Leiharbeit ist besser

04. Oktober 2022
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Der folgende Erfahrungsbericht eines Pflegers beschreibt eine Arbeitsrealität in einem Bereich, der während der Corona-Pandemie plötzlich im Zentrum der Aufmerksamkeit stand. Doch trotzdem haben sich die miserablen Bedingungen sowohl für die dort Beschäftigten als auch für die dort betreuten Personen nicht verbessert.

Mit diesem Text knüpfen wir an den Bericht eines Berliner Physiotherapeuten und an den eines Briefträgers an. Wir würden uns sehr freuen, wenn uns noch weitere Berichte aus der Arbeitswelt erreichen und fordern alle Leser:innen dazu auf uns solche zuzuschicken, so dass wir auf diesen Seiten Teile der proletarischen Realität dokumentieren können und damit im Idealfall zum Nachdenken über die herrschenden Arbeitsbedingungen anregen.

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Ich bin 51 Jahre alt und verkaufe meine Arbeitskraft für eine sozial sehr angesehene Leistung, nämlich die Pflege kranker Menschen. Seit knapp 2 Jahren tue ich dies über eine sogenannte Leihfirma, ein Subunternehmen. Diese verleiht mich für jeweils eine begrenzte Zeit in verschiedene Gesundheitseinrichtungen. Bei dieser Leihfirma bin ich fest und unbefristet angestellt und erreiche ein höheres monatliches Brutto und Netto als im sonstigen Durchschnitt der Branche. Erreicht wird dies über Bonuszahlungen. Das hat aber auch zur Folge, dass im Krankheitsfall monatlich merklich weniger in die Tüte kommt und auch die Beträge für die Rente geringer sind. Aber ob ich nun mit meinen Renteneinzahlungen einen Euro mehr oder weniger über der Mindestrente bin, interessiert mich gegenwärtig wenig. Planungen über die nächsten Tage hinaus sind für mich illusorisch. Doch dafür ist die Urlaubszeit geregelt, und wenigstens kann ich besser als bei einer festen Anstellung in einem Haus und Integration in einem Team meinen Urlaub im Voraus planen, da ich nicht auf das Team Rücksicht nehmen muss. Wichtig ist für mich momentan, meine Familie irgendwie durchzubringen und auch etwas Zeit für sie zu haben. Dafür ist augenblicklich die Arbeit in einer Leihfirma angemessen. Natürlich bin ich dadurch auch von den Teams in gewisser Weise getrennt und vereinzelter. Es hat aber auch den Vorteil, viele verschiedene Situationen an unterschiedlichen Arbeitsplätzen kennenzulernen. Die Filiale meiner Leihfirma ermöglichte mir Arbeitsplatzwechsel in Fällen, in denen ich mit der Arbeitssituation unzufrieden war, problemlos und unterstütze mich sogar dabei. Dadurch konnte ich offensiver mit den Vorgesetzten und Kollegen:innen kommunizieren.

Durch die Anforderungen der Arbeit und der Versorgung meiner Familie bin ich übermäßig in Anspruch genommen und finde kaum Zeit und Gelegenheit, mich zu organisieren und über aktuelle Möglichkeiten des Arbeitskampfes zu informieren. Das Thema Arbeitskampf, also der Gegensatz der Interessen, wird aber auch sehr klein gehalten, scheint Tabu zu sein. Auch bei den Arbeiter:innen. Ich habe den Eindruck, dass die meisten selbst dann, wenn sie über so etwas wie Arbeitskämpfe nachdenken, sich zurückhalten, weil sie befürchten etwas Illegales zu denken. Die Selbstzensur ist hoch und fördert eine Atmosphäre der Sprachlosigkeit. Das lässt sich schwer durchdringen. Mir geht es jedenfalls selbst so, dass ich vorsichtiger argumentiere, um ja nicht allzu offensichtlich als Linker oder Kommunist erkannt zu werden, was natürlich meine Argumentation schwächt. Sehr oft ist dann meine kapitalismuskritische Argumentation anschlussfähig an rechte Denkmuster. Ich erkenne es in entsprechenden Antworten der Kollegen:innen, mit denen ich zu diskutieren versuche, die dann bewusst oder unbewusst rechts ausholen. Dann bin ich irritiert und weiß nicht, ob ich konkreter werden oder mich zurückziehen soll. Ich fühle mich isoliert.

