Krieg als Spaltungsgrund

21. Januar 2025

Vorbemerkung

Der folgende Text ist in Reaktion auf einen Dissens zum Entwurf eines Grundsatzpapiers entstanden, mit dem sich ein internationaler Zusammenhang von Kommunist:innen und Anarchist:innen, dem wir angehören, einen inhaltlichen Rahmen für die Zusammenarbeit gegeben hat. Der Streit hat sich an der Frage entzündet, wie viel Raum das Grundsatzpapier für divergierende Positionen in Bezug auf Krieg lassen sollte.

Inhaltlich ging es um folgende Uneinigkeit: Einigen unser Genoss:innen zufolge dient in einem imperialistischen Krieg das Handeln jeder direkt oder indirekt involvierten Partei, wie immer die konkreten Umstände und das Kriegsergebnis aussehen, notwendigerweise und ausschließlich den Interessen von Staat und Kapital, weshalb eine strikte Opposition gegenüber jeder Kriegspartei in allen Fällen geboten ist und jede solidarische Parteinahme kritikwürdig. Wir denken hingegen, dass es auch Umstände geben kann, unter denen durchaus der Sieg einer der Kriegsparteien im Interesse der Ausgebeuteten und Unterdrückten ist.

In Bezug auf das Grundsatzpapier war dagegen der Dissens, ob es unseren Zusammenhang auf eine bestimmte Position zu dieser Frage festlegen sollte oder ob, wie wir es vertreten haben, divergierende Positionen zum Krieg zugelassen werden sollten.

Für einige stand daraufhin im Raum, dass wir als Gruppe möglicherweise aus dem Zusammenhang auszuschließen seien. Abgesehen davon, dass das für uns einfach schade gewesen wäre, hat uns die Leichtfertigkeit im Umgang mit Ausschluss und Spaltung irritiert. Das war für uns der Ausgangspunkt für diesen Text. Unser primäres Ziel war es also nicht, die Gegenseite von einer spezifischen Position zum Krieg zu überzeugen, sondern davon, dass unser Dissens kein Spaltungsgrund sein sollte.

Wir haben diesen Text für communaut nur geringfügig überarbeitet. An Stellen, an denen uns Kontext zu fehlen schien, haben wir Erläuterungen in Fußnoten ergänzt. Trotz des speziellen Entstehungskontextes können wir uns vorstellen, dass der Text für andere interessant sein kann: Einmal, weil in letzter Zeit ähnliche Spaltungsdiskussionen an verschiedenen Stellen innerhalb der Linken stattgefunden haben; außerdem aber, weil es uns über den spezifischen Dissens zum Krieg hinaus auch um Muster im Umgang mit Dissens in linken Zusammenhängen geht.

1. Kriterien der Zusammenarbeit

These 1: Ein Zusammenhang wie der unsrige1 braucht rote Linien als Kriterien dafür, welche Dissense intern zugelassen werden können und welche nicht, und welche Leute man dementsprechend zur Teilnahme einlädt. Aber nicht jeder Dissens berührt eine rote Linie. Ob es sich um solch einen Dissens handelt, sollten wir jeweils behutsam prüfen und anhand des Kriteriums entscheiden, ob er eine gemeinsame Arbeit mit gemeinsamen Zielen substanziell behindert.

Wir brauchen ein gemeinsames Grundsatzpapier, das rote Linien markiert, um reformistische, autoritäre, nationalistische, diskriminierende und sonst wie menschenfeindliche Positionen aus unserem Zusammenhang auszuschließen. Aber wir sollten nicht vorschnell und unnötig Leute ausschließen. Wir brauchen einander, unter anderem um perspektivisch auf internationaler Ebene Gegenmacht aufbauen zu können. Dafür sollten wir so viel Raum für Dissens lassen wie möglich. Dissens können wir zulassen, soweit er nicht Ausdruck eines Mangels an geteilten Zielen ist und wenn er eine Zusammenarbeit für die geteilten Ziele nicht substanziell behindert. Ob letzteres zutrifft, sollten wir in Fällen von Dissens in Ruhe prüfen.

Für manche in unserem Zusammenhang scheint es eine rote Linie zu sein, wenn die Strategie des Revolutionären Defätismus2 nicht als Maßstab der Praxis in Bezug auf jeden Krieg unter kapitalistischen Verhältnissen3 anerkannt wird. Mit dieser Position setzen wir uns im Folgenden zuerst auseinander, bevor wir dann zu der Frage kommen, ob das Kriterium des „kleineren Übels“ eine Parteinahme rechtfertigen kann. Wir unterscheiden drei Varianten des Defätismus, für die wir hier vorweg schon einmal eine knappe Definition geben. Im Verlauf des Textes wird dann klarer werden, was wir jeweils genauer darunter verstehen.

  1. 1. Revolutionärer Defätismus im engen Sinne: eine Strategie zur Beendigung eines Krieges durch eine Revolution, die die kapitalistischen Verhältnisse überwindet.
  2. 2. Nichtrevolutionärer Antikriegs-Defätismus: eine Strategie zur Beendigung eines Krieges ohne Überwindung der kapitalistischen Verhältnisse.
  3. 3. Revolutionärer Defätismus im weiteren Sinne: eine langfristige Strategie, die darauf abzielt, die Voraussetzung für einen Revolutionären Defätismus im engen Sinne herzustellen und die eingebettet ist in eine breitere revolutionäre Strategie.

