Nationaler Befreiungskampf und antinationale Dichterei
Über kaum ein Thema liegen sich die Linken in Deutschland schon so lange und so erbittert in den Haaren wie über den Nahostkonflikt. Zunächst eher prozionistisch gepolt – Israel war nicht nur der Staat der Überlebenden, sondern schien mit den Kibbuzim zumindest aus der Ferne, auch noch sozialistische Anwandlungen zu haben –, gingen die meisten nach dem Sechs-Tage-Krieg 1967 zu einem Antizionismus über, der teils nur zu berechtigt war, teils jedoch auch antisemitische Züge trug.
In den späten 1970er Jahren begann nun eine kleine Minderheit, den blinden Antiimperialismus zu kritisieren, der sich oft in einer Dämonisierung Israels als »Feind der Völker« und einer Romantisierung des »palästinensischen Befreiungskampfes« äußerte; ab den 1990er-Jahren, besonders mit der im Jahr 2000 einsetzenden Zweiten Intifada, wurde diese Kritik an bestimmten Verirrungen des Antiimperialismus durch die Antideutschen in eine bedingungslose Unterstützung Israels verwandelt. »Jede Kritik am Staat Israel ist antisemitisch«, verkündete einer ihrer Vordenker damals und markierte damit fraglos einen Tiefpunkt der Debatte.1
Einige Mitglieder unserer Redaktion meinen, man müsse sich, angesichts der eskalierenden Gewalt in Nahost, wieder stärker auf diese Minderheit und ihre Theoretiker berufen, da Antiimperialismus und Antikolonialismus auch heute wieder Gefahr laufen, sich im Kampf für die eigene Nation zu erschöpfen und in ein reaktionäres Freund-Feind-Schema zu verfallen. Andere Teile der Redaktion sehen dies nicht so. Der Antinationalismus, wie er von großen Teilen der deutschen Linken hinsichtlich der Katastrophe in Nahost gepflegt wird, sei, in seiner Abstraktheit, lediglich die Camouflage eigener Ratlosigkeit, die davor zurückschreckt, sich mit den Verhältnissen, auch in Deutschland, konkret zu befassen und eine Position zu beziehen.
Diese Debatte führten wir u. a. ausgehend von einem kurzen Text Wolfgang Pohrts, einem Teil dieser Minderheit, der verfasst wurde, während Israel den Libanon zum ersten Mal angriff und dessen Intervention einigen aus der Redaktion auch heute noch weitestgehend gültig erscheint. Für andere erscheint in dem Text hingegen nichts als der Archetyp linksradikaler Feigheit und die Vorarbeit für die antideutsche Konterrevolution, die bald folgen sollte. Da unsere Debatte zahlreiche Positionen verhandelt, die sich auch außerhalb unserer Redaktion heute wieder gegenüberstehen, wollen wir hier zuerst den Text Wolfgang Pohrts abbilden und darauffolgend die Replik eines Redaktionsmitglieds. Über daran anknüpfende Debattenbeiträge würden wir uns selbstverständlich sehr freuen.
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Linksradikalismus und nationaler Befreiungskampf
Wolfgang Pohrt
Der gegen Israel oder den Zionismus üblicherweise erhobene Vorwurf ist der, daß dieser Staat dort gegründet wurde, wo vorher andere Menschen lebten. Die Gründungsakte aller bisherigen Gemeinwesen aber waren keine der Gerechtigkeit, sondern stets solche der Gewalt. Sogar der Bilderbuchfrieden idyllischer Stämme und Völker, die einträchtig und in Harmonie mit den Nachbarn das Land der Väter nach alter Sitte bestellen, ist in der Regel ein Frieden, der auf dem ursprünglichen Gewaltakt der Landnahme und Vertreibung anderer beruht. Das von Nationen, Völkern, Stämmen untrennbare, weil logisch zwingend zu ihrem Begriff gehörende Recht, zwischen sich selbst und dem Fremden zu unterscheiden, und den Fremden als fremden Eindringling zu betrachten und zu verjagen, wenn er sich niederlassen will – dies Recht ist nur der legalisierte und kontinuierlich gewordene ursprüngliche Gewaltakt der Landnahme und Vertreibung.
Kein Volk erhielt seinen Platz auf der Erde zugesprochen nach Maßgabe rechtmäßiger Besitzansprüche von einer überirdischen Instanz, sondern jedes Volk hat sich irgendwann in der Geschichte seinen Platz mit Gewalt genommen; nicht nur aus praktischen Gründen – weil es eine überirdische gerechte Verteilungsinstanz nicht gibt –, sondern viel mehr noch deshalb, weil es im emphatischen Sinn kein Exklusivrecht für Deutsche, Franzosen, Israelis geben kann, irgendein Fleckchen Erde ausschließlich zu besitzen, und weil es ein Unrecht ist, wenn auf irgendeinem Fleckchen Erde Menschen nicht leben dürfen, nur deshalb, weil sie Türken, Vietnamesen, Juden oder Palästinenser sind. Das Recht auf nationale Autonomie und staatliche Souveränität ist nur ein anderer Name für das Unrecht, Leute zu schikanieren, auszuweisen, abzuschieben mit der Begründung, daß sie den falschen Paß oder die falsche Geburtsurkunde besäßen, und dieses Unrecht ist keine Verfälschung der Nationalstaatsidee, sondern ihr – bisweilen durch die Toleranz einsichtiger Menschen freilich gemildertes – Wesen.
