Ganz Wolfsburg diskutiert über Straßenbahnen

13. Mai 2023

Soll sich die Gesellschaft ändern, muss sich die Produktion ändern. Was bedeutet das für die Klimakämpfe? Wie können wir verhindern, dass die ökologische und die soziale Frage gegeneinander ausgespielt werden? Auf einem Camp in der Wolfsburger Innenstadt (5. bis 10. Mai 2023) haben Klima-Aktivist:innen darüber mit Beschäftigten der Automobilindustrie diskutiert.

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Dass der Kampf für Klimagerechtigkeit nicht auf der Straße gewonnen werden kann, ist in der Klimabewegung längst keine neue Erkenntnis mehr. Deshalb suchen Aktivist:innen zunehmend den Kontakt zu Arbeiter:innen und Gewerkschaften. Sie haben beispielsweise Streikende im Öffentlichen Dienst bei den Tarifauseinandersetzungen unterstützt und versucht, gemeinsam mit Beschäftigten die Verlagerung eines Betriebs des Autozulieferers Bosch in München zu verhindern, indem sie einen Vorschlag für eine klimagerechte Produktion entwickelten. Die Konversionsdebatte voranzutreiben und gleichzeitig die Frage der Vergesellschaftung in den Blick zu nehmen, haben sich die Aktivist:innen der Amsel 44, wie sie ihr Aktions- und Projekthaus in Wolfsburg nennen, zum Ziel gesetzt. Die Umstellung von Pkw-Individualverkehr auf öffentlichen Verkehr, so ihr Ansatz, erfordert nicht nur sozial- und klimagerechte Konzepte vor Ort, sondern auch eine Umstellung der Produktion auf Busse, Straßenbahnen und Züge. So wollen die Aktivist:innen nicht nur aus der Autostadt Wolfsburg eine Verkehrswendestadt machen und den Ausbau der A39 stoppen, sondern auch den Bau eines neuen VW-Werks für das Elektromodell Trinity verhindern und den Umbau des VW-Stammwerks auf ÖPNV-Produktion erreichen. Mit der etwas ambitionierten Forderung, bei VW („steht für Verkehrswende“) sollten innerhalb von zwei Jahren Straßenbahnen vom Band rollen, haben sie nach eigener Einschätzung zumindest schon erreicht, dass ganz Wolfsburg kontrovers darüber diskutiert. Von der Lokalpresse anfangs noch als „Autohasser“ bezeichnet, findet die Initiative inzwischen Zuspruch in der Presse, die nun eher die Schikanen der örtlichen Behörden gegen sie kritisiert.

Anfang Mai schlugen die Aktivist:innen dann ihre Zelte mitten in der Innenstadt nahe dem Hauptbahnhof auf. Trotz der zentralen Lage schienen sich zumindest anfangs recht wenige Wolfsburger:innen aus Neugier spontan aufs Camp zu verirren. In verschiedenen Workshops wurde lebhaft diskutiert: über die Rolle der IG Metall in dem aktuellen Klima-Schlamassel, über Transformation der Produktion und Konversion, Organizing und verschiedene Protestformen in der Automobilindustrie und Verkehrspolitik.

Wenig überraschend kam die IG Metall insgesamt eher schlecht weg: Sie habe die massive Ausweitung der Leiharbeit in der Automobilindustrie und damit eine fortschreitende Spaltung der Belegschaften mitzuverantworten. Vor allem zeige sie keinerlei Interesse, sich der klimapolitischen Verantwortung zu stellen. Als Organisation, die viel nötiges Produktionswissen für die Konversion in sich vereint, könnte sie eine Schlüsselrolle spielen. Dies tue sie aber nicht, so Matthias Fritz, ehemaliger Betriebsrat beim Stuttgarter Autozulieferer Mahle. Im Gegenteil, beispielsweise wurde letztes Jahr die Zusammenarbeit zwischen Aktivist:innen von Fridays for Future (FFF) und Metaller:innen beim Münchener Bosch-Werk von gewerkschaftlicher Seite unterbunden – und das Werk letztlich abgewickelt. Eine bessere bundesweite Vernetzung zwischen Klima-Aktivist:innen und Beschäftigten aus der Metallindustrie ist laut Fritz unbedingt nötig, um in Zukunft zum Beispiel mit realistischen Konversionsvorschlägen zu reagieren, wenn Betriebe angegriffen werden. In der anschließenden Diskussion gingen die Einschätzungen über die Aussichten einer klimapolitischen Zusammenarbeit mit der IG Metall auseinander. Eine FFF-Aktivistin aus Bayern berichtete, die Kooperation mit anderen Gewerkschaften wie ver.di funktioniere dort gut, es sei aber bisher nicht gelungen, Allianzen mit der IG Metall zu schmieden. Dies liege vielleicht auch am stockkonservativen Landshut, in dem BMW die Dienstwagen der Polizei sponsert. Ein Klima-Aktivist aus Magdeburg hingegen äußerte sich positiv über Erfahrungen der Gruppe "Klima und Klasse" mit der IG-Metall-Basis.