Für alle drei Varianten gilt: Wir behandeln Defätismus als Strategie zum Erreichen eines Ziels. Es handelt sich nicht um eine Einstellung. Reduziert man Defätismus auf eine Einstellung („Wir sind, im Gegensatz zu den anderen bekloppten Linken da draußen, gegen Krieg und für Internationalismus; wir sind das kleine Licht in der großen Dunkelheit!“4), dann wird es kitschig und politisch unproduktiv. Für uns misst sich die Behauptung, dass es sich bei einer Praxis um revolutionären oder kriegsbeendenden Defätismus handelt, daran, ob dargelegt werden kann, dass sie das Potenzial hat, uns dem definierten Ziel (Revolution oder Beendigung eines Kriegs) zumindest näherzubringen.

2. Revolutionärer Defätismus im engen Sinne

These 2: Die Ausrichtung der Praxis an der Strategie des Revolutionären Defätismus im engeren Sinne abzulehnen in Situationen, in denen diese Praxis erfolgversprechend wäre, ist inakzeptabel. Es handelt sich um eine rote Linie, denn aus der Ablehnung des Revolutionären Defätismus unter solchen Bedingungen spricht Nationalismus und ein Unwille, die kapitalistischen Verhältnisse zu überwinden.

Unter Revolutionärem Defätismus im engen Sinne verstehen wir eine Strategie, die darauf abzielt, einen Krieg durch eine Revolution zu beenden, indem große Teile der Bevölkerungen der involvierten Kriegsparteien – wahrscheinlich müssen auch entscheidende Teile der kämpfenden Soldat:innen dazugehören –, die Verteidigung ihrer jeweiligen „Vaterländer“ verweigern und stattdessen gemeinsam Staat und Kapital bekämpfen und die Produktionsmittel vergesellschaften. Die Revolution wäre dann sowohl das Mittel zur Beendigung des Krieges als auch das Mittel zur Herstellung einer herrschaftsfreien Gesellschaft.5 Wer in einer Situation, in der eine an dieser Strategie ausgerichtete Praxis erfolgversprechend ist, nicht daran teilnimmt, weil er oder sie stattdessen die „Verteidigung des Vaterlands“ fortführen will, ist politisch unser:e Gegner:in.

Eine Praxis dagegen, die so angelegt ist, dass sie die Niederlage oder Kapitulation einer der Kriegsparteien bewirkt, kann – auch wenn sie möglicherweise aufgrund anderer Erwägungen sinnvoll (s.u.) ist – nicht revolutionär sein6, denn eine Niederlage nur einer Seite impliziert den Sieg der anderen Seite, also das Fortbestehen kapitalistischer Verhältnisse. Das gilt unabhängig davon, ob die Niederlage, auf die die Praxis abzielt, die des eigenen oder die eines anderen Landes ist.

Für die Niederlage des eigenen Landes oder Blocks zu kämpfen, ist, wenn es sich dabei um eine allgemeine Maxime handelt und nicht um eine Entscheidung in einer bestimmten Situation, nicht nur nicht revolutionär, sondern auch nicht unbedingt internationalistisch: Kämpft die revolutionäre Bewegung auf dem einen Staatsgebiet für die Niederlage ihres Staates, die revolutionäre Bewegung auf dem Staatsgebiet der anderen Kriegspartei ebenfalls für die Niederlage ihres eigenen Staates, ohne dass zugleich koordiniert die Überwindung des Kapitalismus in Angriff genommen wird, dann wird wahrscheinlich eine der Kriegsparteien gewinnen und damit das globale Kapitalverhältnis. Revolutionärer Defätismus erfordert eine internationale und revolutionäre Strategie, ein koordiniertes Vorgehen mit dem Ziel nicht nur der Niederlage des einen oder eigenen Staates, sondern die Niederlage aller oder zumindest vieler Staaten.

These 3: Die Möglichkeit der Durchführung des Revolutionären Defätismus im engen Sinne hat Voraussetzungen, die aktuell nicht gegeben sind.

Revolutionärer Defätismus im engen Sinne hat nur dann eine echte Perspektive, wenn es erstens eine breite Unterstützung des revolutionären Ziels gibt; wenn zweitens diese Unterstützung dort gegeben ist, wo sie erforderlich ist – neben für die gesellschaftliche Reproduktion essentiellen Bereichen der Produktion kann das beispielsweise auch das Militär sein; wenn drittens im regionalen, nationalen und internationalen Maßstab die organisatorischen Voraussetzungen gegeben sind, die für ein koordiniertes Vorgehen nötig sind. Nichts davon haben wir zurzeit. Es gibt etwa in den am Krieg in der Ukraine beteiligten Ländern nicht die kritische Masse an Leuten, die gewillt und aufgrund ihrer Verteilung und ihres Organisationsgrads fähig sind, das globale Kapital oder einen relevanten Teil davon zu entmachten.

These 4: Unsere Aufgabe ist es, gemeinsam daran zu mitzuarbeiten, dass die Voraussetzungen für Revolutionären Defätismus entstehen.

Wenn wir den Kriegen, die die bestehenden Verhältnisse hervorbringen, nicht ohnmächtig gegenüberstehen wollen, dann müssen wir dabei helfen, revolutionäre Bewegungen aufzubauen, sie unterstützen, an ihnen teilnehmen und zwischen ihnen eine koordinierte Praxis etablieren.

3. Nichtrevolutionärer Antikriegs-Defätismus

These 5: Die Möglichkeit der Durchführung eines Defätismus, der sich mangels revolutionärer Bewegung auf das Ziel der Beendigung eine Krieges beschränkt, also einer Beendigung des Krieges ohne das Mittel und das Ziel der Revolution, hat ebenfalls Voraussetzungen, die aktuell nicht gegeben sind.