Direkte Vorgesetzte haben immer das Problem, den absolut berechtigten Forderungen der Arbeitskollektive überhaupt nicht entsprechen zu können. Deshalb versuche ich die Strategie zu verwenden, ihnen zu signalisieren, dass ihre Hilflosigkeit nicht ihr persönliches Verschulden ist. Andererseits müssen sie von ihren Untergebenen täglich gerade darum, weil sie keine Abhilfe schaffen können, übermäßigen Einsatz fordern. Eine Weile, eine viel zu lange Weile, halten die Arbeitenden ihre Bedürfnisse zurück und schuften bis zur Erschöpfung. Innerhalb des Arbeitsprozesses gibt es kaum Möglichkeiten der Reflektion und am Ende sind alle so fertig, dass sie sich nicht mal mehr unterhalten können. Der einzige Ausweg ist Absenz, also sich krankschreiben zu lassen. Nun interpretieren die meisten direkten Vorgesetzten ihre Hilflosigkeit doch als persönliches Versagen. Hinter meiner Absolution steckt natürlich implizit eine Aufforderung zur Rebellion, zur Solidarität mit den Teams, der Kampf um andere Verhältnisse: Wenn alles so schlimm ist, dass ihr persönliches Engagement überhaupt nicht wirken kann, müssten sie die Stelle aufgeben oder kämpfen. Aber auch dafür sind die Bedingungen denkbar schlecht. Dies ist auch mein Dilemma. Es gibt aber auch einige wenige Vorgesetzte und Kollegen*innen, mit denen ich direkt reden konnte, und das ist sehr befreiend, nicht nur für mich, sondern auch für die andere Person. Ein Pflegedirektor eines Krankenhauses hat mir einfachen und ihm nicht persönlich bekannten Pfleger in so einem Fall offenbart, dass er seine Stelle aufgibt, weil er keine Chance sieht, irgendetwas verbessern zu können.

Die Leihfirma vermittelt Einsätze sowohl in Kliniken, aber auch in Heimen oder Einrichtungen der Behindertenbetreuung. Ich kann dann jeweils entscheiden, welches Angebot ich annehme. Derzeit gibt es sehr viele Angebote, so dass ich mir meine Einsätze aussuchen kann. Die Wahlmöglichkeit ist also durch das Angebot begrenzt. Meist komme ich aber in Situationen, in denen die Lage besonders angespannt ist. Sonst hätte man ja nicht bei einer Leihfirma angefragt.

Bis 2019 habe ich fast 20 Jahre lang in einer Rehaklinik gearbeitet, einem privaten Haus. Spätestens ab den 2010er Jahren ging die Lohnschere zu den öffentlichen Häusern und Akutkliniken auf, und mittlerweile ist die Differenz dramatisch. Ich kann gar nicht verstehen, dass heute immer noch Menschen für diesen unwürdigen Lohn diese doch so wichtige und gesellschaftlich notwendige Arbeit leisten. Und das in einem Unternehmen, dessen Führung ziemlich ungeniert zeigt, dass sie an der Leistung und dem gesellschaftlichen Auftrag, für das dieses Unternehmen existiert, an sich kein Interesse zeigt, sondern nur an der Immobilie, und die Angestellten nur deshalb gewähren lässt, weil sie sich unter diesen Bedingungen noch auspressen lassen. Ziel scheint zu sein, sie zu zermürben und langsam herauszudrängen, um Abfindungen zu sparen, aber doch so lange machen zu lassen, wie sie keine Kosten verursachen und sogar noch etwas „erwirtschaften“. Es ist pervers, wenn man bedenkt, dass die „Kunden“ neurologisch erkrankte Menschen sind. Ich bin aus diesen Verhältnissen auch erst mit und durch einen Burnout herausgekommen.

