Die Sozialdemokratie und der Erste Weltkrieg (II)
Der große Krieg
Am 28. Juli erging die Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien, einen Tag später eröffnete die Armee die Kriegshandlungen. Die Teilmobilmachung der russischen Armee erfolgte noch am selben Tag und bereits tags darauf die Generalmobilisierung. Am 1. August erklärte das Deutsche Reich zunächst Russland den Krieg, am 3. August schließlich auch Frankreich. Und bereits am 4. August überschritten die im Westen konzentrierten Verbände die Grenze des neutralen Belgiens und das Morden begann.
Der Kriegsplan der deutschen Heeresleitung sah den Angriff eines überdimensionierten rechten Flügels vor, der durch Belgien vorstoßen und die französischen Streitkräfte östlich von Paris einkesseln sollte. Dieser rechte Flügel sollte dem ursprünglichen Plan des Generalfeldmarshalls Alfred von Schlieffen („Schlieffen-Plan“) zufolge siebenmal so stark sein wie der linke Flügel, dessen Aufgabe in der Verteidigung gegen einen französischen Vormarsch in Elsaß-Lothringen bestand. Auch im Osten sollten lediglich schwache Kräfte eine mögliche russische Offensive aufhalten, bis der Blitzkrieg im Westen gewonnen wäre. Der rechte deutsche Flügel erreichte jedoch nie die vorgesehene Stärke: Zu Beginn des Krieges fehlten ihm mindestens zwei, dem ursprünglichen Plan Schlieffens zufolge sogar acht, Armeekorps.1 Dabei war die vorgesehene numerische Überlegenheit wesentliche Voraussetzung für die erhoffte Umfassung und Niederwerfung der französischen Truppen.2
Der jüngere Moltke, der nach Schlieffens Tod für die Ausführung des Plans verantwortlich war, setze diesen in nur abgeschwächter Form um. Anstatt Elsaß-Lothringen und die Front im Osten weitgehend Preis zu geben und den Großteil der Kräfte für die Invasion Belgiens zu verwenden, ließ er weitaus stärkere Kräfte zur Verteidigung zurück. Die Motivation hierfür war politisch: Das Prestige von Kaiser und Armee sollte nicht durch eine auch nur zeitweise Invasion feindlicher Truppen beschädigt werden.3 Die Offensive allerdings kam vor Paris zum Erliegen, da die dem Schlieffen-Plan innewohnenden logistischen Schwierigkeiten nicht gelöst werden konnten. Durch den raschen Vormarsch waren die Spitzen der deutschen Verbände schon bald ihrer Kommunikations- und Nachschublinien enteilt. Die Sabotage gegen Eisenbahnlinien und -brücken tat ihr übriges. An der Marne konnte die französische Armee die Invasoren schließlich stoppen, ohne jedoch selbst zum Bewegungskrieg übergehen zu können. Vielmehr etablierten sich nun auf beiden Seiten befestigte Defensivstellungen, die mit Maschinengewehren und Artillerie die Offensivbemühungen der Gegenseite im Blut erstickten. Erst 1918 sollte es den Alliierten gelingen, weitreichende Durchbrüche gegen eine geschwächte deutsche Armee zu erzielen, bis dahin herrschte im Westen ein kräftezehrender Stellungskrieg.4
Im Osten führte die russische Armee ihre Offensive gegen numerisch unterlegene deutsche Verbände. Sie kam jedoch unter schweren Verlusten rasch zum Erliegen und bereits im September 1914 stellte sich auch hier eine Pattsituation ein. Einzig in Galizien waren die russischen Truppen gegen desorganisierte Habsburger Truppen auf dem Vormarsch. Diese hatten zu allem Überfluss ihre unterlegenen Kräfte auf zwei Frontabschnitte aufgeteilt und waren in Serbien einmarschiert. Dort jedoch erlitten sie ein Debakel und mussten sich bereits Ende August zurückziehen.5
Bis Mitte September 1914 waren die eröffnenden Kriegspläne aller Länder gescheitert und obwohl die erste Phase des Krieges sehr kurz war, forderte sie horrende Verluste auf allen Seiten: Das französische Heer verlor 528.000 Mann (Tote, Verwundete, Vermisste), die Briten ein Drittel ihrer Kräfte in Europa, das Deutsche Reich 800.000 Soldaten, Russland 1,8 Mio. und Österreich-Ungar 1,25 Mio.6 Jede neue Offensivbemühung sah sich mit gewaltigen taktischen und operativen Hindernissen konfrontiert. Die eingegrabenen Stellungen der Gegenseite konnten nur mit numerisch überlegenen Truppen und unter hohen Verlusten überwunden werden. Gleichzeitig sah sich jeder größere Vormarsch durch große logistische Schwierigkeiten gebremst. Die Illusion eines kurzen Krieges,7 auf den die Militärstrategen der kriegsführenden Nationen gerechnet hatten, löste sich nach wenigen Wochen in Luft auf.