Der Rechtsanspruch von Menschen, Völkern, Nationen auf ein Stück Erde ist nur ein anderer Name für den Anspruch, andere von diesem Stück Erde zu vertreiben. In jeder feierlichen Proklamation des Existenzrechts eines Volkes steckt die Drohung, das Existenzrecht diesem oder einem anderen Volk zu entziehen. In Wahrheit aber besitzt der Mensch ein Existenzrecht so wenig, wie er auch kein Recht, sich dort aufzuhalten, wo er gerade ist, oder kein Recht zu atmen, besitzt – ganz einfach deshalb, weil weder die bloße Existenz, noch das mit dieser Existenz verbundene Dasein auf einem Stück Erde, noch das Atmen Dinge sind, welche unter die Rechtsverhältnisse fallen. Kein Mensch hat ein Recht darauf, an einem bestimmten Ort zu leben, weil dieses bloße Dasein an irgendeinem Ort kein Unrecht sein kann und deshalb keiner Rechtfertigung bedarf. Nicht weil sie sich durch fleißige Arbeit ein Anwesenheitsrecht erworben haben, sondern weil sie da sind, müssen alle Türken in Deutschland bleiben dürfen. Nicht weil die Palästinenser ein Recht auf Palästina besaßen, sondern weil sie dort waren, war es ein Unrecht, daß sie von Israel vertrieben wurden.
Das Schachspielen mit den Gebietsansprüchen von Bevölkerungsgruppen haben die Linksradikalen deshalb früher den Machthabern überlassen, denn nicht die Bevölkerung stand für die Linksradikalen zur Disposition, sondern das Produktionsverhältnis, die Machtverhältnisse, die Regierung. Ein Krieg zwischen zwei Bevölkerungsgruppen, deren beider Ziel es ist, die jeweils andere von einem Stück Land zu vertreiben, hätte eben deshalb die Linksradikalen theoretisch bestätigt und praktisch ratlos gemacht. Ein solcher Krieg, wie er zwischen Israel in der Rolle des vertriebenen Vertreibers und den Palästinensern in der Rolle der Vertriebenen seit Jahrzehnten geführt wird, hätte die Linksradikalen in ihrer Erkenntnis bestätigt, daß es für soziale Probleme keine nationale Lösung gibt, jedenfalls keine andere als endloses Blutvergießen. Dieser Krieg hätte die Linksradikalen gleichzeitig ratlos gemacht, denn er bietet keine Möglichkeit, Partei zu ergreifen, weil
1. beide Parteien dasselbe wollen: den exklusiven Besitzanspruch auf ein und dasselbe Fleckchen Erde; die eigene Flagge, die eigene Armee, den eigenen Staat.
2. die Entwicklung Israels nur noch einmal zeigt, daß jeder Nationalstaat, auch dann, wenn humanitär gesonnene Leute ihn aus lautersten Motiven und mit den besten Absichten gründen, dazu neigt, ein gefräßiges Ungeheuer zu werden.
3. die schlimme Vergangenheit und Gegenwart Israels als Zukunftsprognose für einen Palästinenserstaat und als Warnung vor ihm begriffen werden muß, denn dieser Staat könnte sich von Israel nur dadurch unterscheiden, daß seine Bewohner nicht Israelis, sondern Palästinenser heißen. Im Libanon wurden die israelischen Truppen als Befreier gefeiert und waren die Palästinenser verhaßt; kaum deshalb, weil sich die Palästinenser im Libanon wie freundliche, verständige und bescheidene Gäste benahmen, wenn sie selbst die Mehrheit hatten und die PLO die Macht; kaum deshalb, weil Palästinenser unsympathische Leute sind, sondern deshalb, weil Menschen dann, wenn sie als Volk auftreten, im Umgang mit Minderheiten niemals besonders zartfühlend und zimperlich sind.
4. also der nationale Befreiungskampf der PLO kein Kampf für die Abschaffung aller Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnisse ist, sondern ein Kampf für den Erwerb der Voraussetzungen, unter denen sich mit Sicherheit alle Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnisse wiederholen.
5. schließlich Linksradikale weder den Vorteil noch den feinen Unterschied sehen können, der angeblich darin besteht, wenn Menschen nicht von fremden Truppen massakriert werden, wie jetzt im Libanon, sondern von den Truppen des eigenen Landes, wie in Hama, oder doch von den Truppen wenigstens verwandter Völker, wie jetzt im Krieg zwischen Iran und Irak; weil Linksradikale nicht mit jenen Unterdrückern nicht nur nationaler Minderheiten, sondern auch der großen Mehrheit der Bevölkerung paktieren können, die sämtliche arabischen Regimes heute sind.
Wenn trotzdem heute militante Linke im idiotischen Konflikt zweier völkischer Nationalismen keinen Grund zur Ratlosigkeit sehen, fast zur Resignation, sondern eine willkommene Gelegenheit, mitzumischen, blindlings und fanatisch Partei zu ergreifen und sich mit aller Einbildungskraft ins Schlachtgetümmel des »nationalen Befreiungskampfes« zu stürzen, dann hat das nichts mit Linksradikalismus zu tun, sondern mit den bösen verschwiegenen Sehnsüchten, die im Herzen dieses Volkes schlummern. Den Nutzen davon werden nicht die Palästinenser und den Schaden davon wird nicht Israel haben, sondern die Leidtragenden werden die Ausländer in der Bundesrepublik sein – dann, wenn die Deutschen den nationalen Befreiungskampf nicht mehr stellvertretend für andere Völker, sondern bei sich selber führen, dann, wenn das Bündnis zwischen Militanz und Mob eine realistische politische Basis bekommt.
