Leserbrief: Führt Aufrüstung zum Krieg? Zur aktuellen Militarisierung
Ruth Jackson und Aaron Eckstein haben kürzlich auf Communaut die derzeitige Aufrüstung als Vorspiel zum Krieg gedeutet. Diesen Gedanken stellt der folgende Leserbrief in Frage.
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Ihr betitelt euren Text mit einem Bertolt-Brecht-Zitat: „Wenn wir zum Krieg rüsten, werden wir Krieg haben“. Dem habe ich intuitiv zugestimmt. Dann wiederum könnte man zwei historische Gegenbeispiele anführen, um zu widersprechen:
Erstens das militärische Verhalten Polens und der Niederlande im Zweiten Weltkrieg. Sie haben unterschiedliche Vorbereitungen gegen ihren imperialistischen Nachbarn getroffen. Die einen haben versucht sich (weiter) zu militarisieren, die anderen nicht. Am Ende kam für beide Länder der Krieg.
Zweitens scheint mir der von euch selbst angeführte Kalte Krieg auch ein Gegenbeispiel zu sein. Vor allem geht ihr ja davon aus, dass es durch die Aufrüstung auch zu einer Militarisierung des politischen Handelns kommt. Konnte man das in Europa im und nach dem Kalten Krieg sehen? Die Staaten waren ja tatsächlich extrem hochgerüstet. Aber Krieg brach zumindest in Europa erst in den 1990er Jahren aus. Möglicherweise macht die Kolonialgeschichte mein Argument hier auch zunichte. Aber Militarisierung als einzige relevante Variable, um Kriege und militärische Konflikte zu erklären, scheint mir ungenügend.
Des weiteren verhandelt ihr in eurem Text Russland als einen rationalen Akteur. Dem stimme ich nicht zu. Vor dem 24. Februar 2022 haben wenige Beobachter:innen weltweit angenommen, dass „Russland“ tatsächlich die Ukraine angreift. Die objektiven Fähigkeiten Russlands stehen allerdings nicht notwendigerweise in direkter Verbindung mit „seinem“ Handeln. Es entscheiden die sich durchsetzenden Machtinteressen in einem Land, und auch die folgen vor allem ihren eigenen Zwängen. Wenn der interne Druck zu groß wird, dann lohnt sich ein Krieg immer, auch wenn eigentlich klar ist, dass man ihn verliert oder dass er nicht einfach zu gewinnen sein wird. Sicherlich ist es Alarmismus, Europa vor dem Hintergrund einer russischen Bedrohung in den Kalten Krieg zurück zu rüsten. Andererseits (und leider ohne ironische Wendung an dieser Stelle): Just because you’re paranoid, doesn’t mean they’re not after you...
Schließlich verstehe ich euch so, dass ihr das Argument des kleineren Übels kategorisch ablehnt. Wenn der Maßstab darin besteht, wie es im betreffenden Land um Freiheit und Lebensbedingungen relativ zum Vorkriegszustand steht, dann wird vermutlich jedes Land, das Krieg führt, auf kurz oder lang diesen Ansprüchen nicht mehr gerecht werden. So weit, so gut. Aber wenn wir auf den Zweiten Weltkrieg schauen, war es doch wichtig, gegen die Nazis zu kämpfen; sei es als Partisan:in oder in Zusammenarbeit mit staatlichen Militärs. Das thematisiert ihr selbst noch in eurem Text ‚Don‘t walk in Line’ von 2023. Hier schließen sich dann natürlich weitere schwierige Fragen an, um die ja auch in der Linken gestritten wird: Ist Russland ein faschistischer Staat? Was würde das für linke Politik bedeuten? Müssen wir nicht zwischen bürgerlich-demokratischen und faschistischen Staaten unterscheiden: Staat ist nicht gleich Staat? Und so weiter.