Kriegswirtschaft und Klassenkompromiss
Die Doktrin des kurzen Krieges hatte zur Folge, dass keine Pläne zur Umstellung der Wirtschaft auf die Kriegsproduktion entwickelt wurden. Nun sah sich das unvorbereitete Reich mit einem Schlag vor die Aufgabe gestellt, die Bedingungen für einen langwierigen Massenkrieg herzustellen. Aufgrund der mangelhaften ökonomischen Vorbereitung auf den Kriegszustand und verschärft durch die britische Seeblockade machten sich bereits nach kurzer Zeit eklatante Engpässe in allen Bereichen bemerkbar.8 Bereits im Oktober 1914 waren alle Munitionsreserven aufgebraucht und die Armee allein auf die laufende Produktion angewiesen. Der Mangel an Munition verschärfte sich im November und verhinderte die Wiederaufnahme der Offensive im Westen.9
Im Angesicht der prekären Rohstoffversorgung beschloss das Kriegsministerium die Bildung der sogenannten „Kriegsrohstoffabteilung“ (KRA) unter Leitung von Walter Rathenau, damals Manager bei dem Elektrokonzern AEG – also einem Vertreter des exportorientierten verarbeitenden Gewerbes. Die KRA rekrutierte ihr Personal aus der Industrie und zentralisierte die Rohstoffkontrolle beim preußischen Kriegsministerium. Die Staatsmanager der neuen Behörde bevorzugten ihre eigenen Betriebe bei der Vergabe von Aufträgen. Unter Rathenau wurden die sogenannten Kriegsrohstoffgesellschaften aus dem Boden gestampft: Aktiengesellschaften unter staatlicher Aufsicht, die für den Erwerb und die Verteilung von Rohstoffen verantwortlich waren. Die KRA entwickelte sich zum erfolgreichsten Wirtschaftsorgan des Deutschen Reiches. Sie trieb die Entwicklung zum totalen Krieg voran, indem sie der Zivilproduktion knappe Rohstoffe vorenthielt und diese stattdessen in die Rüstung umleitete. Dadurch wurden die Unternehmen immer stärker in die Kriegsproduktion gedrängt.10
Aber nicht nur in der Rohstoffversorgung und Materialbeschaffung zeigten sich große Missstände. Auch über die Sicherstellung von qualifizierten Arbeitskräften für die kriegswichtigen Industrien war kein Gedanke verschwendet worden. Bereits während der Munitionskrise im Herbst 1914 machte sich in den Munitionsfabriken ein Mangel an Arbeitskräften schmerzhaft bemerkbar. Die Unternehmen forderten die Facharbeiter von der Front zurück. Nun musste die Armee mit der Industrie um Menschenmaterial konkurrieren, während die Kapitalisten sich gegenseitig die Arbeitskräfte abspenstig zu machen versuchten. Dadurch gelang es den begehrten Facharbeiter in der Kriegsproduktion vergleichsweise hohe Löhne durchsetzen.11
Um dieser Entwicklung Herr zu werden und die Arbeiter:innenklasse für den Kriegszweck einzuspannen, wurde im Februar 1915 der „Kriegsausschuss für die Metallbetriebe Groß-Berlins“ gegründet. Dieses Gremium aus Vertretern des Kriegsministeriums, der Kapitalisten und der Gewerkschaften, erhielt die Entscheidungsgewalt über Arbeitsplatzwechsel der Beschäftigten. Die Freizügigkeit der Arbeiter wurde eingeschränkt, im Gegenzug erhielt die Gewerkschaft zum ersten Mal Mitbestimmungsrechte, was den innerbetrieblichen Autokratismus der Kapitalisten etwas einschränkte.12 Diese Entwicklung rief bei den Eisen- und Stahlbaronen große Entrüstung hervor, hatte die Schwerindustrie doch jede Einmischung der Gewerkschaften in ihre betrieblichen Angelegenheiten entschieden abgelehnt. Sie sahen darin einen auch nach dem Krieg nicht mehr revidierbaren Dammbruch, wodurch sich nun die gefürchtete gesellschaftliche Demokratisierung unaufhaltsam Bahn brechen würde.
Für die Staatsmanager und Militärs, insbesondere die sich aus dem Bürgertum rekrutierenden Technokraten, war früh einsichtig geworden, dass der moderne Massenkrieg der Integration der Arbeiter:innenklasse bedurfte: „Gegen die Arbeiter könnten wir diesen Krieg überhaupt nicht gewinnen“, erklärte der Leiter des Kriegsamtes Wilhelm Groener. Er hatte nicht nur den Sieg im Blick, sondern auch eine drohende Niederlage, deren Auswirkungen auf das monarchistische System die Gewerkschaften abfedern sollten: Es sei notwendig „den Einfluss der Gewerkschaften auf die Massen für den Fall revolutionärer Entwicklung zu stärken.“13
Die Kriegszieldiskussion
Vollkommen unbeeindruckt vom grandiosen Scheitern des deutschen Kriegsplans entwickelte sich bereits ab September eine mit immer illusionäreren Vorstellungen geführte Kriegszieldiskussion. Am 9. September stellte der Ruhrunternehmer August Thyssen „die großindustriellen Erwartungen“ heraus. Es folgten Eingaben und Memoraden von verschiedenen Seiten, die schließlich von Seiten des Reichskanzlers im sogenannten „September-Programm“ zusammengefasst wurden.
