Geschichte ohne Ambivalenz: Replik auf Thomas Ernests Kritik an Ivan Segré

29. Oktober 2025

In seiner Kritik an Ivan Segrés angeblicher These eines multikulturellen Zionismus verzerrt Thomas Ernest nicht nur was Segré tatsächlich geschrieben hat, sondern zugleich die gesamte Geschichte des Zionismus. Eine kritische Antwort von Lukas Egger.

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Thomas Ernest stößt sich in einem kürzlich auf diesem Blog veröffentlichten Leserbrief an einer Aussage, die Ivan Segré in einer zuvor auf communaut publizierten Kritik am israelischen Historiker Benny Morris getätigt hat. Die zugegebenermaßen optimistische, wenn nicht gar naive Einschätzung Segrés, wonach der Zionismus im heutigen Israel bereits faktisch „die Grundlagen für einen zukünftigen binationalen und multikulturellen Staat geschaffen“ habe, bezeichnet Ernest als „wahnhaft“. Ungeachtet der Frage, ob die Unterstellung von Wahnhaftigkeit (wenn auch nur „für wenige Sekunden“) einer Diskussion unter Kommunist:innen zuträglich ist, sind die historischen und politischen Einwände, die Ernest gegen Segrés These ausbreitet, durchwegs fragwürdig.

Ernest legt mit der Kritik los, dass „der schwächliche Multikulturalismus in Israel trotz und nicht wegen des Zionismus“ existiere und zugleich „durch den Zionismus ständig gefährdet statt auf ihm errichtet“ sei. Allerdings fragt man sich, ob damit wirklich etwas gegen Segrés Argument eingewandt wird. Dieser behauptet schließlich nicht, dass „der Zionismus“ – zu dieser homogenisierenden und simplifizierenden Redeweise später mehr – intentional eine binationale und multikulturelle Realität in Israel produziert hat. Segré sagt lediglich, dass er „de facto die Grundlagen für einen zukünftigen binationalen und multikulturellen Staat geschaffen“ habe (Hervorhebung von mir), indem er „Jüdinnen und Juden unterschiedlichster Herkunft – Jemen und Äthiopien, Russland und Frankreich, Argentinien und die Vereinigten Staaten“ zusammen mit palästinensischen Araber:innen im heutigen Israel zusammengebracht hat. Davon, dass dieses Resultat von den Zionist:innen gewünscht war, oder davon, dass der Prozess, der dazu führte, irgendwie besonders schön oder harmonisch verlaufen wäre, ist nicht die Rede. Deshalb läuft Ernests Kritik hier ins Leere.

Als nächstes stellt er eine Reihe an historischen Behauptungen auf. Hier will ich ihn etwas ausführlicher zitieren:

Meines Wissens ging der Zionismus seit seinen Anfängen davon aus, dass der Antisemitismus ewig sei und immer wieder dort entstehen muss, wo Juden leben. Deshalb sei Widerstand in den Ländern der Diaspora zwecklos und die Ansiedlung in einem ethnisch homogenen Judenstaat die einzige Lösung. Theodor Herzl schrieb über den Antisemitismus in ‚Der Judenstaat‘: ‚Die Judenfrage besteht überall, wo Juden in merklicher Zahl leben. Wo sie nicht ist, da wird sie durch hinwandernde Juden eingeschleppt. Wir ziehen natürlich dahin, wo man uns nicht verfolgt; durch unser Erscheinen entsteht dann die Verfolgung. Das ist wahr, muss wahr bleiben, überall, selbst in hochentwickelten Ländern.‘ Ähnliches lässt sich bei dem rechten Zionisten Zeev Jabotinsky nachlesen: ‚Wir kehren der Außenwelt den Rücken zu, so wie sie uns seit langem den Rücken zukehrt, und wir wenden uns einer nationalen jüdischen Innenpolitik zu‘.“