Eines der bekannteren Gesichter auf dem Camp war VW-Betriebsrat Lars Hirsekorn, der seit 1994 bei VW in Braunschweig arbeitet. Er hatte im Juni 2019 für Aufsehen gesorgt, als er auf einer Betriebsversammlung von VW eine autokritische Rede hielt und dafür entgegen eigener Erwartungen viel Zuspruch von Kolleg:innen erhielt. Seitdem gebe es unter Beschäftigten viele Diskussionen über das Produkt Auto, berichtete er. Für ihn persönlich sei tatsächlich Greta Thunberg der Auslöser gewesen, nicht mehr nur für bessere Arbeitsbedingungen zu kämpfen, sondern sich mit dem Klimawandel und der Frage, was produziert werden sollte, auseinanderzusetzen. Ob es denn tatsächlich möglich ist, dass bei VW auch Straßenbahnen vom Band rollen, kann er mit einem klaren Ja beantworten. Die eingesetzten Materialien und ihre Verarbeitung seien hinreichend ähnlich, um eine Umstellung zu ermöglichen. Schön wäre es, wenn die 87 Milliarden Euro, mit denen jährlich das Autofahren subventioniert wird, für den Umbau zu einer klimagerechteren Produktion zur Verfügung stünden.

Wie weit wir von einer Verkehrswende, die den Namen verdient, entfernt sind, verdeutlichte der ehemalige Maschinenbauingenieur Klaus Meier anhand der Beschäftigtenzahlen im Verkehrssektor. Aktuell sind rund 24.000 Mitarbeiter im Eisenbahnbau beschäftigt, im Vergleich zu 460.000 in der Automobilherstellung. Die Anzahl der im Eisenbahnbau Tätigen müsse mindestens um den Faktor 20 erhöht und auch die Busproduktion deutlich hochgefahren werden. Zurzeit produziert nur noch Daimler Busse in Deutschland. Während der Verbund der Automobilindustrie skandalisiert, dass bei der Umstellung vom Verbrennungsmotor auf E-Mobilität bis 2025 mindestens 178.000 Arbeitsplätze vernichtet würden, woran natürlich die Klimabewegung schuld sein soll, ist offensichtlich, dass bei einer echten Verkehrswende enorm viele Arbeitsplätze entstehen würden. Weil aber Straßenbahnen nicht so viel Profit abwerfen wie SUVs, kann die Konversionsdebatte nicht geführt werden, ohne auch über Vergesellschaftung zu sprechen.

Mit Blick auf den Ausbau des ÖPNV ließen sich stillgelegte Bahngleise vor ihrer Entwidmung recht einfach wieder ans Schienennetz anschließen, ohne sie durch den schwerfälligen bürokratischen Apparat erneut prüfen und genehmigen lassen zu müssen. So könnten laut Meier über 4.000 Bahn-Kilometer zeitnah reaktiviert werden. Ähnlich wie ein allgemeines Tempolimit auf Autobahnen erscheint dies als einfach umsetzbarer Schritt in die richtige Richtung – man muss ihn nur tun.

Die Idee einer Verkehrswende ist nicht neu, ebenso wenig wie die Frage, was produziert und wie innerhalb der Fabrik entschieden werden soll. Bereits in den 1980er Jahren legte der Daimler-Betriebsrat Willi Hoss von der oppositionellen „Plakat“-Gruppe alternative Verkehrskonzepte vor, die monatelang im Betrieb diskutiert wurden. Widerwillig musste sich damals auch die Werksleitung damit auseinandersetzen. Entscheidend für die positive Resonanz bei den Metaller:innen war, dass das Konzept die Qualifikationsinteressen der Kolleg:innen aufgriff und ihre Bedürfnisse nicht aus den Augen verlor.

Aktuell diskutieren die Ex-Beschäftigten der GKN-Fabrik in der Nähe von Florenz, was es bei der Umstellung der Produktion zu berücksichtigen gilt. Die Produktion müsse an der gesellschaftlichen Nützlichkeit ausgerichtet werden, aber auch die Arbeiter:innen an der Umstellung des Produktionsapparates und der demokratischen Kontrolle über den Produktionsprozess beteiligt werden.

Um ausreichend gesellschaftlichen Druck für die Umsetzung all dessen zu erzeugen, müssen Klima- und Arbeiterbewegung zusammenarbeiten. Die Aktivist:innen der Amsel 44 unternehmen einen wichtigen Schritt in die richtige Richtung. Richtungsweisend scheint uns auch die Atmosphäre des Camps: verschiedene politische Strömungen gehen wohlwollend aufeinander zu, suchen engagiert nach Lösungen. Es gab eine breite und kluge Beteiligung an den Diskussionen innerhalb der Workshops (und richtig gute Stimmung auf den abendlichen Konzerten).