Das September-Programm formulierte als deutsche Kriegsziele die Schwächung Frankreichs und Russlands, Eroberungen im Westen, umfangreiche Reparationen, die wirtschaftliche Unterwerfung Frankreichs, die Degradierung Belgiens zu einem Vasallen-Staat, die Annexion Luxemburgs und im Osten sollten Satellitenstaaten entstehen, die örtliche Bevölkerung vertrieben und deutsche Wehrbauern angesiedelt werden. Das wirtschaftspolitische Hauptziel bestand in der Gründung eines mitteleuropäischen Wirtschaftsverbandes. Die angestrebte Zollunion solle dabei die deutsche Dominanz Mitteleuropas absichern. Neben den europäischen Fantasien wurde auch die Errichtung eines mittelafrikanischen Kolonialreichs in Aussicht gestellt. Am 20. Mai 1915 veröffentlichten sechs große Interessenverbände der Wirtschaft und wenig später auch der vergleichsweise liberale Hansa Bund eine Denkschrift, worin auch sie ihre Eroberungswünsche darlegten. Damit kam es das erste Mal zu einer „geschlossenen Phalanx“ von industriellen und landwirtschaftlichen Organisationen, die „von den hochkonservativen Managern der Industrieverbände und Großagrarier über die liberalen Exponenten des Hansa-Bundes bis zu den katholischen Bauernführern reichte. Das von ihnen repräsentierte innenpolitische Machtpotential schwenkte hinter ein riesiges Annexionsprogramm ein.“14 Das ungehemmte, öffentlich vorgetragene annexionistische Geschrei, das die verschiedenen Fraktionen der herrschenden Klassen zusammenbrachte, führte die Behauptung eines gerechten Verteidigungskrieges endgültig ad absurdum und ließ dies auch den Sozialdemokrat:innen langsam dämmern.15
Der totale Krieg
1915 waren die Mittelmächte wieder auf dem Vormarsch, eroberten die an Russland verlorenen Gebiete im Osten zurück und überrannten Serbien, Polen, Litauen und Montenegro. Die alliierten Gegenangriffe dagegen scheiterten und auch der Kriegseintritt Italiens auf Seiten der Entente brachte keine Wendung. Effektiv wirkte jedoch die englische Seeblockade der Nordsee, die das Deutsche Reich von wichtigen Einfuhren (insbesondere Lebensmittel und Salpeter für die Düngemittelproduktion) abschnitt. Dadurch spitzte sich 1916 die Situation an der Heimatfront aufgrund von Hungersnöten immer weiter zu. Die taktische Effizienz der Mittelmächte konnte die industrielle Übermacht der Entente im Abnutzungskrieg langfristig nicht aufwiegen. So neigte sich die Waage langsam in Richtung der Alliierten.16
Vor diesem Hintergrund bekamen im August 1916 Hindenburg und Ludendorff die Oberste Heeresleitung (OHL) übertragen, die fortan mit „diktaturähnliche[r] Gewalt“17 und dem von ihnen aufgelegten „Hindenburg-Programm“ Mensch und Material für den totalen Krieg mobilisieren wollte.18 Zu diesem Zeitpunkt reichten die Kriegskredite schon nicht mehr aus, um die laufenden Kosten zu begleichen. Das Vorhaben kam so einem Vabanquespiel mit den arg strapazierten Staatsfinanzen und Ressourcen gleich. An die Stelle der Illusion des kurzen Krieges trat nun die illusionäre Hoffnung, die Alliierten in einer Materialschlacht zu bezwingen.19
Ein wichtiger Schritt, um das größenwahnsinnige Programm der OHL zu realisieren, war das neu ins Leben gerufene Kriegsamt und das von ihm initiierte Vaterländische Hilfsdienstgesetz. Das Gesetz sah vor, diejenigen Männer, die nicht zum Kriegsdienst herangezogen werden konnten, zur Arbeit in der Rüstungsindustrie zu verpflichten und dadurch die freie Wahl des Arbeitsplatzes endgültig aufzuheben. Obwohl damit der deutschen Arbeiter:innenklasse weitere Opfer für den Krieg auferlegt werden sollten, stellten sich Gewerkschaften und SPD nicht grundsätzlich gegen das Gesetz. Vielmehr sahen sie darin auch eine Möglichkeit, die Macht der Arbeiter:innenorganisationen auszuweiten, etwa durch die Ausweitung der Kriegsausschüsse und die Etablierung von Fabrik-Komitees. Sie konnten dabei weitgehende Zugeständnisse bei der betrieblichen Mitbestimmung erreichen. Interessant ist diese Episode auch deshalb, weil sich hier die Zusammenarbeit von Sozialdemokratie und dem Generalstab anbahnt, die sich während der Novemberrevolution zu einem konterrevolutionären Bündnis auswachsen sollte. Auch die sozialpartnerschaftliche Kooperation von Gewerkschaften und Industriellen wird hier erprobt. Die Kapitalisten geben ihre Widerstände gegen gewerkschaftliche Mitbestimmung zumindest punktuell auf, während sich die Gewerkschaften für die Befriedung der Betriebe einspannen lassen.20
Entwicklung der Klassengegensätze
In den Städten wurden bereits wenige Monate nach Kriegsbeginn die Nahrungsmittel und weitere Konsumgüter knapp, so dass ab Februar 1915 erste Rationierungen eingeführt werden mussten. Das reale Jahreseinkommen der männlichen Arbeiter fiel während des Krieges in den Kriegsindustrien um 23 Prozent, in den Friedensindustrie um gut 44 Prozent. Die Rückgänge bei den Arbeiterinnen waren mit 12 Prozent und 39 Prozent etwas geringer. Die Vorkriegstendenz steigender Reallöhne kehrte sich mit einem Schlag und mit spürbaren Folgen um. Für die große Mehrheit der Arbeiter:innenklasse wuchs im Verlauf des Krieges die existentielle Not: Die nur notdürftig durch den Schwarzmarkt ergänzten Lebensmittelrationen deckten 1918 nur noch 57-70 Prozent des Kalorienbedarfs, Unterernährung und Mangelkrankheiten waren die Folge. Im Allgemeinen fand ein drastischer Abfall des Lebensstandards der Arbeiter:innen statt, wobei das Existenzminimum häufig unterschritten wurde.21