Ernest hat Recht, dass der frühe Zionismus bezüglich der „Judenfrage“ auf einem tiefen Pessimismus gegründet war, der ihr Verschwinden durch Aufklärung, Assimilation, Demokratie oder Sozialismus für unwahrscheinlich hielt. Angesichts der Realität, unter der jüdische Menschen in Europa (zwischen erstarkendem politischem Antisemitismus, zaristischen Pogromen, Dreyfus-Affäre usw. usf.) leben mussten, ist das wenig verwunderlich. Trotzdem ist die Aneinanderreihung der Aussagen von Theodor Herzl, dem wichtigsten politischen Zionisten, und Zeev Jabotinsky, dem Gründer des revisionistischen Zionismus, irreführend. Ernest verkürzt nämlich Herzls Aussage in seiner Zitation um ihre Pointe. Die besagte Stelle aus dem Judenstaat endet folgendermaßen: „Das ist wahr, muss wahr bleiben, überall, selbst in hochentwickelten Ländern – Beweis Frankreich – so lange die Judenfrage nicht politisch gelöst ist.“ (Hervorhebung von mir)1 An anderer Stelle im Judenstaat geht Herzl auch genauer auf die Gründe des Antisemitismus ein. Dabei hebt er hervor, dass der „heutige[] Antisemitismus […] nicht mit dem religiösen Judenhass früherer Zeiten verwechselt werden“ dürfe, da er heute andere Gründe habe:

In den Hauptländern des Antisemitismus“ verstand Herzl ihn als „eine Folge der Juden-Emancipation. Als die Culturvölker die Unmenschlichkeit der Ausnahmsgesetze einsahen und uns freiliessen, kam die Freilassung zu spät. Wir waren gesetzlich in unseren bisherigen Wohnsitzen nicht mehr emancipirbar. Wir hatten uns im Ghetto merkwürdigerweise zu einem Mittelstandsvolk entwickelt und kamen als eine fürchterliche Concurrenz für den Mittelstand heraus. So standen wir nach der Emancipation plötzlich im Ringe der Bourgeoisie und haben da einen doppelten Druck auszuhalten, von innen und von aussen.“

Ungeachtet der Frage, ob Herzls (eindeutig von seiner eigenen Klassenposition aus formuliertes) Antisemitismusverständnis korrekt ist, wird schnell deutlich, dass er – entgegen der Unterstellung von Ernest –, den Antisemitismus als ein modernes Phänomen mit sozialen Ursachen ansah. Diese identifiziert er in der verspäteten juristischen Gleichstellung der Jüdinnen und Juden in Kombination mit deren spezifischer Verortung in der Klassenhierarchie. Damit ist Herzls These aber gerade kein Beispiel für das, was schon Hannah Arendt als Idee vom ‚ewigen Antisemitismus‘ kritisiert hat. Die Bildung einer jüdischen Souveränität würde, wie Herzl es formuliert, im Gegenteil den Antisemitismus „für immer zum Stillstand“ bringen und auch den assimilierten Juden in der Diaspora zugutekommen. Wenn Ernest also schreibt, dass „der Zionismus“ davon ausgegangen sei, dass „Multikulturalismus […] den Antisemitismus stets neu entfachen“ würde, „da, so die zionistische Grundannahme, nur Juden mit Juden in Frieden leben können“, stimmt das für den wohl wichtigsten Zionisten schlicht und einfach nicht. Herzl erhoffte sich von einer nationalen Heimstätte für Jüdinnen und Juden in Argentinien oder Palästina auch die Verbesserung des Lebens jüdischer Menschen anderswo.

Für den ebenfalls herangezogenen Jabotinsky stimmen Ernests Charakterisierungen schon eher. (Wobei auch hier dessen Unterscheidung zwischen einem „Antisemitismus der Dinge“ und einem „der Menschen“ komplexer ist, aber sei’s drum.) Was sich daran aber gerade zeigt, ist die Diversität der frühen zionistischen Bewegungen, die es – trotz offensichtlich vorhandener Gemeinsamkeiten – schwierig macht, von „dem Zionismus“ zu schreiben, wenn es um Positionen zu Antisemitismus oder das Verhältnis zur Diaspora geht, die etwa zwischen politischem, kulturellem und revisionistischem Zionismus insgesamt (und auch unter einzelnen Zionist:innen innerhalb dieser Strömungen) weit auseinandergingen.

Wesentlich ärgerlicher als diese falsch homogenisierenden Auffassungen über den frühen Zionismus ist aber eine andere Aussage von Ernest:

Den Widerstand gegen den tödlichen Antisemitismus im Zarenreich organisierte deshalb der sozialistische ‚Bund‘, während die Zionisten, linke wie rechte, vom Kampf gegen den Antisemitismus und die ihn befördernden Verhältnisse absahen. Gleiches kann über den Widerstand gegen den Holocaust gesagt werden: Die zionistischen Kampfgruppen in den Ghettos und Wäldern formierten sich trotz und nicht aufgrund des Zionismus. Die Flucht ins Heilige Land, und nicht der gemeinsame sozialistische Kampf gegen Reaktion und Kapitalismus, also gegen die Ursprünge des Judenhasses, galt den Zionisten als einzige ‚Lösung‘ des Problems des Antisemitismus.“

