-Israel, hat auch damit etwas zu tun, dass die Weltgesellschaft die palästinensischen Flüchtlinge über Jahrzehnte in ihrem Status gehalten hat. Somit sind wir auch Teil dieses Sterbens, und wenn es ein Genozid ist, dann ist es einer mit der Beteiligung ganz vieler Akteure, nicht nur Israels, sondern auch der Hamas, die die Bevölkerung benutzt, und der westlichen Akteure, die keine Flüchtlinge aufnimmt, sondern jetzt sogar die eine Seite befeuert gegen die andere, natürlich auch der arabischen Staaten und eben der Islamisten. Irgendwann müsste man eine föderale Struktur hinkriegen, die die nationalterritorialen Gebilde überwindet.