Gelungene Sozialpartnerschaft
Die Tarifauseinandersetzung bei der Deutschen Post ist beendet. Mit 61,7 Prozent haben die teilnehmenden Gewerkschaftsmitglieder dem Kompromiss zwischen dem Unternehmen und ver.di zugestimmt. Er sieht eine Einmalzahlung im April 2023 von 1 020 € für Vollzeitbeschäftigte vor und von Mai 2023 bis März 2024 monatliche Inflationsausgleichssonderzahlungen von jeweils 180 €. Teilzeitbeschäftigte erhalten anteilige Beiträge. Tabellenwirksame Erhöhungen gibt es dann erst ab April 2024, und zwar um 340 € pro Beschäftigtem. Die Laufzeit beträgt 24 Monate. Gefordert hatte die Gewerkschaft 15 Prozent Lohnerhöhung bei einer Laufzeit von 12 Monaten.
Wie kam es zu diesem Ergebnis?
In den letzten Jahren machte die Deutsche Post AG zunehmend negative Schlagzeilen: Die Post wurde immer unregelmäßiger zugestellt, Filialen wurden geschlossen, Briefkästen abgebaut, die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten immer schlechter. Seit meinem letzten Bericht hat sich die Situation bei uns nochmal zugespitzt. Unsere Bezirke wurden neu zugeschnitten (dies geschieht regelmäßig, um sie an das Sendungsaufkommen anzupassen). Komischerweise werden die Bezirke dabei aber jedes Mal nur größer, unsere Fahrtwege länger und auch das Sendungsaufkommen wächst. Dazu gab es eine sogenannte Flexibilisierung, das heißt bestimmte Flexi-Bezirke sollten in ihren Nachbarbezirken aushelfen. Die Zusteller:innen sollten flexibler werden und nicht nur in einem Bezirk arbeiten können, sondern in allen Bezirken eines Bereichs. „Der Briefträger, der immer nur in einem Bezirk arbeitet, gehört der Vergangenheit an“, meinte ein Boss auf einer Betriebsversammlung. Doch die Umstellung scheiterte krachend. Wir wurden in unsere neuen Bezirke oftmals überhaupt nicht eingelernt, auch die Flexi-Bezirke waren viel zu groß und die enge Personaldecke führte zu wochenlangen Abbrüchen, das heißt die Post wurde in vielen Bezirken nur unregelmäßig zugestellt. Der Unmut in der Belegschaft wuchs also immer weiter. Die Medien berichteten teilweise täglich über die immer schlechteren Zustände, doch der Konzern erklärte alle Schwierigkeiten lapidar mit einer hohen Corona-Krankheitswelle unter den Mitarbeiter:innen.
Dann kam die Tarifrunde. In ihr spielten die Arbeitsbedingungen keine Rolle mehr. Dies hat zum Teil auch tarifrechtliche Gründe, da das deutsche Recht Streiks sehr enge Grenzen setzt. Doch in anderen Bereichen, etwa bei der Krankenhausbewegung, hat ver.di sie trotzdem thematisiert. Es ginge also sehr wohl! Aber in unserer Tarifrunde ging es nur ums Geld. Doch immerhin war ver.di gezwungen, uns bei der Aufstellung der Forderungen miteinzubeziehen. Aber wer jetzt denkt, es hätte Betriebsversammlungen gegeben, auf denen über die Forderungen diskutiert worden wäre, liegt weit daneben. Was alle ver.di-Mitglieder zugeschickt bekommen haben, war lediglich ein Multiple-Choice-Fragebogen. Auf dem konnten wir ankreuzen, ob 10 Prozent Lohnerhöhung zu viel, genau richtig oder zu wenig sei oder ob wir für die Durchsetzung der Forderungen auch bereit wären zu streiken (nein, ja, vielleicht). Die Antworten der Angeschriebenen waren wohl eindeutig, denn ver.di zog dann mit der Forderung von 15 Prozent Lohnerhöhung auf 12 Monate in den Tarifkonflikt. Das ist bisher die höchste Lohnforderung in den aktuellen Tarifrunden, die IG Metall und IG BCE hatten vorher, trotz galoppierender Inflation, sowohl beschämend niedrige Forderungen aufgestellt und dann natürlich auch kaum etwas rausgeholt. Aber dafür wurden sie dann in den Medien als verantwortungsbewusste Sozialpartner gelobt, die das große Ganze im Blick hätten und nicht nur egoistische Standesinteressen verteidigen würden (wie etwa diese Radikalinskis von der GdL in den vergangenen Jahren).