Das Burnout-Jahr mit klinischer Rehabilitation unter Rentenkassen- und Arbeitsamtfinanzierung ist ein Kapitel für sich, das ich hier ausspare. 2020 heuerte ich in einer Uniklinik an und kam, obwohl meine fachliche und menschliche Arbeit durch Kollegen*innen, Ärzt*innen und vor allem den Kranken anerkannt war, nicht über die Probezeit hinaus. Ich hatte zwei etwas lauter ausgetragene Konflikte mit einer Kollegin. Ein Kollege hatte mich schon zu Beginn meiner Tätigkeit auf der Station gewarnt, dass es innerhalb des Teams eine informelle Clique mit Einfluss auf die Leitung gäbe, die jeden ihnen unerwünschten Neuankömmling rausmobben würde. Ich erlebte dann in Diensten mit mobbenden Kolleg*innen, dass mir nicht geholfen wurde oder mir Informationen nicht gegeben wurden, also die notwendige Kooperation verweigert wurde. Strukturell gestützt war diese Mobbingstruktur dadurch, dass der gut bezahlte Job in der „Elite“-Institution Uniklinik sehr begehrt ist. Die Abläufe sind sehr stark durchstrukturiert, sozusagen digital gesteuert, sehr technifiziert. Junge computeraffine Kolleg:innen sind eindeutig im Vorteil. Die „Einpflegung“ der Daten und Leistungen in das Pflegedokumentationssystem, über das alle Tätigkeiten gesteuert werden, scheint dabei wichtiger zu sein als die wirkliche Tätigkeit und verleitet zum Tricksen. Die Arbeit wird tatsächlich nur darüber und viel zu akribisch kontrolliert und die wirkliche Interaktion an der Patient:in wird unsichtbar. Man kann nur am Zustand der Patient:innen indirekt ablesen, ob eine Pflegekraft korrekt gearbeitet hat. In der Stroke Unit bspw. liegen Schlaganfallspatient:innen in der Akutsituation, teilweise bewusstlos oder desorientiert. Es ist sinnvoll, die Station immer effizient zu belegen und möglichst viele Patien:innen durchzuschleusen, damit diese von der Technik profitieren. Ein schnelles Intervenieren ist hier überlebensnotwendig. Dann aber arbeiten die Pflegenden und Ärzt:innen jeweils einen Bereich mit vielen Patient:innen allein ab. Es ist eine relativ intensive, technisch anspruchsvolle und in die Körper eingreifende Pflege. Jeder Handgriff muss sitzen. Wenn die Pflegenden aber jeweils allein an die Patient;innen gehen müssen, ist keine Kontrolle vorhanden, auf welche Weise sie diese bewegen, und welche Arbeiten sie auslassen, um Zeit zu sparen oder wie sie mit den Patient:innen kommunizieren. Ich habe beobachtet, dass Kolleg:innen sehr stark an den Körpern und Gliedmaßen beim Lagern zerren, was zum Teil sogar derart ruppig war, dass ich körperliche Verletzungen befürchtete, nur weil sie vermeiden wollten, eine Hilfe durch eine Kolleg:in aus einem anderen Bereich abzuziehen. Manchmal musste ich einen völlig konfusen Patienten im Dienst übernehmen, bei dem ich den Verdacht nicht loswerden konnte, dass er im vorherigen Dienst schlecht betreut worden war. Das ist eine Grauzone. Es ist nicht belegbar, es erzeugt aber viel ungesunden Stress. Wer zu langsam arbeitet, vielleicht aus Vorsicht oder Rücksicht, gefährdet die Teamabläufe, die eng getaktet waren. Manchmal dachte ich dann, dass vielleicht Kameras zum Schutz der Patient:innen sinnvoll sein könnten, aber das wäre natürlich im Hinblick auf die Rechte der Arbeitenden bedenklich. Einige Kolleg:innen genossen es, auf den Termin zur Übergabe zu drängen. Aber wenn dann nicht alles erledigt war, wurde einem dies unter die Nase gerieben. Denn ein Fehler in der Dokumentation ist sofort sichtbar und wird sanktioniert! Das lenkt die Aufmerksamkeit auf das Dokumentationssystem ab. In einem solidarischen Kollektiv könnte diese digitale Hilfe eine Entlastung sein, hier ist sie ein Instrument zur Verschärfung des Drucks und der Konkurrenz.

Da ich Familie habe, wollte ich nicht in Vollzeit arbeiten. Aber die Pflegedienstleitung (PDL) machte mir dies in der halbjährigen Probezeit zur Bedingung. Ich ging notgedrungen darauf ein. Im Nachhinein sehe ich das als einen Fehler an. Es hat die Spannungen noch gefördert, weil ich einfach zu erschöpft und überfordert war. Diese Einstellungspolitik war aber eine Politik der absoluten Unterwerfung und ist völlig familienfeindlich. Sie zielte darauf ab, die „Leistungsfähigsten“ voll auszuschlachten: das sind eben die jungen, frisch ausgebildeten Singles. Ich dachte mir, ha, jetzt lacht ihr noch, aber auch ihr werdet mal älter.