Der Dichter in Gaza
Thomas Ernest
Vor dem Hintergrund eskalierender rechter Gewalt nach der sogenannten Wiedervereinigung debattierte die radikale deutsche Linke im Jahr 1993 auf dem Konkret-Kongress in Hamburg die Bedingungen und Möglichkeiten linker Politik und Gesellschaftskritik. Zentrale Figuren der in die Irrelevanz und Orientierungslosigkeit abdriftenden Linken wie Robert Kurz, Sarah Wagenknecht, Hermann Gremliza oder Christoph Türke stritten über die Bestimmung der veränderten Wirklichkeit sowie über mögliche politische Reaktionen auf die Zeit nach dem Ende des Realsozialismus, aus dessen Trümmern die deutsche Vergangenheit emporzusteigen schien. Für Wolfgang Pohrt, der dort ebenfalls auf einem Podium saß, erklärten sich die Morde von Mölln und Solingen oder die Ausschreitungen von Rostock Lichtenhagen und Hoyerswerda durch eine bestimmte »Abrichtung und Konditionierung« der Deutschen, einen »schweren Webfehler«, da junge Männer im Naturzustand besoffener Enthemmung normalerweise nur zu spontaner Gewalt gegen Frauen und männliche Rivalen tendieren, aber eigentlich nicht zur planmäßigen Mordaktion gegen Ausländer übergehen sollten. Auf Pohrts Versuch, die massenhafte chauvinistische Gewalt enthemmter Jugendlicher als deutsche Naturabweichung zu bestimmen, antwortete Karl Held von der Zeitschrift GegenStandpunkt mit einer Kritik, die in die Annalen der radikalen Linken Deutschlands eingehen sollte. Wer von Webfehlern und Konditionierung spreche, der verwende Begriffe, die »eines Kommunisten unwürdig sind«. Statt Gedichte zu schreiben, müsse nach »Welthandel, D-Mark und so Zeugs« gefragt werden. Stattdessen genüge sich der Dichter Pohrt jedoch damit, »mit seinen Geistesblitzen über die blutigsten Angelegenheiten herzufallen« und auf die »bösen Deutschen zu zeigen« und damit ausschließlich um sich selbst zu kreisen, obwohl etwas Bitterernstes vor sich gehe. Der herrschende Rassismus lasse sich nämlich nicht auf Adolf Hitler und »die Deutschen« zurückführen, sondern sei Produkt der Demokratie, so Held.
Die Positionen Pohrts und sein dichterischer Habitus sind archetypisch für große Teile der antinationalen sowie antideutschen Linken, die sich vor der wissenschaftlichen und historischen Wahrheit einst in eine sprachliche und pseudo-philosophische Scheinwelt flüchteten, die zahllose deutsche Linke bis heute gefangen hält. Der Dichter Pohrt hat mit seinem Beispiel viele noch miserablere Dichter zu ihrem Tun animiert, Generationen von antideutschen Schwachsinnsproduzentinnen produziert, die sich als junge Dichter in der Jungle World dem Axel-Springer-Konzern als geschickte Verblöder anboten und heute am neuen Mythos des deutschen Imperialismus stricken.2 Ein besonders prägnantes Beispiel dieser Dichterei ist der Text Pohrts zur Kritik der nationalen Befreiung. Er sei deshalb im Folgenden ausführlicher besprochen.
Der Dichter Pohrt schreibt zu Beginn des Textes folgendes:
»Der gegen Israel oder den Zionismus üblicherweise erhobene Vorwurf ist der, daß dieser Staat dort gegründet wurde, wo vorher andere Menschen lebten. Die Gründungsakte aller bisherigen Gemeinwesen aber waren keine der Gerechtigkeit, sondern stets solche der Gewalt.«
Die wohlklingende Sprache blendet die Leserin geschickt und schafft falsches Vertrauen in den Autoren, der jedoch alle historischen Differenzen sowie das Wesen des Zionismus verschleiert. Denn selbstverständlich gibt es qualitativ massive Unterschiede zwischen den Gründungsakten von Gemeinwesen, ihrer Gewalt und ihrer Gerechtigkeit. Ein Gemeinwesen kann sich gegen eine herrschende Klasse oder Aristokratie richten, die auf Kosten der Mehrheit lebt, der guillotinierte Kopf von Louis XVI im Jahr 1793, der Tod der russischen Zarenfamilie 1918 oder die Brutalität gegen den spanischen Katholizismus 1936 waren Akte der Gewalt und der Gerechtigkeit. Gleiches gilt für die Gründungsgewalt des haitianischen Gemeinwesens: erst die Gewalt der Revolte rang der französischen Nationalversammlung die gleichen Rechte für die Bewohnerinnen der französischen Kolonien ab, trieb weiter bis zur Unabhängigkeit Saint Domingues und befreite fast eine halbe Million Menschen aus der Sklaverei. Die Gründungsgewalt des deutschen Gemeinwesens hingegen war die Shoah und die Vernichtung der revolutionären Arbeiterbewegung, sie schuf die deutsche Friedhofsruhe der Nachkriegszeit und des Wirtschaftswunders, die toten Kommunist:innen waren und sind die Voraussetzung für die viel gelobte bundesrepublikanische Demokratie, auf die man bis heute so stolz ist. Das zionistische Gemeinwesen war u. a. die Folge dieser deutschen Gründungsgewalt, es wird dadurch jedoch nicht gerechter, schließlich richtet es sich nicht gegen die Deutschen, sondern die Palästinenser. Das israelische Gemeinwesen gründete sich, dem US-amerikanischen verwandt, nicht nur einfach dort, wo vorher andere