Im Gegensatz zur miserablen Lage der Arbeiter:innenklasse konnten sich die Kapitalisten schadlos halten, ja profitierten nicht selten von staatlichen Aufträgen und Nachfrageengpässen, die ihnen ansehnliche Preissteigerungen ermöglichten. Sie konnten die Selbstverwaltung ihrer Betriebe weitgehend gegen staatliche Übergriffe verteidigen und nutzten dies bspw. dafür, den von der Armee dringend benötigten Stahl zu exportieren. Einige dieser Exporte landeten mit Umweg über die Schweiz noch dazu bei französischen und italienischen Unternehmen. 1916 hielt das Innenministerium die Stahlproduzenten an, ihre Export-Preise zu steigern, was diese taten. Jedoch flossen die aufgrund der allgemeinen Stahlknappheit hohen Profite nicht an den Staat, sondern in die Taschen der Eisen- und Stahlbarone, die wiederum die Produktion für den Export bevorzugt behandelten. Die Folge waren Chaos auf dem heimischen Markt und große Verzögerungen bei den Verträgen mit der Kriegsindustrie sowie steigende Stahlpreise.22
Für das große industrielle Kapital war der Krieg jedenfalls überaus profitabel. Er verbesserte aber auch über den Krieg hinaus die Stellung der Produktionsmittelproduzenten und trieb die allgemeine Entwicklung der Produktivkräfte voran: „Der Arbeitermangel erzwang den vermehrten Einsatz von neuen Maschinen. Die Normierung förderte die Massenproduktion. Die Rationalisierung verbesserte die Gewinnchancen. Die Expansion der Serienerzeugung stärkte die Produktionsgüterindustrie, verschaffte ihr einen erheblich umfangreicheren Anteil am Bruttosozialprodukt und stärkte ihre soziale und politische Macht in ungleich höherem Maße, als das durch ein Wachstum in Friedenszeiten möglich gewesen wäre.“23
Und nicht nur die horizontale, sondern auch die vertikale Integration wurde vorangetrieben, etwa indem sich die Schwerindustrie in Transport und weiterverarbeitende Industrie einkaufte. Diese Konzentrationsprozesse führten zweifellos auch zu einer stärkeren Zentralisation des Kapitals. Jedoch bedeutete der Verlust der Selbstständigkeit zumeist keine Verarmung, nicht einmal unbedingt einen Macht- und Statusverlust, wenn die ehemaligen Eigentümer nun als leitende Manager die fusionierten Unternehmen beaufsichtigten. Die Mitglieder der herrschenden Klassen mussten bis zum Ende des Krieges wenige bis keine Einbußen in ihrem Lebensstandard in Kauf nehmen: „Mit dem immer empfindlicheren Notstand der Massen kontrastierte noch in den letzten Monaten des Krieges das sichtbare Wohlleben der wenigen.“24
Proteste und einsetzende Kriegsmüdigkeit
Ab 1915 häufen sich die Demonstrationen gegen Lebensmittelknappheit, Wucher und niedrige Einkommen. Immer wieder kam es zu Hungerkrawallen, wobei hier vor allem Frauen und Jugendliche in Aktion traten. Ab dem Sommer 1916 kam es in den kriegswichtigen Industrien zu Streiks, die sich zunächst an der Lebensmittelversorgung und den stagnierenden Löhnen entzündeten. Gegen Ende des Krieges trat die Forderung nach Arbeitszeitverkürzung in den Vordergrund. Der vorläufige Höhepunkt der Lebensmittelproteste war im Kohlrübenwinter 1916/17 erreicht. Kurz darauf trug die Kürzung der Brotration auch für Schwerstarbeiter entscheidend zum Ausbruch des Aprilstreiks 1917 bei, an dem sich allein in Berlin circa 200.000 Arbeiter:innen beteiligen.25
Die Gewerkschaften beschränkten sich unter der Ägide des Burgfriedens auf Tarifauseinandersetzungen ohne Streiks und setzten damit eine unheilvolle Tendenz fort, die bereits vor dem Krieg begonnen hatte. Obwohl sich immer mehr Arbeiter:innen an Aktionen beteiligten, reichten diese keineswegs aus, um die allgemeine Verelendung aufzuhalten. Durch ihr Festhalten am Burgfrieden diskreditierten sich die Gewerkschaften, je mehr sich die Lage der Arbeiter:innen verschärfte: „Bei tendenzieller (wenn auch begrenzter) Radikalisierung und Mobilisierung der Arbeiterschaft blieb die Gewerkschaftsbürokratie nicht nur fest in ihren Vorkriegstraditionen verwurzelt, sondern betonte zudem stärker als je zuvor deren integrationistische, revisionistische, antiklassenkämpferische Momente.“26
Die Integration von Gewerkschaften und SPD in den Staat führte zu ihrer zunehmenden Trennung von der Arbeiter:innenklasse, die ihren Protest immer unabhängiger von ihren vormaligen Organisationen auf die Beine stellte. Während ihre institutionelle Macht durch die Ausweitung korporatistischer Elemente im Laufe des Krieges anwuchs, verloren sie zunehmend die Kontrolle über die Klasse, was sich in schrumpfenden Mitgliederzahlen ausdrückte. So beispielsweise beim Streik von 55.000 Berliner Arbeiter:innen gegen die Verhaftung Karl Liebknechts im Juni 1916: Dieser drei Tage andauernde politische Streik war von den um Richard Müller versammelten revolutionären Obleuten organisiert worden. Die revolutionären Obleute waren ein Netzwerk von Vertrauensleuten, dass sich in mehreren Berliner Metallbetrieben (Borsig, AEG, Löwe, Schwartzkopff) gebildet hatte und unabhängig von den offiziellen Gewerkschaften tausende Arbeiter:innen für Massenstreiks mobilisieren konnte. Den Gewerkschaften viel es zunehmend schwerer, den Anweisungen des Kriegsministeriums Folge zu leisten und Streiks zu unterbinden, da die Organisator:innen und Streikaktiven immer häufiger jenseits ihrer Organisationen standen.
