„Die Selbsttätigkeit hat Potentiale freigesetzt“

06. Juli 2023

Die Tarifauseinandersetzungen im Öffentlichen Dienst zu Beginn des Jahres hatten es in sich. Vor dem Hintergrund von Krieg, Inflation und Energiekrise beteiligten sich bis zu eine halbe Million Arbeiter:innen an Streiks und die Gewerkschaften konnten sich in der Folge über mehrere Zehntausend neue Mitglieder freuen. Die Beschäftigten der Leipziger Verkehrsbetriebe waren Teil dieser, insbesondere in Ostdeutschland, überraschend großen Mobilisierung.

Wir haben mit Paul über die Gründe für die starke Mobilisierung, die Perspektiven einer ökologischen Verkehrswende in Ostdeutschland und die Rolle, die seine gewerkschaftliche Betriebsgruppe gespielt hat, gesprochen. Er arbeitet bei den Leipziger Verkehrsbetrieben und ist dort in der ver.di-Betriebsgruppe aktiv.

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Guter Streik, schlechtes Ergebnis: Ließe sich der Streik bei der LVB auf diesen Nenner bringen? Es wurden schließlich bei der Mobilisierung zahlreiche Rekorde gebrochen, so gab es zum ersten Mal seit der Wende in Leipzig einen 24stündigen Streik und es wurde auch ein Champions-League-Spiel bestreikt. Zugleich blieb der Tarifabschluss jedoch unter den Forderungen der Gewerkschaften. Kann man deshalb von einem Auseinanderklaffen von Streikstärke und Ergebnis sprechen? Hätte man den Druck noch erhöhen und mehr rausholen können?

So einfach lässt sich die Frage leider nicht beantworten. Zunächst: Die Auseinandersetzung hat den gesamten Öffentlichen Dienst betroffen, also rund 2,5 Millionen Beschäftigte. Formal waren wir als LVB nur durch einen sogenannten Partizipationsstreik beteiligt, weil die Ergebnisse des TVöD zwar übertragen werden, wir aber nicht im TVöD sind. Es stimmt: Die Mobilisierung war für unsere Verhältnisse herausragend. Wenn wir aber auf den gesamten Öffentlichen Dienst schauen, dann ist das Bild etwas weniger klar. Seit den 1990er Jahren wurde im Öffentlichen Dienst durch verschiedene Regierungen privatisiert und liberalisiert. Politisch erzeugter Kostendruck hat die Arbeitsbedingungen verschlechtert. Wichtige Teile wie die Bahn oder der Nahverkehr wurden aus dem TVöD herausgebrochen. In den 2000er Jahren folgten die Aufspaltung in TV-L und TVöD. Die Durchsetzungskraft der Gewerkschaften im Öffentlichen Dienst wurde also geschwächt, die Demoralisierung infolge der Verschlechterungen hat dann ihr Übriges getan, um den Organisationsgrad in diesem Bereich herabzudrücken.

Diese strukturelle Schwäche hat sich auch in der Streikbewegung geltend gemacht, die von relativ wenigen gut organisierten und mobilisierten Betrieben getragen wurde. Ob und wie in den verschiedenen Bereichen überhaupt für die Tarifrunde mobil gemacht wurde, war zudem über die verschiedenen Ver.di-Bezirke hinweg ziemlich unterschiedlich. In Leipzig und Berlin zum Beispiel wurde die Runde von den örtlichen Hauptamtlichen-Strukturen ganz anders aufgezogen als in vielen anderen Bezirken. Aber auch innerhalb der Bezirke gab es hinsichtlich der Betriebe ziemliche Unterschiede. So waren die LVB-Kolleg:innen im Rahmen der organisierenden Gremien und Versammlungen, also Arbeitsstreiks plus bezirkliche Arbeitskampfleitung, gegenüber allen anderen ÖD-Betrieben immer in der Überzahl. Große Teile wie die Stadtverwaltung waren so gut wie gar nicht repräsentiert oder mobilisierbar. Ähnlich scheint es nach meinem Eindruck aus der Ferne zum Beispiel auch in Berlin gewesen zu sein, wo die kampferfahrenen Kolleg:innen aus den Krankenhäusern und die durch Organizing mobilisierte Stadtreinigung eine führende Rolle gespielt haben.