Menschen lebten, um sich mit diesen zu vermischen und eine neue offene Gemeinschaft zu schaffen, es ist ein Projekt systematischer Verdrängung: Der Zionismus kaufte den arabischen Landbesitzern ihr Land ab, um die arabischen Bauern daraufhin durch jüdische zu ersetzen, er schuf rein jüdische Gewerkschaften und Industrien, um das arabische Proletariat systematisch auszuschließen und zu verdrängen, er massakrierte und zerstörte arabische Dörfer, um auf ihnen jüdische Wohnstätten zu errichten. Der Siedlerkolonialismus als Gemeinwesen will seine Polis dort errichten, wo andere leben, will die Autochthonen aber nicht als Teil dieser akzeptieren. Wer das nicht sieht, sondern sich mit den lapidaren und schlechten Verallgemeinerungen eines Pohrt zufriedengibt, der muss notwendigerweise auf die Idee kommen, dass der Widerstand gegen das zionistische Gemeinwesen, das doch nur ein handelsübliches gewaltausübendes Gemeinwesen sei, nichts als Antisemitismus sein kann. Solch wohlklingende Phrasen führten zudem dazu, dass sich zahlreiche denkfaule, überhebliche und grausame junge Männer in Deutschland zurücklehnen und sagen konnten: »Ja und? Israel übt doch nur Gewalt aus, wie jeder Staat. Die Vertriebenen sollen sich mal nicht so anstellen, das ist alles ganz normal.« Das israelische Gründungsverbrechen, von seinen Opfern Nakba genannt, dauert zudem noch an, ist noch nicht abgeschlossen, während die Gründungsopfer der meisten anderen Staaten schon längst unter der Erde liegen. Die genozidale Gewalt in Gaza ist seine gegenwärtige Erscheinungsform. Sollte man da nicht, als Mensch sowie als Linker, statt sich feige hinter miserablen Verallgemeinerungen zu verstecken, die die Wirklichkeit verdrängen und die Geschichte leugnen, die Gründungsverbrecher und ihre deutschen Komplizen kritisieren und sich mit den aus dem Gemeinwesen gewaltsam Exkludierten solidarisieren? Linker Israelsolidarität bleiben hingegen zwei Möglichkeiten: will sie links bleiben, müssen Kolonialismus und Nakba geleugnet werden, will sie die Geschichte jedoch nicht länger verdrängen, hört sie auf links zu sein.
Doch der Dichter dichtet lieber weiter:
»Das von Nationen, Völkern, Stämmen untrennbare, weil logisch zwingend zu ihrem Begriff gehörende Recht, zwischen sich selbst und dem Fremden zu unterscheiden, und den Fremden als fremden Eindringling zu betrachten und zu verjagen, wenn er sich niederlassen will – dies Recht ist nur der legalisierte und kontinuierlich gewordene ursprüngliche Gewaltakt der Landnahme und Vertreibung.«
Hier lässt Pohrt geschickt die Syntaxgardinen runter, damit die verlorene Leserin nicht in sein unaufgeräumtes Dichterhaus eindringen und die geistige und historische Unordnung erblicken kann. Stattdessen verheddert man sich im dichterischen Sprachnetz und ist dem Pohrt in die Falle gegangen, der die Gefangenen nun mit hochtrabenden Begriffen bespucken kann. Eine beliebte Methode aus dem antideutschen Jargonhandbuch. »Logisch zwingend zu ihrem Begriff gehörende Recht …« Nein, Herr Dichter! Nationen und Stämme verbindet logisch nichts. Das ist ein Argument der Faschisten, die aus der modernen Nation einen Stamm basteln, um ihrer spezifisch modernen Gewalt die Weihe der Tradition geben zu können. So gab es zudem zahllose offene Stammesgesellschaften, die keine Grenzzäune, Pässe und Zollkontrollen kannten. Die Geschichte und Entwicklung der Sprache legen von dieser Offenheit Zeugnis ab. Und auch moderne Nationen haben völlig verschiedene Staatsbürgerschaftsrechte und Exklusionsweisen, die auf die bestimmte Form und Geschichte der jeweiligen Staatsnation zurückzuführen sind. Statt sich vor den Differenzen bzw. Tatsachen zu drücken, hätte der Dichter sich hier lieber z. B. mit der spezifischen Ideologie und Landnahme des Zionismus beschäftigen können, die historisch einmalig ist, und die zudem von den beiden imperialistischen Weltreichen des 20. Jahrhunderts mit allen Gewaltmitteln, die man sich wünschen kann, ausgestattet wurde, um ihre Gründungsgewalt zu begehen. Das hat bei Licht betrachtet recht wenig mit einem unfreundlichen archaischen Stamm zu tun. Interessanterweise behaupten jedoch genau dies die israelischen Machthaber: »Gedenke, was Amalek dir angetan hat«, so zitierte Benjamin Netanjahu im Oktober 2023 aus der hebräischen Bibel, um Soldaten, die in den Krieg gegen Gaza zogen, archaische Wut und Rachelust einzuimpfen. Die Amalekiter gelten im Alten Testament als räuberisches Nomadenvolk und Erbfeind der Israeliten. Ihre historische Existenz ist selbstverständlich höchst umstritten. Gott befahl Saul und den Israeliten: »So zieh nun hin und schlag Amalek. Und vollstreckt den Bann an allem, was es hat; verschone sie nicht, sondern töte Mann und Frau, Kinder und Säuglinge, Rinder und Schafe, Kamele und Esel.« Dieser biblische Völkermord ist in Gaza mittlerweile schauerliche Realität geworden.