Genoss:innen von der bulgarischen Gruppe Konflikt haben einen Text mit dem Titel „Revolutionary Defeatism Today“7, verfasst, in dem sie zu zeigen beanspruchen, dass ein Revolutionärer Defätismus heute möglich und geboten ist. Allerdings beschränken sie das Ziel des Defätismus, für den sie argumentieren, auf die Beendigung des Krieges. Revolution als Ziel taucht trotz der Verwendung des Ausdrucks „Revolutionärer Defätismus“ in dem Text nicht auf. Auch Konflikt sehen, dass es derzeit keine revolutionäre Bewegung gibt, die einen revolutionären Defätismus tragen wollte oder könnte.8Weil Konflikt den Defätismus, für den sie argumentieren, auf eine Beendigung des Kriegs beschränken, nennen wir diese Form des Defätismus Nichtrevolutionären Antikriegs-Defätismus.

Wenn schon die Bedingungen für eine Revolution nicht gegeben sind, dann wäre es gut, wenigstens schlagkräftig für die Beendigung eines Kriegs kämpfen zu können. Aber wir denken, dass es wesentlich mehr dafür brauchen würde, als das, was Konflikt in ihrem Text beschreiben.

Als Mittel einer defätistischen Antikriegspraxis nennen Konflikt eine Kombination von ökonomischem und politischem Klassenkampf, der gleichzeitig auf allen Seiten der Kriegsparteien stattfindet:

“Sich verschärfender Klassenkampf könnte die kriegsführenden Parteien an den Verhandlungstisch zwingen. Wenn sich Arbeiter:innen im Westen weigern, die Kriegskosten zu tragen, und Arbeiter:innen in der Kriegszone sich dem Kämpfen und Sterben verweigern, dann könnten sich die rivalisierenden Imperialismen gezwungen fühlen, sich um eine Ende des Schlachtens zu bemühen.”9

Als Idee finden wir das einleuchtend, wenn man sie noch ein bisschen erweitert – am Beispiel des Kriegs in der Ukraine: Wenn Arbeiter:innen in all jenen Staaten, die über Waffenlieferungen beteiligt sind, einerseits konsequent die Rüstungsindustrie bestreiken, andererseits die Regierung durch massive, unnachgiebige Streiks im öffentlichen Dienst und überhaupt überall unter Druck setzen; wenn in Russland dasselbe passieren und zusätzlich Boykotte von Waffentransporten und organisiertes breites Desertieren stattfinden würde; wenn, vor diesem Hintergrund, auch in der Ukraine eine relevante Zahl beginnen würde, den Dienst an der Waffe zu verweigern: Dann könnten die koordinierten Aktionen das Potenzial haben, den Krieg zu beenden.

Nun sieht es leider so aus, dass es eine derartige militante Friedensbewegung, die den Nichtrevolutionären Antikriegsdefätismus tatsächlich durchführen könnte, zurzeit genauso wenig gibt wie eine revolutionäre Bewegung für den Revolutionären Defätismus. Das ist ärgerlich, aber es lässt sich nicht wegdiskutieren, indem man, wie Konflikt in ihrem Text, vereinzelte Streiks oder Streikwellen einfach als Defätismus oder zumindest als dessen Keim deutet:

Erstens können Staaten, zumal diejenigen, die nur über Waffenlieferungen beteiligt sind, ein paar Streiks und auch ein paar mehr sehr gut verkraften.10 So schnell wird die militärische Unterstützung einer Kriegspartei nicht aufgegeben. Die politischen Interessen, um die es geht, haben größeres Gewicht als ein paar Profiteinbrüche hier und da. Es muss eine komplett andere Größenordnung erreicht werden, damit es sich bei der Interpretation von Streiks als Auftakt zum Defätismus um mehr handelt als eine Projektion unserer Wünsche und Fantasien.

Zweitens würde es strategisches Streiken und internationale Koordination brauchen. Wenn irgendwo isoliert die Rüstungsindustrie bestreikt wird und dies tatsächlich einen spürbaren Effekt auf den Kriegsverlauf haben sollte, und wenn dieser Effekt zunächst die militärische Schwäche einer Kriegspartei ist, dann kann das ganz verschiedene Folgen haben, zum Beispiel:

  • - Die aktuell schwächere Seite wird weiter geschwächt, was einen Prozess hin zur Kapitulation dieser Seite begünstigen kann.
  • - Die aktuell stärkere Seite wird geschwächt, ein Gleichgewicht stellt sich her und die infrage stehenden Streiks haben zur Verlängerung des Krieges beigetragen.
  • - Eine Seite wird geschwächt, aber, weil es die Flugabwehr betrifft, geht es zulasten der Zivilist:innen.

Dasselbe gilt, wenn es nicht speziell um Streiks in der Rüstungsindustrie geht, sondern um allgemeinere Streikwellen, mit denen es gelingt, die Bereitschaft einer Regierung zu Waffenlieferungen zu beeinflussen.

So sehr wir Streiks begrüßen: Lasst uns nicht auf jeden Streik, der zu Kriegszeiten stattfindet, Defätismus projizieren; wir sollten uns bewusst sein, dass Defätismus Koordination erfordert; dass voneinander isolierte Aktionen allerhöchstens zufällig zum (intendierten oder von uns Linken projizierten) Ziel führen können.

Versteht man unter Defätismus nicht bloß eine Haltung, sondern eine Strategie zum Erreichen eines Ziels, dann muss man sich Rechenschaft darüber ablegen, was ein Streik, auf den man zeigt, mit der Beendigung des Kriegs tatsächlich zu tun hat. Bei dem Text von Konflikt und auch bei anderen, die diesen Zusammenhang behaupten, haben wir den Eindruck, dass diese Verbindung nur subjektiv, in der Fantasie hergestellt wird; dass es keinen ernsthaften Versuch gibt zu überlegen: Was genau müssten wir denn tun, was wären denn tatsächlich die Bedingungen dafür, dass wir auf eine Beendigung des Kriegs effektiv hinwirken könnten?