Jedenfalls haben sich dieses Jahr deutlich mehr Leute beteiligt, gab es mehr Warnstreiks, aber eben ausgehend von einem sehr niedrigen Niveau und mit historischen Defiziten, die innerhalb einer solchen Auseinandersetzung nicht überwunden werden konnten. Trotzdem hätte die Bewegung Aussicht auf einen größeren Erfolg gehabt. Zehntausende Neueintritte, 100.000 in der ersten Jahreshälfte und eine steigende Beteiligung an den Streikaktionen sprechen dafür, dass ein Potential da war, das dann aber nicht voll genutzt wurde.

Warum war denn nun die Mobilisierung so erfolgreich, was lief dieses Mal anders?

Entscheidend für die erfolgreiche Mobilisierung sind aus meiner Sicht zwei Momente: einerseits der starke ökonomische Druck, dem viele Lohnabhängige ausgesetzt sind. Für viele haben die Preisschocks eine schmerzhafte Verarmung bewirkt und Sorgen hervorgerufen, wie sich die Lage weiterentwickeln würde. Gerade die Kollegen im Fahrdienst leiden außerdem erheblich unter ihren Arbeitsbedingungen, wie ein konstant hoher Krankenstand zeigt. Zum zweiten hatte ver.di diese Tarifrunde zumindest in einigen Bezirken ganz anders aufgezogen als die vorangegangene. In Leipzig und anderen Städten gab es eine großangelegte Kampagne zum Aufbau von Stärke, die mit mehreren Monaten Vorlauf anfing und unter dem Einsatz von Organizer:innen vorangetrieben wurde. Diese aktivierende und sich durchaus ambitioniert und kämpferisch gebende Ausrichtung der Auseinandersetzung hat viele Beschäftigte erreicht und ihnen das Gefühl gegeben, dass es ausnahmsweise mal um etwas geht und die Gewerkschaft auch bereit ist, dafür wirklich zu kämpfen.

Konkret sah die Mobilisierung dann so aus, dass zunächst sogenannte Stärketests durchgeführt wurden. Das ist ein Instrument des derzeit in Teilen der Gewerkschaften sehr beliebten Organizing-Ansatzes. Dabei wurden in den Betrieben zunächst Fordeurngen entwickelt und diskutiert, gefolgt von einer Petition für diese Forderungen, für die eine Mehrheit gewonnen werden sollte. Mit Beginn der heißen Phase wurde dann die relativ neue Taktik von sogenannten Arbeitsstreiks angewandt. Das sind Warnstreikaufrufe, die sich nur an den aktiven Teil der Kolleg:innen richten. Die kommen zusammen, um Streiks und Demos zu organisieren, über den Fortgang der Verhandlung zu diskutieren oder weitere Kollegen zu mobilisieren. Überhaupt wurde die Organisation des Streiks zu gewissen Teilen in die Hände der Beschäftigten gelegt. In den verschiedenen Betriebsteilen wurden Gruppen aufgebaut, die die Streikposten vor Ort organisiert haben. Eine betriebliche und eine bezirkliche Arbeitskampfleitung bestehend aus Delegierten der Betriebe wurde ins Leben gerufen und sollte zumindest viele der vor allem handwerklichen Fragen selbst lösen. Diese Versammlungen wurden zu Orten der Selbsttätigkeit und Diskussion. Diese Selbsttätigkeit hat enorme Energie und Potentiale bei den aktiven Kolleg:innen freigesetzt. Der Streik wurde tatsächlich von der Belegschaft getragen und konnte so auch viele der zunächst Skeptischen mitreißen. Wobei einschränkend auch gesehen werden muss, dass Bezirke wie Leipzig und Berlin hier eine Ausnahme waren – in anderen Bezirken haben die Hauptamtlichen wohl eher am gewohnten Trott festgehalten.