Nachdem die Geschichte als eine Geschichte von Stammeskämpfen bestimmt wurde, wird an die Unterdrückten nun die Empfehlung ausgesprochen, es mit der nationalen Autonomie und staatlichen Souveränität gar nicht erst zu versuchen:
»Das Recht auf nationale Autonomie und staatliche Souveränität ist nur ein anderer Name für das Unrecht, Leute zu schikanieren, auszuweisen, abzuschieben mit der Begründung, daß sie den falschen Paß oder die falsche Geburtsurkunde besäßen, und dieses Unrecht ist keine Verfälschung der Nationalstaatsidee, sondern ihr – bisweilen durch die Toleranz einsichtiger Menschen freilich gemildertes – Wesen.«
Diejenigen, die nicht Teil eines Gemeinwesens sind, da sie durch koloniale Herrschaft unterdrückt und entrechtet sind, sollen, so der antinationale Dichter, es gar nicht erst versuchen, ihrer Lage zu entfliehen und ein eigenes Gemeinwesen zu gründen, da dies ohnehin nur zu neuer Gewalt führt. Sie sollen dem deutschen Dichterstaatsbürger gehorchen und sich weiter »schikanieren, ausweisen, abschieben« lassen, da sie das Unrecht, das ihnen angetan wird, ohnehin nur perpetuieren werden.
Für Entrechtete, Versklavte, Papier- oder Staatenlose, d. h. für die Mehrheit der Kolonisierten, war und ist jedoch die Teilhabe an einer staatlichen Souveränität, die Staatsbürgerschaft, die einzige Möglichkeit ein menschenwürdiges Leben zu führen. Wie die Forderung nach Tarifverträgen, so ist auch die Forderung nach Gleichberechtigung und Bürgerrechten eine linke Minimalforderung, und die Voraussetzung für weitere gemeinsame Kämpfe. Erst die juristische und politische Gleichberechtigung, die gegenwärtig an eine staatliche Souveränität geknüpft ist, schafft die Voraussetzung, den Rassismus zu bekämpfen und gemeinsam den Sozialismus einzufordern. Erst ein Pass oder eine Geburtsurkunde erlauben es, gegen die Schikanen der anderen Passbesitzer vorzugehen.
Doch der Dichter will aufs Ganze gehen, ihm geht es um das Produktionsverhältnis:
»Das Schachspielen mit den Gebietsansprüchen von Bevölkerungsgruppen haben die Linksradikalen deshalb früher den Machthabern überlassen, denn nicht die Bevölkerung stand für die Linksradikalen zur Disposition, sondern das Produktionsverhältnis, die Machtverhältnisse, die Regierung. Ein Krieg zwischen zwei Bevölkerungsgruppen, deren beider Ziel es ist, die jeweils andere von einem Stück Land zu vertreiben, hätte eben deshalb die Linksradikalen theoretisch bestätigt und praktisch ratlos gemacht. Ein solcher Krieg, wie er zwischen Israel in der Rolle des vertriebenen Vertreibers und den Palästinensern in der Rolle der Vertriebenen seit Jahrzehnten geführt wird, hätte die Linksradikalen in ihrer Erkenntnis bestätigt, daß es für soziale Probleme keine nationale Lösung gibt, jedenfalls keine andere als endloses Blutvergießen.«
Hier haben wir ein Bilderbuchbeispiel für das Pohrtsche sprachliche Blendwerk. Man nennt den Kampf gegen Landnahme und Kolonisierung einfach ein »Schachspiel« und schon denkt die Leserin nicht mehr an den berechtigten Kampf gegen die massenhafte Vertreibung und völlig entschädigungslose Enteignung der palästinensischen Landbevölkerung, sondern ausschließlich an gemeine Machthaber, die Menschen hin und her schieben. Auch diese Methode stammt aus dem antideutschen Handbuch infamer Rabulistik. Wie kann der Dichter außerdem behaupten, dass die Linksradikalen »die Gebietsansprüche von Bevölkerungsgruppen« bzw. »die Bevölkerung« früher den Machthabern überlassen haben? Die Macht über bestimmte fruchtbare oder ressourcenreiche Gebiete ist hoffentlich auch für ein linkes Gemeinwesen wesentlich, schließlich ist sie zentral für »das Produktionsverhältnis« (Pohrt). Sobald es den Linksradikalen um die Macht und nicht mehr nur um die Dichterei geht, sind sie deshalb sehr wohl mit diesen Fragen befasst. Man denke z. B. an die Frage nationaler Autonomie nach 1917 und den Frieden von Brest-Litowsk. Um die Sowjetmacht gegen den deutschen Imperialismus abzusichern, musste man wichtige Gebiete und ihre Bevölkerung (u. a. die wertvolle Ukraine) abtreten, was selbstverständlich ein großes Problem darstellte und höchst umstritten war. Hätten die Bolschewiki stattdessen gedichtet und Gebiet und Bevölkerung den Machthabern überlassen, wären sie schnell unter der Erde gewesen.