Sowohl der Bund als auch Chibbat Zion, die erste (proto-)zionistische Organisation im zaristischen Russland, wurden erst als Reaktion auf die Pogrome der frühen 1880er Jahre gegründet. Trotz starker politischer Differenzen organisierten sich die Mitglieder des Bunds und die Zionist:innen in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts gemeinsam gegen die sie umgebende antisemitische Gewalt: Die ersten jüdischen Selbstverteidigungseinheiten wurden 1902 von Bundist:innen als auch Zionist:innen gegründet.2 In den gravierenden antisemitischen Wellen im Zuge der russischen Revolution – die keineswegs ausschließlich von der Konterrevolution ausgingen – und dem auf sie folgenden Bürgerkrieg waren es wiederum die Linkszionisten von Poalei Zion, die zusammen mit Bundist:innen und jüdischen Sozialrevolutionär:innen die unzureichende Reaktion der bolschewistischen Führung auf den um sich greifenden Antisemitismus anprangerten und die sich ihm bewaffnet entgegenstellten. Es waren dieselben Selbstverteidigungseinheiten, die mitunter von der Roten Garde entwaffnet wurden, da man ihnen vorwarf, sich schützend vor die Bourgeoisie zu stellen. In vereinzelten Fällen im Jahr 1918 partizipierten bolschewistische Einheiten sogar direkt an antisemitischen Pogromen.3 Gleichzeitig lag der von Ernest gegen „die Zionisten“ in Stellung gebrachte Bund in permanenten Clinch mit der bolschewistischen Führung um die Frage der jüdisch-nationalen Selbstbestimmung und nicht wenige Mitglieder des Bunds fielen später den stalinistischen Säuberungen zum Opfer. Immer wieder flüchteten sie auch nach Palästina und nach 1948 gab es sogar Versuche einen Bund in Israel aufzubauen.

Die ab dem späten 19. Jahrhundert steigende Popularität des Zionismus unter linken Juden hat auch damit zu tun, dass der von Ernest beschworene „sozialistische Kampf […] gegen die Ursprünge des Judenhasses“ paradoxerweise nicht selten eine antisemitische Schlagseite hatte. Die Marxist:innen gingen unterdessen davon aus, der Antisemitismus würde mit der Durchsetzung des Kapitalismus allmählich von selbst verschwinden. Oder noch schlimmer: Er sei lediglich eine verkürzte Form proletarischen Klassenbewusstseins. Die sozialistische Bewegung war seit dem Frühsozialismus von gravierendem Antisemitismus durchzogen und die Marxist:innen schrieben diesen seit Marx und Engels leider in mancher Hinsicht fort und kümmerten sich wenig um seine Analyse und Kritik.4 Die Existenz Israels ist in vieler Hinsicht eine Folge linken Versagens sowohl im Umgang mit dem Antisemitismus als auch im Hinblick auf die verpasste Weltrevolution, die dem Judenhass tatsächlich seine Grundlage hätte entziehen können. Anders formuliert: Wir, als gescheiterte marxistische Linke, sind schuld an der Durchsetzung des Zionismus als partikularistisch-nationalistischer Scheinlösung für die Antisemitismusproblematik. Und wir sollten etwas vorsichtig damit sein, „die Zionisten“ retrospektiv dafür zu kritisieren, sich nicht einfach unserer (verpatzten) Revolution angeschlossen zu haben.

(An der Unterstellung von Ernest, wonach sich die Zionist:innen im Widerstand gegen den NS „trotz und nicht aufgrund des Zionismus“ wehrten, erübrigt sich jede Kritik, auch wenn der Einblick in die Motivationsgründe tausender zionistischer Kämpfer:innen natürlich beeindruckend ist. Wie schon beim oben behandelten Multikulturalismus zeigt sich hier, dass Ernest es nicht aushält, einem ambivalenten Phänomen wie dem Zionismus auch nur irgendein positives Attribut zu bescheinigen, ohne sofort hinzufügen zu müssen, dass jenes „trotz“ des Zionismus existiere oder eigentlich „gegen“ den Zionismus gerichtet sei. So bleibt das Feindbild eindimensional und die Geschichte leicht verdaulich. Zu ihrem Verständnis tragt das allerdings wenig bei.)