Den größeren Rahmen hat außerdem durchgängig die ver.di-Bundesebene gesetzt. Wie viele Streiktage es zu welchem Zeitpunkt der Verhandlungen geben sollte, konnten die Betroffenen nur bedingt beeinflussen. Ebenso wenig wurde an der vereinbarten Schlichtung gerüttelt, die die Auseinandersetzung nach der dritten Verhandlungsrunde ins Geheime verlagert und die Kollegen durch die Friedenspflicht für geraume Zeit demobilisiert hat.

Wie hat denn die Leipziger Bevölkerung reagiert? Gab es da auch mehr Verständnis für den Streik?

Der Eindruck von den Streikposten war in dieser Hinsicht überaus positiv. Leute kamen vorbei und haben Lebensmittel vorbeigebracht oder für die Streikkasse gespendet. Auch viele Linke haben den Streik unterstützt, haben sich regelmäßig an den Streikposten und auf den Demos eingefunden. Darüber hinaus gab es einige Gelegenheiten für Gespräche mit Beschäftigten aus anderen Betrieben, die mit dem Streik nicht nur sympathisiert, sondern auch die Chance ergriffen haben, sich über die Möglichkeit von Betriebsratsgründungen bei ihren Unternehmen auszutauschen. Es wird vermutlich nicht viel daraus gefolgt sein, aber die Leute haben den Streik bei uns auf ihre Situation bezogen und sich darin wiedererkannt. Das ist auch schon mal etwas. Und wenn man den Umfragen Glauben schenken kann, dann blieb die Zustimmung zum Streik bis zuletzt ziemlich hoch, und das trotz einer sich verschärfenden öffentlichen Stimmungsmache gegen die Streikenden.

Wie ist Ver.di mit dieser überraschend starken Mobilisierung umgegangen?

Nun, das war eine Mobilisierung, die Ver.di ja selbst hervorgerufen hatte, insofern war sie gar nicht in der Verlegenheit, auf etwas Unvorhergesehenes reagieren zu müssen. Vielleicht kann man eher fragen: Warum haben die überhaupt eine so aufwendige und kämpferische Tarifrunde auf die Beine gestellt? Es scheint offensichtlich, dass die hohe Inflation und die heftigen Reallohnverluste der Kolleg:innen natürlich Druck auf die Gewerkschaften ausgeübt haben. Im Öffentlichen Dienst kommt jedoch hinzu, dass es den Arbeitgeber:innen bei der letzten Tarifverhandlung unter Corona-Bedingungen gelungen ist, einen üblen Tarifabschluss durchzudrücken (3 Prozent mehr Lohn über 28 Monate). Mit ihrer Entscheidung, sich dem Wirtschaftskrieg gegen Russland zu verschreiben, die Aufrüstung voranzutreiben und an der Schuldenbremse festzuhalten, hat die Regierung deutlich gemacht, dass Lohnsteigerungen im Öffentlichen Dienst nicht auf ihrer Prioritätenliste stehen. Die kommunalen Betriebe verweisen auf ihre klammen Kassen und haben sich in den Verhandlungen überaus hartnäckig gezeigt. Die Mobilisierung ließe sich also verstehen als ein Versuch, unter schwierigen politischen Bedingungen und mit geringer Kampfkraft einen Abschluss zu erreichen, der der tiefen Demoralisierung und dem Bedeutungsverlust der Gewerkschaft im Öffentlichen Dienst Einhalt gebietet.