Der palästinensische Flüchtling, den man restitutionslos in das Ghetto von Gaza trieb, der dort, als es unter der Besatzung noch möglich war und bevor sein Elendsquartier völlig zertrümmert wurde, jeden Morgen um 4 Uhr loszog, um seine entrechtete Arbeitskraft an irgendeine israelische Baustelle zu verkaufen, der jederzeit mit Hausdurchsuchungen und willkürlicher Gewalt rechnen musste, dessen Ghetto zum Absatzmarkt israelischer Billigware wurde, dessen Strom und Wasser, dessen Bewegung durch den Besatzer vollständig kontrolliert wird, dieser Vertriebene soll seine Gebietsansprüche laut dem Dichter doch lieber den Machthabern überlassen. Die deutschen Linksradikalen wollen, dafür haben der Dichter und sein Club gesorgt, mit solchen Schachspielereien in jedem Fall nichts zu tun haben.
Die Minimalforderung nach Souveränität und einer Nation sorgt jedoch nicht deshalb für endloses Blutvergießen, da zwei abstrakte Nationen aufeinanderprallen, sondern da der Siedlerkolonialismus nur drei Verfahrensweisen mit der autochthonen Bevölkerung kennt: Vertreibung, Vernichtung oder die koloniale Zwei-Staaten-Lösung, die die Kolonisierten in Zonen reduzierter Souveränität und Pseudoautonomie verbannt. Die Erfüllung der linken Minimalforderung einer Ein-Staaten-Lösung mit gleichen Rechten für alle wäre das Ende des Siedlerstaats.
Doch von Kolonialismus hat der Dichter noch nie etwas gehört:
» [D]ie Entwicklung Israels […] zeigt [nur noch einmal], daß jeder Nationalstaat, auch dann, wenn humanitär gesonnene Leute ihn aus lautersten Motiven und mit den besten Absichten gründen, dazu neigt, ein gefräßiges Ungeheuer zu werden.«
Wie für den Großvater Pohrt alle Juden böse Menschen waren, so sind für den antideutschen Dichter alle Juden freundliche Opfer und humanitär gesonnene Leute, die ihre Kolonie aus lautersten Motiven gründen. Es sei an dieser Stelle der revisionistische Zionist Wladimir Jabotinsky, geistiger Vater des Likud, aus seiner zentralen Schrift »Die eiserne Mauer« von 1923 zitiert, die den größten Einfluss auf den Umgang der Zionisten mit der arabischen Bevölkerung hatte, ein humanitär gesonnener Mensch mit besten Absichten:
»Die zionistische Kolonisierung muss entweder aufhören oder ohne Rücksicht auf die einheimische Bevölkerung vorangehen. Dies bedeutet, dass sie nur unter dem Schutz einer Macht voranschreiten und sich entwickeln kann, die unabhängig von der angestammten Bevölkerung ist – hinter einer eisernen Mauer, die die einheimische Bevölkerung nicht durchbrechen kann.«
Ein Linksradikaler hätte früher, um mal den Ton Pohrts anzustimmen, die Menschen nach ihren Taten und nicht aufgrund ihrer »Rasse« beurteilt.
Doch der Dichter webt sein bezauberndes Netz weiter und weiter. Er verkündet, dass
»die schlimme Vergangenheit und Gegenwart Israels als Zukunftsprognose für einen Palästinenserstaat und als Warnung vor ihm begriffen werden muß, denn dieser Staat könnte sich von Israel nur dadurch unterscheiden, daß seine Bewohner nicht Israelis, sondern Palästinenser heißen. Im Libanon wurden die israelischen Truppen als Befreier gefeiert und waren die Palästinenser verhaßt; kaum deshalb, weil sich die Palästinenser im Libanon wie freundliche, verständige und bescheidene Gäste benahmen, wenn sie selbst die Mehrheit hatten und die PLO die Macht; kaum deshalb, weil Palästinenser unsympathische Leute sind, sondern deshalb, weil Menschen dann, wenn sie als Volk auftreten, im Umgang mit Minderheiten niemals besonders zartfühlend und zimperlich sind.«
Gäbe es nicht sehr wahrscheinlich, wenn man das Dichten hinter sich ließe und über die Namen der Bewohner hinausdenken würde, nicht ziemlich viele Unterschiede zwischen einem israelischen und palästinensischen Staat? Würde ein souveräner Palästinenserstaat, der kein koloniales Gebilde wäre, wie es in Oslo konzipiert wurde, nicht sehr wahrscheinlich unter ein US-Embargo fallen, wodurch der Staat zu großen Teilen aus dem Welthandel ausgeschlossen wäre? Selbst die arabischen Staaten halten sich momentan, da ihnen ihre Beziehungen zu den USA und/oder Israel wichtiger sind, zurück, was die Unterstützung der Palästinenser angeht. Wäre deshalb nicht auch deren Unterstützung lächerlich gering? Wäre dieser Staat dann nicht primär von irgendwelchen Hilfsgeldern abhängig, die sich, wie heute ja schon, eine parasitäre Herrscherklasse unter den Nagel reißen würde, da sich in den letzten hundert Jahren unter kolonialen Bedingungen weder nennenswerte Bourgeoisie noch Produktivkräfte entwickeln konnten? Wäre dieser Staat, der wahrscheinlich seine Bevölkerung kaum ernähren könnte, würde er denn überhaupt wollen, wirklich in der Lage einen hochtechnologischen Militär-, Überwachungs- und Repressionsapparat wie den israelischen zu errichten, um die jüdische Bevölkerung auf dem Gebiet zu unterjochen? Der kommunistische Franke würde hier feststellen: »Welthandel, D-Mark und so Zeugs«. Aber der antinationale Dichter muss sich ohnehin keine Sorgen machen, da die Palästinenser die eiserne Wand der Israelis und Amerikaner wohl niemals durchbrechen werden.