Seit dem Winter 1915/16 verband sich die Unzufriedenheit mit der ökonomischen Lage bei den unteren Schichten der Bevölkerung zunehmend mit Kriegsmüdigkeit und Friedenssehnsucht. Dabei handelte es sich jedoch um eine durchaus widersprüchliche Entwicklung, so weckten doch Erfolgsmeldungen von der Front selbst in der Arbeiter:innenschaft immer wieder Sieges- bis hin zu Annexionshoffnungen und erschwerten so eine revolutionäre Agitation.27 Die Verschärfung der Klassengegensätze beschleunigt jedoch die Herausbildung neuer klassenkämpferischer Organisationen und bereitete den Boden für die spätere revolutionäre Bewegung.
Formierung der Opposition gegen den Krieg
Die ersten Anzeichen für einen Bruch in der SPD zeigten sich Ende des Jahres 1914. Am 2. Dezember 1914 stimmte Karl Liebknecht zum ersten Mal gegen die Kriegskredite, denunzierte in seiner Erklärung den Krieg als annexionistisch und rief zum Klassenkampf gegen den Krieg auf. Am 15. März 1915 schloss sich ihm Otto Rühle an. Im Juni folgte ein Flugblatt der Opposition,28 welches als Eingabe an den Parteivorstand konzipiert war, die Politik vom 4. August kritisierte und die Passivität der Partei anklagte. Ein weiteres Flugblatt von Kautsky, Haase und Bernstein („Das Gebot der Stunde“) machte ebenfalls gegen den Annexionismus mobil, hielt sich jedoch gegen die Parteiführung zurück. Beide Initiativen einte die Ablehnung des Burgfriedens.29
Mitte April 1915 erschien die erste Ausgabe der von Luxemburg, Liebknecht, Mehring und Zetkin herausgegebenen Zeitschrift „Die Internationale“. Am 5. September 1915 wurde die erste Zimmerwalder Konferenz eröffnet. Es nahmen 10 Delegierte aus Deutschland teil, die einer späteren Einschätzung Zetkins zufolge dort jedoch den rechten Flügel stellten. Eine von Lenin und Radek verfasste Resolution, die nicht nur die offen patriotische Mehrheit, sondern auch das Zentrum um Kautsky des Sozialpatriotismus und Sozialimperialismus bezichtigte und einen revolutionären Kampf gegen den Krieg forderte, wurde nur von einem deutschen Delegierten unterzeichnet – von Julian Borchard, dem Vertreter der „Internationalen Sozialisten Deutschlands“, einer Gruppierung, die links von der Gruppe Internationale (später „Spartakus“) von Liebknecht und Luxemburg stand. Auch das Plenum der Zimmerwalder Konferenz lehnte die Lenin-Radek-Resolution mit 19 zu 12 Stimmen ab.30
Ende des Jahres 1915 mehrten sich die Vorstöße, den innerparteilichen Burgfrieden zu beenden. Kautsky bspw. plädierte in der „Neuen Zeit“ für die „vollste Freiheit der Meinungsäußerung innerhalb des Parteiorganismus.“ Zudem forderte er die Freiheit, den Reichstag als Bühne auch für die Parteiminderheit nutzen zu dürfen. Kautsky, der Verfechter der Parteieinheit, nahm hier das erste Mal das Prinzip der Geschlossenheit und Einheit der Partei um jeden Preis zurück. Dieser Schritt erfolgte aufgrund der fast vollständigen Dominanz der Parteirechten.31 Im Dezember 1915 kündigen bereits zwanzig SPD-Abgeordnete den inneren und äußeren Burgfrieden auf und erklärten sich gegen die Kriegskredite.
Am 24. März 1916 kam es schließlich über die Abstimmung zum sog. Notetat zur Spaltung der Fraktion. Die Fraktion hatte mit einer knappen Mehrheit von 44 gegen 36 Stimmen für den Notetat votiert. Dieses Mal jedoch bereitete sich die Minderheit auf eine öffentlichkeitswirksame Aktion im Reichstag vor und stimmte nicht nur gegen den Antrag, sondern ließ Haase diese Ablehnung ohne Absprache mit der Mehrheit begründen. Die 18 Abweichler verließen – wie zuvor bereits Liebknecht und Rühle – die Fraktion und gründeten zunächst die „Sozialdemokratische Arbeitsgemeinschaft“ (SAG) mit Haase und Ledebour als ihren Vorsitzenden.