Gleichzeitig ist damit auch angedeutet, warum die Ver.di-Führung und auch die Hauptamtlichen die Mobilisierung nicht weiter vorangetrieben haben, warum sich in der Tarifkommission schließlich der Kompromissflügel durchsetzen konnte. Während der Auseinandersetzung wurde deutlich, wie entschlossen Teile der kommunalen Arbeitgeber:innen waren. Selbst nach der Schlichtung haben zum Beispiel die sächsischen versucht, die Übertragung der sogenannten Inflationsausgleichszahlung auf die beteiligten Verkehrsbetriebe zu verhindern. Dazu kommt, dass auch die Gerichte während der letzten Monate weitergehende Streikmaßnahmen teilweise blockiert haben, etwa als am Tag des großen Verkehrsstreiks der Streik im Elbtunnel verboten wurde oder als die EVG zuletzt von Gerichts wegen ihren Streikaufruf zurückziehen musste. Die Angst, dass bei anhaltender Verweigerung der Arbeitgeber:innen die Streikfront kollabieren würde, erscheint vor dem Hintergrund der strukturellen Schwäche gegenüber den Arbeitgebern nachvollziehbar. Einen Vollstreik im Öffentlichen Dienst gab es zuletzt 1992 und damals noch unter Beteiligung von wichtigen Betrieben wie der Bundesbahn.

Es hat somit nicht nur an Schlagkraft gefehlt, sondern bei den führenden Personen auch an Erfahrung, wie ein solcher Vollstreik überhaupt zu organisieren und durchzusetzen wäre. Auf der anderen Seite hatte die DGB-Spitze selbst den Vorstoß der Regierung für eine Einmalzahlung als Ersatz für Lohnsteigerungen im Rahmen der Konzertierten Aktion abgenickt. Ver.di wiederum hat dann das Votum der Postkolleg:innen für den Erzwingungsstreik als Zeichen dafür interpretiert, die Verhandlungen aufzunehmen und dort diesen Kuhhandel einzugehen. Und das Ergebnis bei der Post wurde dann von Arbeitgeber-Seite natürlich sofort als Gradmesser für unsere Verhandlung durchgesetzt.

Dass die Auseinandersetzung nicht weitergetrieben werden konnte, hat aber auch tieferliegende Gründe: einmal die Hegemonie einer sozialpartnerschaftlichen Orientierung in den führenden Institutionen der Gewerkschaft. Das niedrige Niveau der Auseinandersetzungen in den letzten Jahrzehnten hat sich aber auch in den ehrenamtlichen Gremien niedergeschlagen. Es sitzen da also Leute in der Tarifkommission, die in einer Zeit gewählt wurden, wo wenig passiert ist und die schlicht nicht Schritt halten konnten oder wollten mit der Bewegung. Der Leipziger Delegierte hat es tatsächlich erst nach dem Scheitern der Verhandlungen geschafft, einmal auf einer der zahlreichen Streikversammlungen zu erscheinen. Letztlich spiegelt die Bundestarifkommission den Stand der gewerkschaftlichen Bewegung mit einer gewissen Verzögerung wider. Durch die vorangegangenen Kämpfe beispielsweise der Berliner Krankenhausbewegung konnten dort kämpferische Kolleg:innen in die Kommission entsendet werden, blieben aber in einer Minderheit.

Und schließlich leiden die zuletzt in Bewegung geratenen Belegschaften unter einem Mangel an Erfahrung und Selbstbewusstsein, der im Verlauf einer Tarifrunde nicht einfach überwunden werden konnte. Der Klassenantagonismus ist durch die Abwälzung der Preisschocks auf die Lohnabhängigen stärker als zuvor erfahrbar geworden. Davon zeugen viele persönliche Gespräche, aber auch die Resonanz, die entsprechende Verallgemeinerungen und Zuspitzungen zum Beispiel in Form von Reden gefunden haben. Gleichzeitig mangelt es aber an einer gewachsenen und stabilen politischen Identität und Bewusstheit, die nötig gewesen wäre, um den Kampf von unten zu führen. Da Ver.di sich mit einem wenig verhandlungsbereiten Gegner konfrontiert sah, musste ganz anders mobilisiert werden: Es wurde die Selbsttätigkeit der Kollegen gefördert und die notwendige gemeinsame Identität stärker forciert. Beides – Selbsttätigkeit und kollektive Identität – verblieb aber weitgehend in dem Rahmen, den die Gewerkschaft gesetzt hat.