Zudem: Wurden die israelischen Truppen im Libanon wirklich unisono als Befreier gefeiert? Von wem, warum? Weil die Israelis die PLO, die sie ja durchaus selbst zu verantworten haben, und die aus Jordanien vertrieben wurde, nun im Libanon angriffen und zerschlugen? Fanden die arabischen Libanesen das wirklich alle toll? Meint er möglicherweise die Fraktion der libanesischen Christen, die einst durch die Franzosen protegiert wurde, ihre eigenen Interessen im Libanesischen Bürgerkrieg hatte, und deren katholische Milizen mithilfe des israelischen Militärs in den Flüchtlingslagern Sabra und Schatila 1982 ein gewaltiges Massaker anrichteten? Auch hier hängt wieder der Schleier der Syntaxgardine vor den komplexen Verhältnissen, zugleich streichelt der Dichter mit seinen Weisheiten die Herzen der antinationalen Linken: Völker gehen halt aufeinander los. Warum geht es denn aber z. B. der dänischen Minderheit in Deutschland besser als der afghanischen, oder der palästinensischen? »Welthandel, D-Mark und so Zeugs«.
Am Ende des Gedichts wird nun endlich verraten, worum es dem Dichter eigentlich geht. Es geht ihm weder um die Juden noch um die Palästinenser, sondern um sich und die Deutschen:
»Wenn trotzdem heute militante Linke im idiotischen Konflikt zweier völkischer Nationalismen keinen Grund zur Ratlosigkeit sehen, fast zur Resignation, sondern eine willkommene Gelegenheit, mitzumischen, blindlings und fanatisch Partei zu ergreifen und sich mit aller Einbildungskraft ins Schlachtgetümmel des ›nationalen Befreiungskampfes‹ zu stürzen, dann hat das nichts mit Linksradikalismus zu tun, sondern mit den bösen verschwiegenen Sehnsüchten, die im Herzen dieses Volkes schlummern. Den Nutzen davon werden nicht die Palästinenser und den Schaden davon wird nicht Israel haben, sondern die Leidtragenden werden die Ausländer in der Bundesrepublik sein – dann, wenn die Deutschen den nationalen Befreiungskampf nicht mehr stellvertretend für andere Völker, sondern bei sich selber führen, dann, wenn das Bündnis zwischen Militanz und Mob eine realistische politische Basis bekommt.«
Der Kampf des zionistischen Nationalismus und Kolonialismus, dessen Anhänger Pogromen und der deutschen Vernichtungspolitik entkamen, gegen die Palästinenser und ihren Nationalismus, die sich dem massiven kolonialen Gewaltapparat Israels und der Macht des britischen und US-Imperialismus ausgesetzt sehen, wird erst als ein »idiotischer Konflikt« sprachlich verkleinert, daraufhin als »völkisch« ins Deutsche eingemeindet, um dann zu guter Letzt, man fasst es kaum, die Parteinahme für die Palästinensische Sache als Emanation »böser verschwiegener Sehnsüchte« aus »dem Herzen dieses Volkes« zu denunzieren. Eine globale Bewegung der Solidarität mit den Massakrierten und Vertriebenen, deren Vertreibung u. a. Folge des deutschen Genozids an den europäischen Juden war, sei nichts als die Erscheinung böser deutscher Sehnsüchte. Was wir hier beobachten können, ist die wahnhafte Projektion eines deutschen Dichters, der trunken unter seinem Dichterbaum sitzt und »Nationalsozialismus« und »nationale Befreiung« miteinander verknüpft, wie es ihm passt, da es gut klingt.
Die arabische und antikoloniale Welt besteht, das erfuhren wir dann bald von den jüngeren antideutschen Dichtern, die den Herrn Pohrt weitersponnen, aus nationalsozialistischen Antisemiten, denen man mit deutscher Härte begegnen muss. Ironischerweise, das kann man heute feststellen, sind auf den Demonstrationen für Palästina jedoch kaum Deutsche anzutreffen, da sie wohl Pohrt gelesen und verstanden haben, dass der deutsche Teufel durch die Ausländerhintertür in Erscheinung tritt. So können die Deutschen die Ausländer drangsalieren und ihnen mit Strafen und Abschiebung drohen, nicht weil sie, wie Pohrt vermutet, den antikolonialen Befreiungskampf nun auch als Deutsche führen, sondern indem sie die Ausländer als Israelhasser und Antisemiten bezeichnen und der »geschichtsbewusste« Deutsche an ihnen gutzumachen behauptet, was er den Juden angetan hat. Denn der herrschende Rassismus, da behielt Karl Held Recht, ist kein nationalsozialistischer, sondern ein demokratischer.