Es mag irritierend sein, aber in der Pflege erlebe ich als Mann viel öfter Frauen als mobbend. Das mag eine subjektive Verzerrung von mir sein. Aber im konkreten Fall war eine Clique aus jungen Frauen, die das Mobbing an dieser Arbeitsstelle mir gegenüber ausübte. Es war eine Minderheit, die meisten Kolleginnen verhielten sich korrekt. Dennoch ist es für mich wichtig, die Situation zu beschreiben, denn in ihr steckt auch etwas Strukturelles. Diese Frauen waren besonders aggressiv. Aber tendenziell ist da immer etwas in der Beziehung zwischen Frauen und Männern in der Pflege vorhanden. Die Pflege wird immer noch als Frauenberuf angesehen, und auf der unteren Ebene sind immer noch die Frauen in der Mehrzahl. Bei den höheren Positionen ist es so, dass die Männer gleichziehen oder sogar überholen. Auch in der Pflege machen die Männer verhältnismäßig öfter Karriere. Es ist deshalb durchaus nachvollziehbar, dass manche Frauen versuchen, wenigstens in den Teams ihren Status gegen die Männer zu verteidigen. Gerade auf dieser Ebene ist nicht zu erwarten, dass auch alle Frauen ein modernes Geschlechterrollenverständnis haben. Manch ein Mann kann hier feministischer sein als einige der weiblichen Kolleginnen. Es ist eine Beobachtung von mir, dass in der Pflege dann auf dieser Ebene manchmal diese Formen des Mobbings eher von Frauen ausgehen, die nicht nur gegen männliche Kollegen gerichtet sein können, sondern auch gegen andere Kolleginnen. In eher männlich dominierten Arbeitsfeldern gibt es andere, nicht bessere Formen destruktiven Verhaltens. Grundsätzlich geht es mir darum, über Verhaltensweisen nachzudenken, die ein solidarisches Handeln verhindern. Ich beziehe mich da mit ein. Ich habe ja ebenso durch mein lautes Verhalten, was man so deuten kann, dass ich durch meine männliche physische Stärke einschüchtern wollte, selbst dazu beigetragen, dass der Konflikt eskalierte. In der gereizten Situation, bedingt durch die angespannte Notlage, in der in der Pflege gearbeitet werden muss, ist es sehr wahrscheinlich, dass nicht immer die zivilisatorische Schicht als Puffer in der Kommunikation standhält. Gerade dann, wenn es keine diskursiven Instrumente gibt, um die Situationen gesellschaftskritisch zu reflektieren. Dort wo die Begrifflichkeit, die Sprache, die Worte enden, beginnt die Gewalt. Wir können leider nicht davon ausgehen, dass automatisch bei den „unteren“ Angestellten und Arbeiter:innen ein emanzipatives Bewusstsein vorhanden ist. Autoritäre Charakterstrukturen haben sich dort auch infolge des rein symbolischen Liberalismus bei Beibehaltung der hierarchischen Organisation der Gesellschaft verfestigt. So, ohne Klassenbewusstsein, bleibt als einzige Strategie, sich dort einzurichten, in der Nische, in die man/frau hineingesetzt ist und diese im Kleinkrieg zu verteidigen. Das sind natürlich keine günstigen Voraussetzungen für eine Revolution, wenn es keine Solidarität gibt.

Die Situation im Bereich Pflege Neurologie dieser Klinik war so, dass ständig neue Arbeitskräfte gesucht wurden. Denn viele Pfleger:innen wechselten oft nach relativ kurzer Zeit wieder die Stelle. Möglicherweise wurde das Konzept doch zu radikal durchgeführt. Ich wurde ohne wirkliche Anhörung nicht übernommen. Formell bin ich angehört worden und auch der Betriebsrat war automatisch eingeschaltet, konnte aber in der Probezeit nicht viel unternehmen. Ich bin noch mit Eingaben bis zur Klinikleitung gegangen, da ich erfahren habe, dass ich informell oder sogar formell, das weiß ich nicht, für alle Abteilungen der Klinik, und eben nicht nur für die Neurologie, gesperrt war. Dies wurde mündlich vom Pflegechef bestätigt. Die Sperrung ist sicher nicht rechtens und legitim. Ich hatte aber nicht mehr die Kraft und auch keine Lust, diese Entscheidung juristisch anzufechten. Außen hui, innen pfui, dachte ich über die Uniklinik. Das war im Sommer 2020.