Als von dieser Seite dann der drohende Einbruch der Streikfront erklärt und der Kompromiss verklärt wurde, hat sich, zumindest bei uns, die Furcht breit gemacht, bei einer weiteren Eskalation alles zu verlieren. Ein möglicher Erzwingungsstreik erschien mit einem Mal als die größte Gefahr. Die ver.di-Führung war zu einem solchen Streik offenbar nicht bereit, hatte man doch einen Kompromiss, der sich mit Ach und Krach als Teilerfolg verkaufen ließ. Für einen solchen hätte es eine größere Risikobereitschaft gebraucht und eine Kraftanstrengung, um die Belegschaften, aber auch die Ver.di-Strukturen vor Ort, auf einen richtigen Kampf einzustellen. In den Belegschaften dagegen fehlte es an Bewusstsein und Selbstvertrauen, um die Spitze und die wankelmütigen Kolleg:innen in einen Erzwingungsstreik zu ziehen. So bleibt im Endeffekt für 2023 eine Nullrunde und für 2024 eine Lohnsteigerung, die im Angesicht der hohen Inflation und der starken Mobilisierung ernüchternd ist.

Wir haben zuletzt auf unserem Blog über das Mobilitätswendecamp in Wolfsburg berichtet, dort wird für eine Umstellung der Automobilindustrie von Individualverkehr auf öffentlichen Nahverkehr demonstriert und gestritten. Inwiefern beziehen sich Eure Kolleg:innen auf diese Rolle der öffentlichen Verkehrsbetriebe in der Auseinandersetzung um eine ökologische Verkehrswende, sowohl während des Streiks wie auch allgemein? Spielt der Klimawandel eine Rolle?

Das ist eine vertrackte Angelegenheit. Die reaktionäre politische Grundstimmung in Sachsen ist auch bei uns spürbar. Ökologische Fragen sind in Teilen der Belegschaft ein Reizthema, aufgeladen durch die erfolgreiche ideologische Verschiebung des Klassenkonflikts zu einem Kulturkonflikt, der die wesentlichen Zusammenhänge ausblendet, sich dafür umso rabiater artikuliert. Gleichzeitig gibt es das Interesse am Ausbau oder zumindest einer besseren Finanzierung des ÖPNV. Durch die Bündnisarbeit, die die linken Teile der Klimabewegung seit 2020 forcieren, ist das Thema außdem konstant präsent und wurde an den Streikposten immer wieder diskutiert.

Ver.di hat mittlerweile ein Bündnis auf oberster Ebene mit der Klimabewegung geschlossen, das unter dem Namen “Wir fahren zusammen” firmiert. Durch dieses Bündnis kam es dieses Jahr zu einem zumindest symbolischen Ereignis: Verkehrsbeschäftigte und Klimaaktivist:innen haben zum ersten Mal am selben Tag und gemeinsam gestreikt. Am 3.März wurde zum globalen Klimastreik und zum Warnstreik in den beteiligten Verkehrsunternehmen aufgerufen. Es kam zu gemeinsamen Aktionen an den Streikposten und ein kleiner Gewerkschaftsblock fand sich auf der Klimademo ein. Ein Bewusstseinswandel zeichnet sich bei manchen Beschäftigten durchaus ab, sowohl was die Offenheit gegenüber der linken Klimabewegung angeht als auch für ökologische Forderungen. Der Einfluss der konformistischen Rebellion von rechts bleibt stark, aber zumindest werden die so gestreuten Vorurteile von einer größeren Zahl von Leuten zurückgewiesen. Eine politische Kraft, die die alltäglichen Leiden systematisch erklären und eine überzeugende Vision für ihre Überwindung anbieten könnte, ist leider nicht in Sicht, und das macht es nicht einfacher, diese Auseinandersetzung zu gewinnen.