4. Revolutionärer Defätismus im weiteren Sinne

These 6: Revolutionären Defätismus seriös zu verfolgen und nicht bloß rhetorisch, erfordert erstens anzuerkennen, dass es sich dabei in Bezug auf zurzeit stattfindende Kriege bloß um Floskeln handeln kann und dass wir in Bezug auf diese Kriege und ihren Verlauf zurzeit ohnmächtig sind; zweitens zu bestimmen, was die Bedingungen dafür sind, dass Revolutionärer Defätismus möglich wird; und drittens, langfristig an der Herstellung dieser Bedingungen zu arbeiten.

Eine Praxis, die an den Bedingungen des revolutionären Defätismus arbeitet, nennen wir „Revolutionären Defätismus im weiteren Sinne“.

Auch diejenigen aus unserem Kreis, die eine fehlende Zustimmung zum Revolutionären Defätismus im Hier und Jetzt zu einem Ausschlusskriterium machen wollen, glauben so wenig wie wir, dass er zurzeit möglich ist. Folgende Stellen aus Forever Wars vom Old Moles Collectives illustrieren, wie die Überzeugung, dass der Revolutionäre Defätismus zurzeit nicht umsetzbar ist, mit dem Einfordern eines Bekenntnisses dazu im Hier und Jetzt zusammengeht:

„Lasst uns ehrlich sein. Wir wissen ja auch, dass das Weltproletariat heute völlig außerstande ist, sich über die Gräben in der Ukaine oder die Zerstörungen im Gazastreifen oder – von Seattle bis Shanghai – über den Pazifik hinweg zu vereinen, geschweige denn einen Ausweg aus einem Kapitalismus zu eröffnen, der in einem Chaos aus Kriegen und Klimazerstörung versinkt. Wer das nicht anerkennt, ist unheilbarer Fantast.“

Gleichwohl könne man in dieser Situation als revolutionärer Defätist handeln:

„Wir können nur wiederholen, dass Arbeiter:innen kein Interesse an diesen Kriegen haben; dass eine andere Gesellschaft, ohne Klassenausbeutung und ethnonationale Rivalitäten, nicht nur möglich, sondern notwendig ist.

Wir können nur all diejenigen unterstützen, die mutig die verbrüdernde Hand zwischen Russ:innen und Ukrainer:innen, zwischen jüdischen und arabischen Menschen ausstrecken. Wir können uns nur für diejenigen starkmachen, die desertieren und vor den Kämpfen fliehen, denn das ist heute die einzige mögliche proletarische Reaktion.

Wir können nur Leuchtturm sein.“11

Diesen Vorschlägen für eine Praxis stimmen wir tendenziell zu, aber das ist viel zu wenig; und wir würden die Betonung nicht so sehr aufs Sagen und Scheinen legen, als darauf, dass wir die Orte finden oder aufbauen müssen, an denen die Äußerung unserer Überzeugungen irgendeinen Einfluss hat; und dass wir helfen, die realen Machtverhältnisse zu ändern, dass wir internationale Netzwerke etablieren, die in der Lage sind, Widerstand zu koordinieren – sei es zwecks nichtrevolutionärer Beendigung eines Kriegs, sei es zwecks Überwindung der bestehenden Verhältnisse.

Uns scheint die Praxis des Sagens und Scheinens mehr darauf hinauszulaufen, dass man Statements verfasst, die keiner ließt, und dann bei jedem Dissens bereit zur Spaltung ist, während die Praxis des langfristigen Aufbaus darauf zielt, gemeinsam daran zu arbeiten, mehr Leute für einen internationalistischen, antiautoritären Antikapitalismus zu gewinnen und Strukturen aufzubauen, die helfen, Handlungsmacht zu entwickeln und mit diesen Zielen im Auge mehr Dissens auszuhalten.

5. Kleinere und größere Übel

Linksradikale sind sich im Allgemeinen einig in ihrer grundsätzlichen Ablehnung des bürgerlichen Staates. Gleichwohl gibt es in verschiedenen Strömungen eine Solidarisierung mit bestimmten Staaten oder Staatsprojekten – beispielsweise die Unterstützung eines unabhängigen palästinensischen Staates (sei es im Rahmen einer Ein- oder Zweistaatenlösung). Ähnlich schlagen sich Linke mitunter bei einem Krieg auf die Seite einer der Kriegsparteien. In der Ukraine beispielsweise beteiligen sich Anarchist:innen gezielt militärisch an der Verteidigung gegen Russland mit dem Ziel des Erhalts einer von Russland unabhängigen Ukraine. Trotz grundsätzlicher Ablehnung des bürgerlichen Staates verteidigen sie einen bestimmten, weil sie der Auffassung sind, dass es sich dabei um ein kleineres Übel handelt in nichtrevolutionären Zeiten.

Viele in unserem Zusammenhang lehnen diese Auffassung strikt ab: Weil der Staat immer der Staat des Kapitals ist und die Arbeiter:innenklasse kein „Vaterland“ hat, sondern nur als globale existiert, könnte die Verteidigung eines Staates beziehungsweise seiner Unabhängigkeit niemals etwas anderes sein als die Verteidigung der Bourgeoisie dieses Staates und als Verrat an der globalen Arbeiter:innenklasse. Entsprechend gilt jede Unterstützung eines Staates oder eines staatlichen Vorhabens als konterrevolutionär und als zu bekämpfen. Und für einige unter uns bedeutet das, dass man mit Leuten nicht zusammenarbeiten kann, die glauben, dass es größere und kleinere Übel geben kann, die eine Unterstützung oder ein Bündnis mit einem Staat rechtfertigen.