Danach geht Ernest noch auf das in ethno-religiöser Hinsicht exklusive nation-building im frühen Israel ein, um erneut beweisen zu wollen, dass sich Zionismus und Multikulturalismus ausschließen würden. Dass er damit Segrés Argument verfehlt, wurde bereits dargelegt. Ich will dennoch zum Abschluss noch eine weitere Aussage aufgreifen:

„… der Zionismus duldete auch keinen jüdischen Multikulturalismus. Er richtete sich ebenso gegen das Diasporajudentum, seine Kultur und seinen politischen Radikalismus. Er wollte die jüdischen Lebenswelten der Diaspora, die die meisten Zionisten verachteten, durch einen „Neuen Juden“ oder „Muskeljuden“ ersetzen.“

In der Tat strebte der Zionismus eine kulturelle und – in der Diktion mancher Zionist:innen – auch biologische Revitalisierung des jüdischen Volkes an. Darin unterschied er sich allerdings nicht gravierend von anderen nationalistischen Reaktionen auf rassistische Unterdrückung. So wollten auch Teile des schwarzen Nationalismus in den USA einen stolzen und strebsamen „New Negro“ schaffen und forderten eine Renaissance der afrikanischen Kultur. Manche sprachen sich gegen „rassische Vermischung“ aus und sahen im weißen Rassismus einen Bündnispartner. Emigrationist:innen um die African Civilization Society setzten Mitte des 19. Jahrhunderts sogar auf die Gründung afro-amerikanischer Kolonien an der afrikanischen Küste, mit dem Ziel „die christlichen Prinzipien von Religion, Recht und Ordnung in Zentralafrika zu verbreiten; und unsere Rasse überall emporzuheben“.5 Solche Ambitionen blieben allerdings marginal.

Was den Zionismus hiervon unterscheidet, ist primär, dass seine Bestrebungen, nationale Selbstbehauptung gegen rassistische Unterdrückung mit siedlerkolonialen Mitteln zu erreichen, in großem Stil erfolgreich waren. Die sozialistischen und progressiven Elemente, die sich zweifellos in Varianten des Zionismus finden lassen, waren dadurch vom Zeitpunkt der Besiedlung Palästinas an mit dem Problem konfrontiert, sich an ein Projekt anpassen zu müssen, das notwendig in Konflikt mit der ansässigen Bevölkerung kommen musste. Das Gewaltverhältnis zwischen Siedler:innen und Indigenen sowie die Sachzwänge, die damit einhergehen, sich als kapitalistischer Nationalstaat zu konstituieren, funktionierten als Mechanismen der Selektion, wodurch die progressiven Elemente des Zionismus langsam aussortiert wurden, während die reaktionären Tendenzen immer weiter erstarken konnten. Dieser Prozess lässt sich nachvollziehen über das Auftreten von zionistischen Führern wie Jabotinsky und später Kahane, sowie über die verschiedenen Hegemonieperioden in der israelischen Politik seit 1948 – zunächst des Arbeiterzionismus, dann des revisionistischen Zionismus bis hin zum derzeitigen Mainstreaming des Kahanismus.6 Diese Geschichte ist allerdings eine komplizierte Tragödie und keine eindimensionale Moralfabel. Ebenso wenig ist sie ein einfaches Ergebnis einer siedlerkolonialen „Logik der Elimination“, die dem Zionismus wesensmäßig inhärent sei und die 1948, 1967, Oslo und den genozidalen Krieg in Gaza allumfassend erklären kann. Es hätte stets anders kommen können und es könnte natürlich immer noch anders kommen. Und eine ergebnisoffene historisch-materialistische Analyse der Geschichte, die an diesen Punkt geführt hat, wie auch der Gegenwart, die sie hervorgebracht hat, wäre ein produktiverer Beitrag zur derzeitigen Auseinandersetzung als Ernests manichäische Vereinfachungen.

  • 1. Alle Herzl-Zitate nach: https://de.wikisource.org/wiki/Der_Judenstaat
  • 2. Vgl. dazu Shlomo Lambroza: Jewish Self-Defence during the Russian Pogroms of 1903-1906.
  • 3. Vgl. zu all dem Brendan McGeevers hervorragende und materialreiche Studie „Antisemitism and the Russian Revolution“.
  • 4. Vgl. dazu z.B. das Kapitel „Geldwirtschaft und Judenfrage“ in Hund/Egger/Lösing: Marx, Engels und der Rassismus ihrer Zeit.
  • 5. Zit. n. Richard Blackett: Black Americans in Search of an African Colony, S. 8 (meine Übersetzung).
  • 6. https://www.972mag.com/kahanism-israeli-politics-likud/