Wie sah nun eure Arbeit als Betriebsgruppe innerhalb des Streiks aus? Welche Rolle habt ihr gespielt?

Die vermutlich größte Rolle hat unsere Betriebsgruppe als eigenständiger Zusammenschluss gespielt, bevor der Streik richtig in die Gänge kam. Auf einer außerordentlichen Betriebsversammlung im Herbst letzten Jahres konnten wir in einer Rede die Missstände im Betrieb unter dem Applaus von hunderten Kolleg:innen anprangern und damit einen Startschuss für die Tarifrunde geben. Viele waren begeistert davon, dass die vielfältigen Unzufriedenheiten in einer konfrontativen Weise gegenüber der Geschäftsführung artikuliert wurden, einige wurden aufgrund der Rede gewerkschaftlich aktiv. In der Mobilisierungsphase haben wir Unterschriften für die Petition gesammelt, Flugblätter verteilt und einfach viel Zeit in den Pausen- und Büroräumen im Gespräch mit den Kolleg:innen verbracht. Als der Streik anfing, wurden die meisten Aktiven in die Delegiertenstrukturen gewählt und dann durch die Arbeit dort oder vor Ort aufgesogen. Die zusätzlichen Treffen der Betriebsgruppe fielen entweder Überlastung oder kollidierenden Terminen zum Opfer. Zu Beginn haben wir es noch geschafft, gemeinsam Reden zu schreiben, aber zuletzt waren Resolutionen, Reden und andere Interventionen fast nur noch der Initiative von Einzelnen zu verdanken.

Die Rolle, die die Betriebsgruppe oder Teile von ihr in dieser Phase gespielt haben, war die einer gewissen politischen Führung, während sie organisatorisch zunehmend an Bedeutung verloren hat. In diesen Interventionen wurde versucht, die Auseinandersetzung aus dem teils berufsständischen Interpretationsrahmen hinaus zu bewegen und sie als Teil einer Klassenauseinandersetzung durchsichtig zu machen und zuzuspitzen. Dabei wurde zum Beispiel auch gefordert, die verschiedenen Streikbewegungen von Post, Bahn und ÖD zu koordinieren, und auf die Kontrolle der Verhandlungs- und Bundestarifkommission durch die Streikdelegierten gedrängt. Diese Vorstöße waren symbolischer Natur, weil sie von keinem bedeutenden Kern von betrieblich Aktiven getragen wurden. Aber während der Hochphase der Bewegung hatten sie einen großen Widerhall. Wie schwach unser Einfluss letztlich geblieben ist, lässt sich auch daran ablesen, mit welcher Leichtigkeit der Streik nach der Schlichtung vor Ort abgewickelt werden konnte. Diejenigen, die gegen die Annahme des Schlichtungsergebnisses waren, sind blieben trotz der starken Zuspitzung zuvor in der Minderheit geblieben.

Wie war Euer Verhältnis zum Gewerkschaftsapparat während des Streiks?

Als Ver.di-Betriebsgruppe pflegen wir ein relativ enges, wenn auch nicht ganz reibungsloses Verhältnis mit dem hauptamtlichen Apparat von ver.di. Während wir unter normalen Bedingungen aber hauptsächlich mit unserem Gewerkschaftssekretär zusammenarbeiten, sind während des Streiks die zu uns entsandten Organizer:innen auf den Plan getreten, und mit denen haben wir ziemlich intensiv zusammengearbeitet. Während der Aufschwungphase der Bewegung gab es keine nennenswerten Interessenkonflikte.