So richtig es ist, dass der Staat der Staat des Kapitals ist und dass es die Arbeiter:innenklasse nur als globale gibt, so sehr haben wir weder Lebens- noch Kampfbedingungen außerhalb von Staaten. Stimmt es also, dass Anarchist:innen in der Ukraine, wenn sie es für richtig befinden, bei der Verteidigung gegen die russische Armee mitzuarbeiten, damit (ausschließlich) den ukrainischen Staat und folglich die ukrainische Bourgeoisie verteidigen? Oder verteidigen sie (zumindest auch), wie sie selbst es behaupten, die politischen Freiheiten ihrer eigenen Klasse, die sie, wenn Russland Teile der Ukraine oder die Ukraine komplett besetzten würde, ihrer Erwartung nach zumindest teilweise einbüßen würden?

These 7: Es gibt unter kapitalistischen Produktionsverhältnissen verschiedene Ausprägungen der gesellschaftlichen Bedingungen, die für die Arbeiter:innen massive Unterschiede machen können. Sie wirken sich aus sowohl hinsichtlich der Lebensbedingungen und Entfaltungsmöglichkeiten von uns Individuen, die im Hier und Jetzt ihr Leben leben, als auch hinsichtlich unserer Möglichkeiten, Widerstand zu leisten und auf eine revolutionäre Überwindung der Verhältnisse hinzuarbeiten. Diese Unterschiede zu leugnen, halten wir mit Blick auf unser Leben für zynisch und mit Blick auf unsere politischen Ziele zudem für dysfunktional.

Wir sind überzeugt, dass es zwischenstaatliche Kriege geben kann, bei denen der Sieg einer der Kriegsparteien ein schlimmeres Übel verhindert oder überwindet. Wir sprechen weder davon, ob es unterstützenswert sein kann, einen Krieg zu beginnen, noch behaupten wir, dass es in jedem Krieg eine unterstützenswerte Seite gibt.

Aber der Zweite Weltkrieg war ein solcher Fall: Der Sieg der Alliierten war wünschenswerter als ein Sieg Deutschlands. Deutschland musste gestoppt werden und die Konzentrationslager mussten befreit werden.12 Es gab keine Partisanen, die dazu in der Lage gewesen wären.

Ernstzunehmende Einwände gegen ein antifaschistisches Bündnis im Zweiten Weltkrieg sind uns nicht bekannt. Erstens scheinen sie immer ohne die Erwähnung des Holocaust auszukommen13; zweitens behaupten oder implizieren sie, dass es der Antifaschismus war, der die Arbeiter:innenbewegung zerstört habe, was nicht zutrifft. (Zur Erinnerung: In keinem Fall, in dem eine Arbeiter:innenbewegung in der Lage und willens wäre, den Krieg zu beenden, würden wir eine Kriegspartei unterstützen).14

Um auf das Zitat vom Beginn dieses Abschnitts zurückzukommen: Wenn man eine Kriegspartei unterstützt, ohne deren Kriegsziele zu teilen, weil es das kleinere Übel ist, läuft man immer auch Gefahr, jene Kriegsziele trotzdem mit zu befördern. Eine Unterstützung der Alliierten im Zweiten Weltkrieg beispielsweise förderte nicht nur die Niederlage Deutschlands, sondern, ob intendiert oder nicht, auch die imperialistischen Anliegen der Alliierten. Nicht notwendigerweise impliziert das aber, dass die Unterstützung einer Seite ein „Verrat“ an der globalen Arbeiter:innenklasse ist – nämlich dann nicht, wenn der Sieg der anderen Partei schädlicher für sie wäre. Es ist eine Frage der Beurteilung der konkreten empirischen Umstände.

Aber wir müssen uns über diesen Punkt nicht (sofort) einig werden:

These 8: Der in diesem Abschnitt („Kleinere und größere Übel“) angesprochene Dissens ist diesseits unserer roten Linien zu verorten. Beide Seiten des Dissens sind sich einig, dass sie die bestehenden Verhältnisse überwinden wollen und dass sie auf dem Weg dahin eine revolutionäre Arbeiter:innenklasse und keine Staaten und keine Bourgeoisie unterstützen wollen. Uneinig sind wir uns bei der Anwendung der Prinzipien. Wir sollten das aushalten und einen produktiven Umgang damit finden können.

Solch einen Dissens auszuhalten, ist schwierig, insbesondere wenn er in die Praxis hineinragt. Gäbe es in unserem Zusammenhang beispielsweise eine ukrainische Gruppe, die sich an der militärischen Verteidigung beteiligt, und eine andere Gruppe, die an einem Boykott von Waffenlieferungen in die Ukraine arbeitet, dann würde das Aushalten von Dissens zur Zerreißprobe. Aber selbst dann kann eine wechselseitige Verurteilung keine sinnvolle Antwort sein.

Wir brauchen das Bewusstsein, dass es die Verhältnisse, in denen wir uns bewegen, sind, die die Widersprüche produzieren, die auch zu unterschiedlichen Einschätzungen unter uns führen. Mit jedem vorschnellen Ausschluss und jeder vorschnellen Spaltung kapitulieren wir vor diesen Verhältnissen. Es ist nicht zufällig, dass wir zu unterschiedlichen Positionen gelangen. Mit diesem Wissen können wir das Verurteilen eines Gegenübers, mit dem wir das Ziel einer antiautoritären Überwindung der kapitalistischen Verhältnisse teilen, vielleicht zumindest abbremsen.