Seit September 2020 bin ich nun bei einer Leihfirma eingestellt und ich muss sagen, dass die Filiale mich bisher sehr gut betreut. Die erste Erfahrung, die ich gemacht habe, war, dass ich tatsächlich begehrt war und immer noch bin. Und tatsächlich ist es so, dass die Leihfirmen alle ihre Mitarbeiter:innen sehr gut vermitteln können und sogar noch mehr vermitteln könnten. In den Institutionen, in denen ich dann eingesetzt bin, genieße ich eine Außenseiterrolle dadurch, dass ich völlig unkompliziert wechseln kann, meine Urlaubstage stehen fest, unabhängig von Teamzwängen usw. Ich bin nicht in die Routinen integriert und kann sie von außen kritisch hinterfragen und irritieren. Das ist natürlich manchmal anstrengend, aber ich sehe es gegenwärtig eher als Vorteil an. Ich bin also nur locker in Kollektive integriert.

Durch die Corona-Lockdowns haben sich die neoliberalen Zerrüttungen der sozialen und der Arbeitswelt weiter verschärft. Die Belastungen für eine Familie mit zwei Kindern, die allein über das Arbeitseinkommen der Eltern versorgt wird, wie die meine, sind enorm. Mir fehlt die Zeit, mich politisch zu organisieren, ich bin vollkommen von der Arbeit und der Sorge um die Familie aufgefressen. Oft gibt es auch Spannungen zwischen mir und meiner Frau und meinem Sohn, weil einfach die Ressourcen, die Zeit und die Kraft fehlen, um allen wichtigen Bedürfnissen, auch die um Aufmerksamkeit, zu genügen. Institutionen wie Schule und Kita sind selbst mehr Pflegefälle als eine Hilfe und Unterstützung. Man hat den Eindruck, dass man mehr für diese lebt, als dass diese Institutionen für uns existieren.

Meine Einsätze über die Leihfirma in den letzten zwei Jahren waren in einer Wohngruppe für Menschen mit Behinderung und in zwei kommunalen Krankenhäusern. In den kommunalen Krankenhäusern war die Atmosphäre kollegialer als in der Uniklinik, aber sehr von Chaos geprägt. Man improvisierte täglich. Überrascht hat mich, dass die kleinen Häuser noch mit Papier dokumentieren. Welch ein Unterschied zum Uniklinik-Regime! Angesichts der Komplexität und Informationsdichte heutiger medizinischer Tätigkeit ist es eigentlich unmöglich, mit einem solch veralteten Kommunikationsmittel, wie dem handschriftlich geführten papiernen Dokumentationsblatt zu arbeiten. Denn die aktuellen Informationen werden ja gleichzeitig von mehreren Professionen benötigt. So rangeln sich dann auch ständig Pflegende und Ärzt:innen und Therapeut:innen um die Kurven. Es ist unbeschreiblich, welche Kämpfe dabei täglich stattfinden. Diese zehren einen nervlich ganz und gar auf. Ich beobachte einen stetig zunehmenden Zerfalls- bzw. Zerreißprozess in den Gesundheitsbetrieben. In der Arbeit kommt man nicht mehr hinterher, zwischen Anspruch und Wirklichkeit vergrößert sich die Schere. Die Verwaltungsebenen sind untätig, vielleicht verstrickt und gelähmt von sich widersprechenden Anforderungen. Manche direkte Vorgesetzte, auf den unteren und mittleren Ebenen, sind oftmals den Tränen nahe, andere dagegen impulsiv pampig gegenüber den Untergebenen, je nach Temperament. Am unsympathischsten finde ich die niemals zu Irritierenden, die Aalglatten. In den gereizten allgemeinen Zuständen regredieren die Menschen auf ihre ungefilterten Temperamente, das erschwert die Kommunikation. In ähnlichen Widersprüchen rotieren aber die Beschäftigten an der eigentlichen „Arbeitsfront“, nur dass sie hier nicht den Effekt der Lähmung zeitigt, sondern den des aufgezwungenen „Rauschs“ und der Hysterie. Ständig müssen zusätzliche administrative oder logistische Tätigkeiten im Dienst mit getätigt werden, Besorgungen von grundsätzlich immer fehlendem Material, Organisation von ausfallenden Arbeitskräften usw. Es ist alles knapp auf Kante gehalten. In einem Haus wurde mir wochenlang kein Spind gegeben. Der Zugang zum Informationssystem wurde mir erst nach Tagen ermöglicht, aber ich sollte trotzdem, ohne dieses notwendige Werkzeug, schon allein und selbständig arbeiten. Die Vorgesetzte zeigte sich sichtlich genervt, als ich sie nach Tagen vorsichtig darauf ansprach. Es ist, emotional und tatsächlich, ein täglicher Krieg. Es driften auch die kleineren peripheren Krankenhäuser zunehmend ab in eine niedrigere Qualitätsklasse. Sie halten sich nur dadurch, dass sie ausländische Arbeitskräfte rekrutieren. Oftmals sollen diese allen fachlichen und kommunikativen Ansprüchen genügen, ohne dass darauf Rücksicht genommen wird, dass sie nicht genügende Fähigkeiten in der Anwendung der deutschen Sprache haben. Das führt zu vielen Konflikten und schürt strukturell den Rassismus. Die Klassenmedizin ist längst Realität. Wer als Patient:in keine Lobby hat, kann untergehen. Die Unzufriedenheit ist groß, aber unorganisiert. Selbst bei mir!