Der endgültige Bruch mit der Partei kam mit einer Konferenz der SAG am 7. Januar 1917 in Gang, zu der Delegierte aus dem ganzen Reichsgebiet zusammentrafen. Die Mehrheit gehörte der SAG an, eine Minderheit kam vom Spartakus, dazu kamen einzelne Delegierte von linksradikalen Gruppen aus Bremen, Hamburg und Duisburg. Diese Spaltung erfolgte nach Einschätzung Arthur Rosenbergs zu einem Zeitpunkt, als sich die beiden Parteiflügel inhaltlich wieder stärker angenähert hatten, da die Mehrheits-SPD langsam in Opposition zum Kriegskurs der Regierung gegangen war. Es scheint demnach weniger die inhaltliche Differenz gewesen zu sein, die zur Spaltung führte, als die Unmöglichkeit die Differenzen offen in der Partei auszutragen: Da der Opposition keine Möglichkeit blieb, ihren Dissens offen zu vertreten, musste sie den Bruch anstreben.32
Am 6. April 1917 begann schließlich der Gründungsparteitag der „Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands“ (USPD). In der USPD fanden sich die tonangebenden Tendenzen der Vorkriegs-Sozialdemokratie in einem gewissermaßen konservativen Anliegen zusammen: Sie wollten gegen die mittlerweile dominanten nationalistischen Kräfte am „alten Charakter der Sozialdemokratie“ festhalten.33 So kam noch einmal zusammen, was nicht zusammenpasste: Bernstein, Kautsky und Luxemburg gehörten allesamt der neuen Partei an. Bei allen Differenzen, die der Spartakus-Bund gegenüber der USPD-Mehrheit herausstellte,34 konnten sich die Linken nicht zum Bruch mit dem Zentrum durchringen, der von Lenin und den Linksradikalen rund um die Gruppe der „Internationalen Kommunisten Deutschland“ (IKD) angemahnt wurde.
Der Krieg endet, der Kampf um die Nachkriegsordnung beginnt
Der Krieg offenbarte die Schwäche der internationalen Arbeiter:innenbewegung gegenüber den herrschenden Mächten. Sie konnte den Krieg nicht verhindern und der Kriegsmaschinerie nichts entgegensetzen. Stattdessen brachte der Krieg die Widersprüche innerhalb der sozialdemokratischen Arbeiter:innenbewegung zum Eklat. Durchgesetzt hatten sich in den meisten Ländern diejenigen Kräfte, die bereit waren, sich der herrschenden Ordnung zu unterwerfen, um vermittels ihrer Spielregel gewisse Verbesserungen für die arbeitende Klasse zu erreichen. Diejenigen, die an einer eigenständigen Politik des Proletariats festhielten und den Klassenkampf auch gegen den Krieg und die eigene Regierung führen wollten, blieben nicht nur in der Minderheit, sondern selbst gespalten und uneins über die notwendigen Schritte und die richtige Taktik.
Währenddessen spitzen sich die Streiks und Proteste zu und nahmen einen zunehmend politischen Charakter an: Die Februarrevolution in Russland stürzt den Zaren und schürt die Hoffnung auf Frieden mit Russland, die Osterbotschaft des Kaisers weckt Hoffnungen auf eine Reform des Wahlrechts. Mit der großen Streikbewegung Ende Januar/Anfang Februar 1918 traten die ökonomischen Motive weitgehend hinter politische Ziele zurück: schneller Frieden ohne Annexion und Reparation, Friedensverhandlungen mit dem revolutionären Russland, ausgiebige Nahrungsmittelversorgung, Aufhebung des Belagerungszustandes und der Militarisierung der Betriebe, Demokratisierung des Staates, Wahlrechtsreform in Preußen.35
Unzufrieden mit dem Gang des Krieges und den innenpolitischen Entwicklungen formierte sich bereits Ende 1914 jedoch auch eine rechtskonservative Opposition unter Führung der Alldeutschen.36 Mit Hindenburg und Ludendorff kristallisierten sich zwei Führungsfiguren heraus, die den „neuen politischen Typus des hochbegabten bürgerlichen Militärtechnokraten“ verkörperten und sich der Nation stärker verbunden fühlten als dem Kaiser.37 Nachdem ihre Versuche, Hindenburg als Reichskanzler durchzusetzen, gescheitert waren, gründeten sie im September 1917 die „Deutsche Vaterlandspartei“ und versuchten, trotz Unterstützung aus der OHL, erfolglos eine Militärdiktatur durchzusetzen. Diese Partei wurde ein Sammelbecken der bürgerlichen Annexionisten und extremen Konservativen.38 Sie bildete die erste „rechtsradikal-protofaschistische Massenpartei“,39 die mit ihrem radikalen Nationalismus, Imperialismus und Antidemokratismus sowie Antisemitismus großen Rückhalt im protestantischen Bildungsbürgertum und den wirtschaftsbürgerlichen Eliten sowie in den oberen Rängen der Bürokratie und den Offizierskorps hatte. Sie konnte aber auch nationalistisch gesinnte Angestellte, Arbeiter:innen und Bauern für sich gewinnen und entwickelte sich mit ihrem rechtsradikalen Programm von Siegfrieden und weitreichenden Eroberungsplänen kurzzeitig zur mitgliederstärksten Partei des Deutschen Reiches. Sie wurde von der Kriegseuphorie getragen und ging nach dem Scheitern der letzten deutschen Offensive und dem Umschwung der öffentlichen Meinung in einen raschen Auflösungsprozess über, der mit dem Regierungseintritt der SPD und der Novemberrevolution besiegelt werden sollte.
Weder der reaktionären Opposition noch den Staatsverwaltern oder Militärs gelang es, die sich immer weiter verschärfenden Klassengegensätze entschieden umzulenken.40 Die sozialdemokratische Aufopferung der Proletarier:innen für die Nation hatte keineswegs die von den Reformist:innen erhofften demokratischen Zugeständnisse gebracht. Wo zulasten der autokratischen Kapitalherrschaft der Einfluss der Arbeiter:innenorganisationen ausgeweitet wurde, geschah dies zum Zweck der totalen Kriegsführung und der präventiven Konterrevolution. Es war schließlich die revolutionäre Bewegung der Soldaten und Arbeiter:innen, die die Monarchie stürzte. Die korporatistische Reorganisation der Klassenverhältnisse, die sich während des Krieges herausgebildet hatte, konnte zwar nicht mehr den Kaiser, doch aber die kapitalistische Eigentumsordnung retten. Dabei jedoch konservierte sie die reaktionärsten Elemente der wilhelminischen Gesellschaft und bereitete dem Faschismus den Weg.