6. Schwierigkeiten der Urteilsfindung

These 9: In Zeiten, in denen wir einen revolutionären Defätismus nur indirekt, durch langfristig angelegte Aufbauarbeit verfolgen können, bleiben uns nur diese zwei Maßstäbe, anhand derer wir bewerten können, ob eine Praxis im Kontext eines aktuellen Krieges sinnvoll ist: 1) dass sie dazu beiträgt, so viel Leid und Barbarei wie möglich zu vermeiden; 2) dass sie dazu beiträgt, dass sich die Bedingungen einer Revolution oder zunächst des Entstehens oder Ausbaus einer revolutionären Bewegung nicht verschlechtern oder vielleicht gar verbessern.

In Bezug auf die meisten der in Texten aus unserem Zusammenhang vorgeschlagen konkreteren Praxisformen scheint es uns einen großen Konsens zu geben. Auch wir befürworten – neben der leider ins Leere gehenden Forderung an die russische Regierung, den Krieg sofort einzustellen – die Unterstützung aller, die desertieren, aller, die solidarische Basisarbeit vor Ort machen, aller, die gegen Nationalismus agitieren, aller Ukrainer:innen und Russ:innen, die sich gegen den Krieg zusammentun – wobei wir solche Praxiselemente primär als Teil einer langfristigen Aufbauarbeit im Sinne eines Revolutionären Defätismus im weiteren Sinne sehen.

Skeptisch sind wir aber gegenüber solchen Praxisformen, die von der Überzeugung getragen sind, dass man in irgendeiner Weise auf eine Kapitulation der Ukraine hinwirken sollte.15 Die dafür eingeforderten Maßnahmen variieren. Manche sehen es als aktuell wichtigste Aufgabe an, dem entgegenzutreten, was sie Kriegspropaganda nennen und womit sie einen Diskurs meinen, der Waffenlieferungen an die Ukraine rechtfertigt.16Andere halten es zusätzlich für geboten, auch in die Ukraine hineinzuwirken, etwa durch Kritik an Anarchist:innen, die sich an den Kämpfen beteiligen.17

Wir lassen es dahingestellt, ob solche Arten der Praxis erfolgversprechend sind bzw. ob sie Priorität haben. Uns geht es im Folgenden darum zu beschreiben, wie wir daran gescheitert sind, uns anhand der beiden in These 9 formulieren Maßstäbe – Beschränkung von Leid und Beschränkung der Verschlechterung der Bedingungen einer Revolution oder gar ihrer Verbesserung – überhaupt eine Meinung dazu zu bilden, ob eine Praxis, die auf die Kapitulation der Ukraine abzielt, sinnvoll wäre (wäre sie uns denn effektiv möglich).

Um so viel Leid wie möglich zu vermeiden, scheint eine Kapitulation geboten zu sein. Jeder Tag, an dem der Krieg fortdauert, bringt unsagbares neues Leid hervor. Allerdings kann man eine Kapitulation nicht einfach mit dem Ende des Krieges gleichsetzen. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass nach einer Besetzung der Ukraine oder von Teilen der Ukraine nicht Frieden, sondern ein langanhaltender Bürgerkrieg folgen würde. Deshalb ist für uns nicht klar, was eigentlich das brutalere Outcome wäre.

Soweit tendieren wir trotzdem dazu, dass ein Hinwirken auf eine Kapitulation (hätte man die Möglichkeit), eher das richtige wäre, einfach nur aus dem Grund, weil der Krieg jetzt wütet und die Frage nach dem Bürgerkrieg spekulativ ist. Aber mit voller Überzeugung können wir uns nicht hinter diese Schlussfolgerung stellen.

Was den zweiten Maßstab angeht, scheint die Beurteilung zunächst etwas leichter zu sein, ist aber dann doch ohne eindeutiges Ergebnis. Es ist erstmal klar, dass eine Kapitulation die Folge hätte, dass die Ukraine oder Teile der Ukraine in irgendeiner Form, direkt oder indirekt, unter russisches Herrschaftsgebiet fallen würden – wenn auch für uns nicht abzusehen ist, in welchem Maße und welche Teile der Ukraine damit demselben Grad von Autoritarismus ausgesetzt würden, der in Russland herrscht. Aber jeder Schritt in die Richtung dieses Autoritarismus ist, was die Bedingungen für die Entwicklung einer revolutionären Bewegung angeht, schlimm. Wenn auf Protest Gefängnis steht, wenn es massive negative Folgen für den eigenen Lebensweg gibt, wenn man sich in Schule, Uni oder Arbeitsplatz kritisch äußert, dann ist das denkbar ungünstig. Nicht nur sind das schlechte Bedingung für die Entwicklung einer revolutionären Bewegung, es sind auch besonders günstige Bedingungen für Kriege. Es ist sehr fraglich, ob die russische Regierung in der Lage wäre, den aktuellen Krieg zu führen, wenn anderes als Desinformation über den Krieg allgemein und leicht zugänglich wäre und wenn Protest erlaubt wäre. Solche kriegsfreundlichen Bedingungen würden mit einer Kapitulation mehr oder weniger in die Ukraine getragen werden.