Natürlich sind die Resolutionen zur Bindung der Kommissionsmitglieder nicht bei allen Hauptamtlichen auf Gegenliebe gestoßen, aber da sie folgenlos waren, gab es da kein Konfliktpotential. Zum Konflikt kam es erst über das Ergebnis der Schlichtung, als führende Personen aus dem Hauptamt für viele eine überraschende Kehrtwende hingelegt und plötzlich einen Kompromiss verteidigt haben, gegen den wir wochenlang gemeinsam Argumente geschärft hatten. Das war für manche ein einem Schock, der zu Desorientierung geführt hat. Die vereinzelten Konfrontationen waren kurz und heftig, aber ohne große Folgen. Jetzt arbeiten wir aber natürlich weiter als Betriebsgruppe in ver.di. Bei manchen Kolleg:innen hat sich aber ein Bewusstsein darüber eingestellt, das Ver.di selbst keine homogene Struktur ist und Richtungskonflikte sich auch durch die Gewerkschaftsbewegung ziehen, sei es innerhalb der Gewerkschaft, zwischen Gewerkschaft und Belegschaft, oder auch innerhalb der Belegschaften selbst.

Haben die Streiks eine Basis für kommende Auseinandersetzungen geschaffen, oder konnten die Gewerkschaften die Wut kanalisieren und sozialpartnerschaftlich einhegen?

Wie ich schon meinte, muss man eher davon sprechen, dass der Unmut durch die Mobilisierung von Ver.di überhaupt zum ersten Mal einen produktiven Ausdruck gefunden hat. Anstatt den Frust in sich reinzufressen, zu resignieren oder vor sich hin zu schimpfen, haben Kollegen sich organisiert, gestreikt, diskutiert, demonstriert und ein bisschen was durch diesen Kampf gewonnen. Aus Protest gegen den Abschluss sind einzelne Kollegen ausgetreten. Die meisten scheinen zumindest bei uns einigermaßen zufrieden mit dem Ergebnis, das bei uns aufgrund vorangegangener und nachwirkender Abschlüsse auch besser ausfällt als im Öffentlichen Dienst selbst. Viele haben sich zu unserem Bedauern vorerst wieder zurückgezogen.

Das Bleibende sind aber die Aktivenstrukturen und Kommunikationskanäle, die während der Bewegung entstanden sind und mit denen wir hunderte Kollegen direkt erreichen können. Die Betriebsgruppe ist von einer weitgehend unbedeutenden Randerscheinung zu einem Ort des Austauschs für eine wachsende Anzahl an betrieblich Aktiven geworden. Schließlich haben wir die verschiedenen, in den unterschiedlichen Phasen entstandenen Strukturen zusammengeführt und damit – so hoffen wir zumindest – auch eine langfristig tragfähige Struktur für die betriebliche Arbeit geschaffen. Insofern muss man auf die Frage wohl antworten: beides. Die Basis für weitere Auseinandersetzung wurde verbessert, diese Auseinandersetzungen bewegen sich jedoch auf absehbare Zeit in einem sozialpartnerschaftlichen Rahmen.

Damit sich das ändert, bräuchte es ein größeres Netz von Aktiven in den Betrieben, die sich das theoretische und praktische Rüstzeug angeeignet haben, das notwendig ist, um als weitertreibende Kraft in solchen Kämpfen zu wirken. Da eigenständige betriebliche Strukturen mit einer solchen Orientierung und den entsprechenden Kapazitäten quasi nirgends existieren, wäre eine zielgerichtete Unterstützung von außen umso wichtiger. Davon kann bislang aber kaum die Rede sein. Kuchen zum Streikposten bringen und sich an Demos beteiligen, ist noch keine gezielte Aufbauarbeit. Wie schwach und wenig verbunden die bewussteren Kräfte derzeit sind und wie zufällig die Unterstützung von Seiten der organisierten Linken ist, hat die ÖD-Runde jedenfalls deutlich werden lassen. Es gibt also einiges zu lernen und zu tun.