Nachdem die Post in der ersten Verhandlungsrunde trotzt erneutem Rekordgewinn überhaupt kein Angebot vorgelegt hatte, kam es dann zu den ersten Warnstreiks. Allerdings mussten wir – ich arbeite in einem Teilzeitbezirk und bin in einem sogenannten Übergabepunkt mit nur wenigen Kolleg:innen – immer bei unserem ver.di-Sekretär nachfragen, ob wir denn nun, wie wir es in der Presse gehört hatten, auch wirklich streiken. Wenn er dies bejahte, sind wir dann in den zentralen Zustellstützpunkt gefahren, wo wir uns in die Streikliste eingetragen haben, und sind anschließend wieder heimgefahren. Es gab also erstmal keinerlei Aktivitäten der „einfachen“ Mitglieder. Und das, obwohl die Streikbereitschaft und die Wut in der Belegschaft hoch waren. So haben bei uns auch unorganisierte Kolleg:innen gestreikt, was für sie finanzielle Einbußen bedeutete, da sie ja kein Recht auf Streikgeld haben. Auch gab es einige Eintritte in die Gewerkschaft. Erst am vierten Warnstreiktag wurde eine Demo in die Landeshauptstadt organisiert. Aber auch hier mussten wir am Tag vorher erst wieder nachfragen, ob wir streiken. Auf die Frage bekamen wir dann zur Antwort: „Nein, morgen streiken nur die, die mit zur Demo fahren. Ach so, wollt Ihr mitfahren?“
Nach diesen Warnstreiks legte die Post dann in der nächsten Verhandlungsrunde ein erstes Angebot vor, das eine Laufzeit von 24 Monaten mit Inflationsausgleichssonderzahlungen im ersten Jahr und erst im zweiten Jahr tabellenwirksame Erhöhungen vorsah. Ver.di lehnte dieses Angebot empört ab und fordert weiterhin eine tabellenwirksame Erhöhung der Tarife um 15 Prozent mit einer Laufzeit von nur 12 Monaten. Die Inflationsausgleichssonderzahlungen wurden von der Gewerkschaft als „Mogelpackung“ bezeichnet, da sie nicht listenwirksam sind, das heißt sie werden etwa beim Urlaubs- und Weihnachtsgeld nicht angerechnet und auch bei der nächsten Tarifrunde fließen sie nicht als Verhandlungsgrundlage ein – die dann diskutierten Erhöhungen gehen von einer niedrigeren Basis aus. Aus all diesen Gründen leitete die Tarifkommission von ver.di die Urabstimmung über einen unbefristeten Streik ein. Das Unternehmen reagierte darauf mit wüsten Drohungen. Da der Rekordgewinn der Deutschen Post AG zu großen Teilen im Ausland erwirtschaftet worden sei, könnten wir hierzulande nicht so viel fordern, argumentierte das Unternehmen. Sollte ver.di weiterhin auf den Forderungen bestehen und sogar dafür streiken, sähe sich die Post gezwungen, den Vertrag über die Briefzustellung mit dem Staat zu kündigen und sich „aus der Fläche“ zurückzuziehen, was massive Stellenstreichungen zur Folge hätte, außerdem müssten sie dann noch größere Teile der Belegschaft outsourcen. Diese Drohungen führten innerhalb der Belegschaft zu noch mehr Wut und das Ergebnis der Urabstimmung war dann auch eindeutig: 85,9 Prozent der Kolleg:innen stimmten für den unbefristeten Streik und übertrafen damit das notwendige Quorum von 75 Prozent deutlich.
Noch am selben Tag, an dem das Ergebnis der Urabstimmung bekanntgegeben wurde, lud die Post ver.di zu neuen Gesprächen ein und legte dort das oben bereits angeführte Angebot vor. Es sah nur leicht erhöhte Inflationsausgleichssonderzahlungen vor, entsprach ansonsten aber im Wesentlichen dem ersten Angebot. Doch diesmal empfahl ver.di die Annahme des Kompromisses, da er nach ihren Angaben um 20 Prozent höher läge als das erste Angebot. In ihrer Mitgliederzeitung sprach die Gewerkschaft von bis zu 16 Prozent Lohnerhöhungen, die erreicht worden wären. Seltsam, dabei hatten sie doch nur 15 Prozent gefordert – sehr nett von der Post, da noch was obendrauf zu legen. Reell ist der Abschluss natürlich deutlich niedriger, da er ja über zwei Jahre läuft. Sollte die Inflation weiterhin so hoch bleiben, wird er wohl kaum ausreichen, um die Geldentwertung aufzufangen, vor allem wenn man bedenkt, dass es letztes Jahr nur eine Erhöhung des Entgelts von gerade mal zwei Prozent gab. Doch trotz dieses, in Anbetracht der Möglichkeiten, mageren Ergebnisses wurde es von den ver.di-Mitgliedern in einer zweiten Urabstimmung mit 61,7 Prozent angenommen. Dabei wären laut ver.di-Statut dafür sogar nur 25 Prozent notwendig gewesen.