Aber, wie gesagt, in welchem Maße solche Verhältnisse in der Ukraine und in wie vielen Teilen etabliert würden, wissen wir nicht. Zudem verschlechtert Krieg an und für sich die Bedingungen für Emanzipation, durch die Brutalisierung der Gesellschaft, die er mit sich bringt. Allerdings gilt das auch für einen möglichen Bürgerkrieg; der allerdings, wie gesagt, nur spekulativ, wenn auch nicht gerade unwahrscheinlich ist …

Würde der Kreml nach einem so riesigen Erfolg, wie es die Kapitulation der Ukraine wäre, zur Planung des nächsten Kriegs zwecks Annexion übergehen? Diese Vermutung wird in unseren Kreisen üblicherweise als bloße bürgerliche Kriegspropaganda abgetan. Das leuchtet uns nicht ein. Wir sehen nicht, warum nach einem Erfolg in der Ukraine der Kreml sich damit zufrieden geben sollte, und wir halten es für eher wahrscheinlich, dass er, wenn er Mittel und Wege sieht, beispielsweise Georgien zu annektieren, das auch versuchen wird. Aber auch das bleibt wieder Spekulation. Welches Gewicht kann man dem geben, angesichts des jetzt wütenden Krieges? Aber ist es anderseits nicht leichtfertig, mögliche und nicht ganz unwahrscheinliche Konsequenzen, die so gewichtig sind wie ein nächster Krieg, außer Acht zu lassen?

Also wir können die Frage, ob eine Kapitulation der Ukraine wünschenswert ist, nicht entscheiden, und wir sind auch irritiert darüber, wie alle um uns herum eine so eindeutige und so starke Meinung dazu haben können, bei solch einer Gemengelage.

Für uns bedeutet das aber gleichzeitig: Leute, die in dieser schwierigen Frage auf der einen oder auf der anderen Seite landen, wollen wir nicht schon deshalb aus unseren politischen Zusammenhängen ausschließen, und schon gar nicht sind sie deshalb unsere politische Gegner:innen. Wir landen ja selbst manchmal auf der einen, manchmal auf der anderen Seite – wenn auch meistens auf keiner. Vor dem Hintergrund des Internationalismus, des Humanismus (so wenig Leid wie möglich) und des Ziels der Revolution kann man zu dem Schluss kommen, dass der Krieg sofort zu stoppen ist, egal was die politischen Konsequenzen für die Ukraine sind, oder zu dem Schluss, dass die Ukraine sofort viel massiver als bisher militärisch gestärkt werden muss, um den Krieg so schnell wie möglich gewinnen zu können.

Wenn die eine Seite die andere als Kriegstreiber:innen beschimpft, die andere die eine als Putinfreunde, dann denken wir: Warum zur Hölle? Stop it! Es reicht ja schon, nur die Bewertungsmaßstäbe etwas unterschiedlich zu gewichten oder in der empirischen Analyse zu einem etwas anderen Ergebnis zu kommen (beispielsweise zur Wahrscheinlichkeit und zu Ausmaß eines Bürgerkriegs bei jetziger Kapitulation), und schon wird man in solch einem Debattenmodus zum politischen Feind. Das ergibt keinen Sinn. Also:

These 10: Ein Dissens in Bezug auf den Ukrainekrieg muss nicht Ausdruck unterschiedlicher politischer Grundsätze sein.

7. Zusammenarbeit in widersprüchlichen Verhältnissen

Ein Konsens zu Internationalismus, die Überzeugung, dass die Arbeiter:innenklasse nur als globale existiert und als solche kämpfen muss, sollte bei uns weiterhin unhintergehbar sein. Aber ein Grundsatzpapier, das rote Linien bestimmt, sollte, wie wir finden, nicht ausschließen, dass es einen Raum für den Streit darüber gibt, wie denn in einem gegebenen Kontext, unter gegebenen Bedingungen, ein gehaltvoller Internationalismus aussehen kann. Wir denken, dass es vor allem an der Natur der gesellschaftlichen Konflikte, über die wir streiten, liegt, dass wir, trotz gemeinsamer Ziele und zumindest ähnlicher Gesellschaftsanalyse, immer wieder zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Diese Einsicht in die gesellschaftliche Bedingtheit der Schwierigkeit von Konsens in einer Reihe von Fragen kann vielleicht dabei helfen, dass wir uns im Fall von Dissens nicht gleich wechselseitig wahlweise Dummheit oder Boshaftigkeit unterstellen.