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- 1. Die klassenpolitischen Auseinandersetzungen unter den herrschenden Klassen des Kaiserreichs wirkten sich teilweise restringierend auf die Aufrüstungsvorhaben aus. Für die Junker-Klasse und den durch sie kontrollierten Generalstab blieb es das vorrangige Ziel, eine politisch servile und verlässliche Armee zu haben. Dies bedeutete jedoch eine Einschränkung der Mobilisierungsfähigkeit, denn eine Vergrößerung des Heeres drohte die Offiziersränge durch (klein-)bürgerliche Kräfte zu demokratisieren und die Mannschaften durch städtische Proletarier gar zu sozialdemokratisieren. Gleichzeitig berechnete der Generalstab im Jahr 1913, dass er gegen die doppelte Front Frankreich-Russland eine Aufstockung des Heeres um 300.000 Mann benötigte, also eine Vergrößerung des Heeres um die Hälfte. Dagegen konnte sich das den Junkern verpflichtete Kriegsministerium durchsetzen, dem die soziale und politische Zuverlässigkeit der Armee wichtiger war als ihre zahlenmäßige Überlegenheit und die angestrebte Aufrüstung wurde beschränkt (Karuscheit 2014, 204). So war das Heer vor dem Krieg, die „unerschütterliche Hochburg der Hohenzollern gewesen“ (Rosenberg 1979, 103).
- 2. Vgl. Wehler 2009, 10.
- 3. Vgl. Rosenberg 1979, 73ff. Ob der ursprüngliche Plan Aussicht auf Erfolg gehabt hätte, sei dahingestellt. Friedrich Engels jedenfalls, der auf Grundlage seiner Studie der geographischen Gegebenheiten in der Grenzregion zwischen Deutschland und Frankreich die Stoßrichtung der deutschen Offensive korrekt vorhersagte, antizipierte auch ihr Scheitern (vgl. MEW 13: 254).
- 4. Vgl. Stevenson 2004, 80.
- 5. Vgl. Stevenson 2004, 64ff.
- 6. Vgl. Stevenson 2004, 92ff. Die gewaltigen Verluste beschleunigten die klassenmäßige Neuzusammensetzung des Heeres: „Das Feldheer von 1916 war eine Milizarmee von vier Millionen Mann, in der alle Strömungen des deutschen Volkes sich widerspiegelten. Das Offizierskops setzte sich nur noch zum kleinen Teil aus der altpreußischen Aristokratie zusammen. (…) Die adligen Leutnants lagen tot in den Massengräbern an der Marne oder zerschossen in irgendeinem Lazarett. Der preußische Militäradel ist nicht erst im November 1918 gestürzt worden. Die furchtbaren Blutopfer des preußischen Adels bei der Westoffensive 1914 haben zugleich seine Machtstellung im Heer und im Reich vernichtet.“ (Rosenberg 1979, 103)
- 7. Die deutschen militärischen Strategen (und nicht nur sie) waren an einer Theorie des „kurzen Krieges“ orientiert, die davon ausging, dass die modernen kapitalistischen Produktionsverhältnisse durch langanhaltende kriegerische Handlungen zu sehr zerrüttet würden. Der Chef des preußischen Generalstabs Alfred Graf von Schlieffen begründete das Wagnis seines 1905 entworfenen „Schlieffen-Plans“ mit der Unmöglichkeit langer Kriege in Zeiten, in denen „die Existenz der Nation auf einem ununterbrochenen Fortgang des Handels und der Industrie begründet ist und durch eine rasche Entscheidung das zum Stillstand gebrachte Räderwerk wieder in Lauf gebracht werden muß.“ (Kehr 1965, 91) Er führte damit das militärische Denken des alten Moltke fort, der in gleicher Linie die „Kriegsführung als Funktion des Kapitalismus“ (Kehr 1965, 91) verstanden hatte. Die Entwicklung der Produktivkräfte im Bereich von Transport, Organisation und Kommunikation stellten die positive Bedingung für die Planspiele eines kurzen Krieges dar, erlaubten sie doch die schnelle Zusammenballung von Kräften und die frühe Herbeiführung einer Entscheidungsschlacht. (Kehr 1965, 90) Massive Geschütz- und Infanteriestellungen waren ein Novum, das die Militärtheoretiker davon abbrachte, den Durchbruch des gegnerischen Zentrums zu priorisieren. Stattdessen wurden nun die Flankierung und Umfassung der gegnerischen Kräfte zum „operativen Zentralproblem der deutschen Armee“ (Kehr 1965, 91).
- 8. Zu Beginn des Krieges verfügten die 900 größten Unternehmen über Rohmaterial für ein halbes Kriegsjahr. Für den in Landwirtschaft und Munitionsherstellung benötigten Stickstoff war das Reich auf chilenischen Salpeter-Importen angewiesen, die durch die englische Blockade verhindert wurden.
- 9. Feldman 1992, 45ff.
- 10. Feldman 1992, 51ff.
- 11. Vgl. Feldman 1992, 64.
- 12. Vgl. Feldman 1992, 77ff.
- 13. Zit. nach Wehler 2009, 116.
- 14. Wehler 2009, 31.