Allerdings wäre es auch eine große Überraschung gewesen, wenn das Ergebnis abgelehnt worden wäre. Dies geschieht, wenn überhaupt, nur äußerst selten. Denn viele Gewerkschaftsmitglieder sind sehr passiv, was von der Struktur der Organisation auch gefördert wird. Sie folgen oft unhinterfragt den Vorgaben. Daneben besitzt ver.di aber auch noch einen „ideologischen Apparat“ in Form von eigenen Medien und dem Zugang zu den etablierten Medien. Dort konnten sie „ihren Verhandlungserfolg“ propagieren. Kritiker:innen war diese Möglichkeit entzogen. Es gab zwar einige (Online-)Veranstaltungen und Texte, die sich gegen den Abschluss wendeten, doch diese fanden sich fast nur auf entlegenen linken Webseiten beziehungsweise wurden von Vorfeldorganisationen konkurrierender trotzkistischer Kleinstorganisationen veranstaltet (etwa dem Netzwerk für eine kämpferische und demokratische ver.di oder dem Post-Aktionskomitee). Auch hatten viele Kolleg:innen gar nicht mit einem „so guten Ergebnis“ gerechnet. Tarifverhandlungen werden von ihnen, meist zurecht, als reines Ritual betrachtet. Ein Kollege meinte nach der Ankündigung der 15-Prozent-Forderung von ver.di, er würde darauf wetten, dass es am Schluss 7,5 Prozent mehr werden, schließlich einigten sie sich doch immer in der Mitte. Bei einer solchen abgeklärten Sicht ist das Ergebnis dann in der Tat ein Erfolg. Nach dem Abschluss freute sich dieser Kollege dann vor allem auf die Einmalzahlung im April. Die würde ihm schon mal viel weiterhelfen, meinte er.
Doch obwohl die Tarifauseinandersetzung so enttäuschend verlaufen ist, blitzten in ihr doch Möglichkeiten auf, die über den Alltag hinausweisen. So wurde unter den Kolleg*innen plötzlich ganz anders diskutiert. Leute, die ich zufällig bei der Streikliste traf und bisher noch gar nicht kannte, erzählten plötzlich empört über die gestiegenen Lebenshaltungskosten und wie die Arbeitsbedingungen in den vergangenen Jahren immer schlechter wurden. Es entstand ein spontanes Gefühl des Zusammenhalts. Auch zeigten die Warnstreiks, die (wenigen) Demos und Aktionen sowie vor allem das Ergebnis der ersten Urabstimmung, dass deutlich mehr möglich gewesen wäre. Vor allem auch in Hinblick auf die gleichzeitig stattfindende Tarifrunde im öffentlichen Dienst und das ausgeprägte Verständnis in der Bevölkerung. Doch die Gewerkschaft erfüllt auch diesmal wieder ihre Integrationsfunktion für die Klassengesellschaft. Ihre Aufgabe ist es nicht, die Interessen der Klasse durchzusetzen, sondern offene Klassenkämpfe zu verhindern.
Auch das Mittel der Einmalzahlungen, die die Bundesregierung bis zu einer Höhe von 3 000 Euro für Unternehmen und Beschäftigte von der Steuer befreit, hat in den aktuellen Tarifrunden eine befriedende Funktion. Neben den anderen sozialpolitischen Maßnahmen wie Energiepreisbremse, Tankrabatt, Erhöhung des Wohngeldes etc. hat dies sicherlich dazu beigetragen, dass der befürchtete „Heiße Herbst“ ausgeblieben ist. Anders als in anderen Ländern ist der deutsche Staat noch in der Lage, sich den Klassenfrieden durch solche Maßnahmen zu erkaufen. Sollte sich die kapitalistische Krise aber weiter zuspitzen, ist auch hierzulande eine Verschärfung der Auseinandersetzungen zu erwarten. Wir sollten uns darauf vorbereiten.