  • 1. Gemeint ist der in der Vorbemerkung angesprochene Zusammenhang von Kommunist:innen und Anarchist:innen, an den dieses Papier ursprünglich adressiert war.
  • 2. Das Konzept des Revolutionären Defätismus entstand während des Ersten Weltkriegs und geht unter anderem auf Lenin zurück. Während des Ersten Weltkrieges argumentierte Lenin, dass die Sozialdemokrat:innen aus allen beteiligten Staaten, insbesondere unter den Soldaten ihrer Länder, dafür agitieren sollten, die Verteidigung „ihrer“ Staaten aufzugeben und den Krieg zwischen den Staaten in einen Bürgerkrieg gegen alle beteiligten Regierungen umzuwandeln, um diese Regierungen und das Kapital zu entmachten.
  • 3. Teils wird das Anlegen dieses Maßstabs auf die Phase seit Durchsetzung des Imperialismus im Sinne von Lenin beschränkt. Vgl. z.B. Angry Workers: „Thoughts on Revolutionary Defeatism“ (18.04.2023), https://www.angryworkers.org/2023/04/18/thoughts-on-revolutionary-defea…. Lenin selbst – und darin stimmen wir ihm, wie man im Folgenden sehen wird, zu – fasst die Anwendbarkeit des Konzept aber noch enger: Er beschränkt es auf Kriege, die in einer objektiv revolutionären Situation stattfinden und auf Situationen, in denen eine internationale Arbeiter:innenbewegung stark genug ist, es in koordinierter Weise mit dem globalen Kapital und den Staaten aufzunehmen. Vgl. Wladimir Iljitsch Lenin: „Sozialismus und Krieg (Herbst 1915)“, in: W.I. Lenin – Werke 21: August 1914 – Dezember 1915, hg. v. Institut für Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee der SED, Berlin 1960, S. 295-341, https://leninverteidigen.wordpress.com/wp-content/uploads/2014/11/lw21…, 314 f.
  • 4. Die Metapher vom „Licht in der Dunkelheit“ ist eine Anspielung auf die Formulierung des Old Moles Collectives (s.u., Abschnitt 4).
  • 5. Vielleicht ist es etwas verblüffend, dass wir dieses zurzeit so abwegige Szenario überhaupt einbeziehen. Der Hintergrund ist der, dass in dem politischen Kontext, für den wir den Text geschrieben haben, Uneinigkeit herrscht, ob das Konzept des Revolutionären Defätismus über dieses Szenario hinaus praktische Relevanz haben kann. Um das zu diskutieren, führen wir das Szenario hier an.
  • 6. Das gilt nur unter der Prämisse, dass wir über kapitalistische Verhältnisse reden und dass es sich bei allen Kriegsparteien um kapitalistische Staaten handelt. Anders würde es aussehen, wenn etwa ein kommunistischer oder sozialistischer oder anarchistischer Block in einem außerhalb dieses Blocks stattfindenden Bürgerkrieg eine emanzipatorische Seite unterstützte.
  • 7. Devrim Valerian (Konflikt), „Revolutionary Defeatism Today: A defense of the principle in light of the present conflict“, in: Insurgent Notes 25 (Dezember 2022), S. 60–62, http://insurgentnotes.com/wp-content/uploads/2023/03/January-2023-Speci….
  • 8. „Trotzdem müssen wir realistisch anerkennen, in welcher Situation wir uns befinden. Die Arbeiter:innenklasse ist schwach, nicht nur in Russland und in der Ukraine, sondern international. […] Sind wir völlig realitätsfern, wenn wir heute von Revolution und Defätismus sprechen? Wir denken, nein. Nicht nur eine Revolution könnte den Krieg stoppen.“ (Ebd., S. 61) Darauf folgt der Vorschlag des (von ihnen nicht so genannten) nichtrevolutionären Antikriegs-Defätismus.
  • 9. Ebd.
  • 10. Wenn Lenin schreibt, dass zu Kriegszeiten jeder Klassenkampf „Schläge gegen die ‚eigene‘ Bourgeoisie und die ‚eigene‘ Regierung“ mit sich bringt, dann hatte er erstens aktiv kriegsführende Staaten vor Augen, nicht auch solche, die bloß Waffen liefern; zweitens will er an der Stelle nicht sagen (wie es von einigen in unseren Kreisen behauptet wird), dass in Kriegszeiten jeder Klassenkampf schon für sich Revolutionärer Defätismus ist; sondern er will zeigen, dass man, wenn man nicht die Niederlage des eigenen Landes zumindest in Kauf nimmt, in letzter Konsequenz bei einem Burgfrieden landen muss. Vgl. Wladimir Iljitsch Lenin: „Über die Niederlage der eigenen Regierung im imperialistischen Krieg (26. Juli 1915)“, in: W.I. Lenin – Werke 21: August 1914 – Dezember 1915, hg. v. Institut für Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee der SED, Berlin 1960, S. 273–279, https://leninverteidigen.wordpress.com/wp-content/uploads/2014/11/lw21…, 276 f.
  • 11. Old Moles Collective, The Forever War. Capitalism since 1914, im Selbstverlag, 2024, S. 19 f.
  • 12. Klar, das war nicht das Motiv der beteiligten Staaten für den Kriegseintritt. Aber das Unterstützen einer Kriegspartei bzw. ein Bündnis mit ihr ist nicht dasselbe wie die Unterstützung ihrer Kriegsziele – dazu s.u.
  • 13. Siehe zum Beispiel „Manifesto of the Communist Left to the Proletarians of Europe“, in: Bulletin international de discussion de la Gauche Communiste Italienne 6 (Juni 1944). https://libcom.org/library/manifesto-communist-left-proletarians-europe….
  • 14. Dabei ist klar, dass ein Bündnis mit imperialistischen Mächten ein Kontrakt mit dem Teufel ist; dass man sich dabei in Widersprüchen bewegt und immer mit Blick auf die konkreten Zwänge, die man sich mit solch eine Bündnis auferlegt, abwägen muss, ob es sich tatsächlich um die richtige Entscheidung handelt. Ein Beispiel, bei der uns diese Abwägung richtig ausgefallen zu sein scheint, ist das temporäre Bündnis zwischen Rojava und den USA im Zuge des Bürgerkrieges in Syrien, das es Rojava erlaubt hat, den Islamischen Staat zurückzuschlagen.
  • 15. Manche Leser:innen dieses Textes waren irritiert davon, dass wir hier die Kapitulation als Forderung innerhalb linker Antikriegspraxis anführen. Der Grund ist einfach, dass es und bei den aktuellen Kräfteverhältnissen offensichtlich zu sein scheint, dass jede Forderung nach sofortigem Frieden dasselbe ist, wie die Forderung nach einer Kapitulation der Ukraine (es sei denn, die Forderung, den Krieg zu beenden, richtet sich an Russland).
  • 16. „Unter den jetzigen Umständen müssen wir in Deutschland allerdings zunächst die Kriegspropaganda bekämpfen. Gleichzeitig muss für einen antimilitaristischen Konsens innerhalb der Linken gestritten werden, bevor Streiks und Blockaden überhaupt denkbar sind.“ Vgl. Aaron Eckstein & Ruth Jackson: „Don’t walk in line!“ (30.04.2023), https://communaut.org/de/dont-walk-line.
  • 17. Angry Workers: „Thoughts on Revolutionary Defeatism“ (18.04.2023), https://www.angryworkers.org/2023/04/18/thoughts-on-revolutionary-defea….