- 15. Ein von Karl Liebknecht im Juni 1915 verfasstes Protestschreiben an den Vorstand der SPD fand breite Unterstützung unter Partei- und Gewerkschaftsmitgliedern. Darin hieß es u.a.: „Immer klarer war zutage getreten, daß der Krieg nicht der Verteidigung der nationalen Unversehrtheit dient. Immer deutlicher hatte sich sein imperialistischer Eroberungscharakter offenbart. Immer ungeniertere Bekenntnisse zur Annexionspolitik wurden abgelegt. Zu den Äußerungen einflußreicher Drahtzieher des Kapitalismus traten Kundgebungen mächtiger kapitalistischer Wirtschaftsverbände“ (Dokumente und Materialien 1958, 170).
- 16. Stevenson 2004, 100ff.
- 17. Wehler 2009, 113.
- 18. Unter anderem forderten sie die Rüstungsproduktion innerhalb eines Jahres zu verdoppeln, den Militärdienst bis zum 50. Lebensjahr auszuweiten und Jugendliche ab 16 zu rekrutieren (vgl. Wehler 2009, 114).
- 19. Finanziert wurde die totale wirtschaftliche Mobilmachung dadurch, dass die Regierung die Geldmenge durch weitere Kredite erhöhte. Die Schulden des Reichs stiegen so von 300 Millionen Mark im Juli 1914 auf die gigantische Summe von 55.2 Mrd. Mark im Dezember 1918, womit sie den Boden für die inflationäre Entwicklung in der Zwischenkriegsperiode bereitete (vgl. Feldman 1992, 53ff., 154).
- 20. Vgl. Feldman 1992, 207ff.
- 21. Vgl. Kocka 1988, 32ff.
- 22. Vgl. Feldman 1992, 157.
- 23. Wehler 2009, 54. Über die genaue Höhe der Kriegsprofite liegt keine endgültige Einschätzung vor, jedoch scheint unstrittig, dass die Unternehmen jede Beschränkung ihrer Profite abwenden und riesige Gewinne einstreichen konnten. Wehler stellt heraus, dass die Nettoerträge der deutschen Aktiengesellschaften von 1913/14 bis 1917/18 um fast eine Milliarde Mark anstiegen, ihre Profite von 10,9 auf 13,7 Prozent des Gesamtkapitals und ihre Dividenden von 8,7 auf 10,1 Prozent wuchsen (Wehler 2009, 53).
- 24. Kocka 1988, 48ff. Das Bewusstsein dieses sich zuspitzenden Klassengegensatzes kommt gut zum Vorschein in einer an das Reichsamt des Inneren adressierten Eingabe des Zentralverbandes der Dachdecker: „Es geht so nicht weiter. Unsere Kollegen gehen körperlich zugrunde. Seit zwei Jahren steigen die Preise für Gebrauchsgegenstände in geradezu unverschämter Weise. (…) Daran ist jedoch nicht der Krieg, sondern die Gier nach Kriegsgewinn schuld! (…) Unsere Schränke, unsere Kästen sind leer, unsere Ersparnisse liegen in den Geldschränken der Wucherer. Unsere Kinder darben, es fehlt am Nötigsten. Das andere verkommt, weil nicht mehr gereinigt werden kann … es geht einfach über unsere Kraft…“ (Kocka 1988, 35ff.).
- 25. Vgl. Kocka 1988, 61. Während die Lage der Proletarier:innen in Wien ähnlich prekär und in St. Petersburg noch gravierender war, mussten die englischen und französischen Arbeiter deutlich weniger Entbehrungen ertragen (vgl. Stevenson 2004, 455).
- 26. Kocka 1988, 81.
- 27. Vgl. Kocka 1988, 63ff.
- 28. Vgl. Liebknecht: Gedanke und Tat. Schriften, Reden, Briefe zur Theorie und Praxis der Politik. 1976, 94ff.
- 29. Vgl. Miller 1974, 107ff.
- 30. Vgl. Miller 1974, 116ff.
- 31. Deren Führer Eduard David bekannte freudig: „Unsere Opposition scheint hoffnungslos geworden zu sein. Sie kommt nirgends zum Zug. In den Kommissionen und im Plenum führen unsere Leute das Wort.“ (Miller 1974, 117ff.)
- 32. Vgl. Miller 1974, 116ff.
- 33. Dokumente und Materialien, 594.
- 34. Dokumente und Materialien, 598ff.
- 35. Vgl. Kocka 1988, 70.
- 36. Die Alldeutschen waren einer der umtriebigsten völkischen Interessensverbände im deutschen Kaiserreich. Sie agitierten für Aufrüstung und eine aggressive imperialistische Außenpolitik, etwa in der sogenannten Marokko-Krise (siehe auch hier).
- 37. Vgl. Wehler 2009, 107.
- 38. Heinrich Claß der Vorsitzende der Alldeutsche und der BdL-Chef Conrad von Wagenheim gehörten ihrer Leitung an. Unter den Mitgliedern finden sich viele namhafte Industrielle wie Hugo Stinnes, Carl Duisberg, Alfred Hugenberg (Krupp-Direktor), Wilhelm v. Siemens, Ernst v. Borsig, Arthur Salononsohn von der Deutschen Bank und andere illustre Gestalten mehr (Wehler 2009, 125).
- 39. Wehler 2009, 108.
- 40. Auch nicht mittels der von den Alldeutschen Mitte September 1918 forcierten antisemitischen Agitation, die „die Lage zu Fanfaren gegen das Judentum und die Juden als Blitzableiter für alles Unrecht [nutzen wollte, um so] die Massen einzufangen.“ (Zit. nach Wehler 2009, 133)