- 1. Interview mit Joachim Bruhn, http://www.ca-ira.net/wp-content/uploads/2018/06/bruhn-kritik.israel-1…
- 2. Die Dichterei hat einigen Protagonisten der antideutschen Konterrevolution mittlerweile hohe Posten im deutschen Überbauapparat eingebracht, wo sie nun darüber bestimmen dürfen, wer Antisemitin ist und wer nicht. Dem deutschen Staat, der seit einigen Jahren immer repressiver gegenüber Minderheiten auftritt, kommt diese dichterische Flexibilität zugute, da sie der Repression die notwendigen historischen oder juristischen Weihen verschaffen kann. Der Dichter und ehemalige Jungle World-Autor Samuel Salzborn ist mittlerweile zum Antisemitismusbeauftragten des Landes Berlin aufgestiegen, das seine große begriffliche Expertise im Kampf gegen die Sonnenallee benötigt. Er beschreibt den Antisemitismus messerscharf: »Moishe Postone hat dies so beschrieben, dass die Wertform der modernen Gesellschaft und die aus ihr resultierende Ausdifferenzierung zwischen Gebrauchs- und Tauschwert auf der einen sowie die Warenfetischisierung auf der anderen Seite ursächlich seien für eine im Antisemitismus vollzogene Verknüpfung dieser ökonomischen Sphären mit einem konkretistischen Weltbild, in dem das Abstraktionsprinzip in manichäischer Weise auf das Judentum projiziert wird.« (Samuel Salzborn: »Wahn der Homogenität«, https://jungle.world/artikel/2010/16/wahn-der-homogenitaet) Der Dichter und große Marxist Stephan Grigat, der heute Professor und anerkannter Experte für Antisemitismus ist, zauberte die Solidarität mit Israel und die Affirmation seiner Kriege einst aus der Marxschen Fetischkritik hervor: »In der Gleichung x Ware A = y Ware B, in dieser Keimform des Fetischismus, der zugleich verkehrten und richtigen Wahrnehmung und Praxis, wie Marx sie gleich zu Beginn des ›Kapitals‹ kritisiert, werden zwei gleich große Quanten verausgabter abstrakter menschlicher Arbeit verglichen. Der Warenkörper der Ware B, die rein sinnliche, konkrete, stoffliche Seite dieser Ware muß das Gesellschaftliche, das Abstrakte der Ware A, ihren Wert, ausdrücken. Dadurch wird nach Marx der Gebrauchswert zur Erscheinungsform seines Gegenpols, des Werts. Damit ist der Gegensatz von Abstrakt und Konkret bereits in dieser harmlos daherkommenden Gleichung ausgedrückt, die man nur dann adäquat kritisieren kann, wenn man ihre historischen und gegenwärtigen Implikationen mit ins Visier nimmt. Dieser Gegensatz von Abstraktem und Konkretem materialisiert sich heute nicht zuletzt in dem im besten Sinne künstlichen Staat Israel einerseits und der Blut- und Boden-Intifada der Palästinenser, der sich die Antiglobalisierungsbewegung und die Friedensbewegung mehrheitlich als Hilfstruppe andient, andererseits. […] Wer sich mit der Formel x Ware A = y Ware B nicht nur irgendwie beschäftigen, sondern sie in all ihren Konsequenzen kritisieren möchte, muß sich mit der bewaffneten Selbstverteidigung Israels solidarisch erklären.« (Stephan Grigat: Eine Kritik der No-Globals und ihrer Kritiker«, https://www.hagalil.com/archiv/2003/10/no-globals.htm) Und zuletzt der Bundesarbeitskreis Shalom innerhalb der Linkspartei, für den Israelsolidarität kein Selbstzweck ist, wahrscheinlich da die Palästinenser das Brötchenbacken und die Zinswirtschaft immer noch nicht als kapitalistische Einheit begreifen, da die IDF sie bekanntermaßen v. a. mit Wucherzinsen bestraft: »Israelsolidarität ist kein Selbstzweck, sondern resultiert aus der unmittelbaren Gefahr durch Antisemitismus. Sein Vorkommen ist bedingt durch eine falsche Kapitalismusanalyse, die zu einem ressentimentgeladenen Antikapitalismus führt. Ihm wesentlich ist die fetischistische Unterscheidung von guten, konkreten und schlechten, abstrakten Phänomenen des kapitalistischen Produktions- und Verwertungsprozess. Abstrakte Phänomene, wie etwa Zinswirtschaft, werden auf die Juden projiziert und naturalisiert, während konkrete Phänomene (wie z. B. etwa Holz hacken, Brötchen backen oder überhaupt ›ehrliche‹ Arbeit) als tugendhafte Tätigkeiten begriffen werden. Beide Prozesse werden jedoch nicht als kapitalistische Einheit verstanden. Antisemitismus ist also keine Form des Rassismus, sondern eine umfassende Welterklärung« (BAK Shalom: Warum Solidarität mit Israel?«) Vielmehr ist die »Antisemitismustheorie« zu einer umfassenden Weltverschleierung geworden, die diese völlig vernebelten Dichter am Tisch des deutschen Imperialismus hat Platz nehmen lassen.