Auch bei der Wohngruppenbetreuung für Menschen mit Behinderung fehlen die Arbeitskräfte. Seit Corona sind viele Rahmenveranstaltungen weggefallen, so dass der Alltag der Bewohner:innen trister und eintöniger geworden ist. Das führt zu großer Unzufriedenheit. Die Leute nerven sich an. Hospitalismus verstärkt sich, die Bewohner:innen neigen zur Regression. Viele Betreuer:innen sind frustriert, vor allem, weil kein Horizont der Verbesserung in Sicht ist. Es gibt viele Kündigungen ohne Ersatz, was zu Mehrarbeit für die Bleibenden führt. Die dort tätigen sind sehr engagiert, aber es geht ihnen langsam die Puste aus.

An meinen Arbeitsstellen werden Arbeitskämpfe, die vereinzelt vorkommen, registriert, aber selbst sind die meisten zu sehr verstrickt im täglichen Überlebenskampf. Vielleicht erhofft oder erwartet man/frau ein Ereignis. Es ist dann natürlich von Bedeutung, in welcher Weise die Arbeiter:innenorganisationen vorbereitet sind, wie sich dann der weitere Verlauf entwickelt. Es wäre sehr hilfreich, wenn die Institutionen und politischen Parteien der Arbeiter:innenbewegung wieder viel offensiver und radikaler aufträten und sich auf ihren historischen und ethischen Ursprung besännen. Es hat überhaupt keinen Sinn, irgendwelche Rücksichten auf einen vermeintlichen Konsens innerhalb der real existierenden (neo)liberalen Gesellschaftskonzeption zu nehmen. Man kann nur überzeugen, wenn man den Maulkorb ablegt und sich nicht immer zu falschen Lippenbekenntnissen verleiten lässt. Es zeigt sich immer deutlicher, dass der wirtschaftliche Liberalismus total versagt und keine Konzepte zur Lösung der gegenwärtigen Probleme hat. Wenn die Arbeiter:innenorganisationen wieder selbstbewusster ihre absolut vernünftigen und berechtigten Forderungen im Gegensatz zur herrschenden bürgerlichen Ideologie, ohne Rücksicht auf diese, formulieren würden, würde dieses auch jede Arbeiter:in in ihrem/seinem Arbeitskampffeld helfen. Es braucht radikale Maßnahmen, die sozialen Tätigkeiten zu stärken und besser zu besetzen. Die gesamte Arbeit und der Konsum müssten neu und wirklich nach den Notwendigkeiten gewichtet aufgestellt werden. Das ist nur dann möglich, wenn den betroffenen Kollektiven selbst das Wort gegeben würde. Darum, diese zu ermächtigen, sollten sich die Arbeiter:innenorganisationen kümmern.