Der antiautoritäre Pestalozzi – Otto Rühle zum 150. Geburtstag

23. Oktober 2024

Am 23. Oktober 1874 wurde der Pädagoge und Revolutionär Otto Rühle in Groß-Voigtsberg bei Freiberg in Sachsen geboren. Während des Kaiserreichs und der Weimarer Republik gehörte er zu den bekanntesten Vertreter:innen der Arbeiterbewegung und auch in den Erziehungswissenschaften hatte er sich einen Namen gemacht. In der Zeit des NS-Faschismus wurde er ins Exil getrieben, in der Nachkriegszeit schließlich fiel er dem Vergessen anheim. Erst mit der Revolte Ende der 1960er Jahre erfuhr Otto Rühle eine kleine Renaissance, als sich die antiautoritäre Bewegung, aber auch die Bildungswissenschaften erneut mit seinen Gedanken beschäftigten. Doch mit dem Niedergang der Linken in den letzten Jahrzehnten wurde auch Rühle erneut vergessen. Deshalb soll hier zu seinem 150. Geburtstag an ihn erinnert werden.

„Die Revolution ist keine Parteisache!“

Otto Rühle war Volksschullehrer in Sachsen, aber als aktiver Freidenker und Sozialdemokrat wurde er aus dem Schuldienst entlassen. In der Folge arbeitete er für die Partei. Erst als Redakteur und Journalist für die sozialdemokratische Presse, dann als SPD-Wanderlehrer. Durch seine Vorträge und Schriften, vor allem zu den Themen einer nichtautoritären Erziehung, wurde er reichsweit bekannt. Mit seiner 1911 erschienenen Monographie „Das proletarische Kind“1 legte er als erster eine schonungslose und realistische Schilderung der Lebensbedingungen der Kinder der Arbeiterklasse vor. Das Buch erreichte eine hohe Auflage und Rühle wurde innerhalb der Sozialdemokratie als der „deutsche Pestalozzi“2 bekannt.

1912 wurde er als Abgeordneter in den Reichstag gewählt. Dort gehörte er zusammen mit Karl Liebknecht zum linken Flügel der SPD. Dies zeigte sich eindrücklich 1915. als nur die beiden gegen die Bewilligung der Kriegskredite stimmten. Zusammen gehörten beide zum Gründungskreis des „Spartakusbundes“. Während der Revolution war Rühle Vorsitzender des Arbeiter- und Soldatenrates in Dresden, legte diese Funktion aber schon nach wenigen Tage wieder nieder, da er sich weigerte, mit Vertreter:innen der SPD und der USPD zusammenzuarbeiten. Als Beauftragter der „Internationalen Kommunisten Deutschlands“ war er Delegierter auf dem Gründungsparteitag der KPD. Dort brachte er folgenden Antrag ein:

„Die Reichskonferenz der Spartakusbundes lehnt die Beteiligung an den Wahlen zur Nationalversammlung mit Entschiedenheit ab, verpflichtet ihre Anhänger im Reiche zur Wahlenthaltung und ruft sie auf, das Zustandekommen und die gegenrevolutionäre Tätigkeit dieses Parlaments mit allen Mitteln zu verhindern.“3

Der Antrag wurde angenommen und die KPD damit als antiparlamentarische Revolutionspartei gegründet. Doch schon auf dem zweiten Parteitag im Oktober 1919 in Heidelberg setzte sich die KPD-Minderheit um Paul Levi mit tatkräftiger Unterstützung der Bolschewiki, die ihre Autorität als erfolgreiche Revolutionär:innen einbrachten, durch. Sie kippten den Rühle-Beschluss und verpflichteten ihre Mitglieder zur gewerkschaftlichen und parlamentarischen Politik. Die Mehrheit der Mitglieder verließ daraufhin die Partei. Otto Rühle wurde auf dem dritten Parteitag im Februar 1920 offiziell ausgeschlossen. Doch blieb er weiterhin sehr rührig und beteiligte sich sowohl an der Gründung der „Allgemeinen Arbeiter Union“ (AAU) als revolutionärer Betriebsorganisation wie auch am Aufbau der „Kommunistischen Arbeiterpartei Deutschlands“ (KAPD). Zu dieser Zeit veröffentlichte er einen Aufsatz, der auf seinen Erfahrungen in der SPD und der KPD beruhte und dessen Titel zum geflügelten Wort werden sollte: „Die Revolution ist keine Parteisache!“ Warum er trotz dieser prinzipiellen Parteienkritik dennoch Mitglied der KAPD wurde, begründete er so: „ Sie ist eine politische Organisation. Aber keine politische Partei. Keine Partei im überlieferten Sinne.“4 Die KAPD wurde also, wie einst die KPD, als Organisation für den revolutionären Aufstand gegründet und nicht für die Teilnahme am parlamentarischen Procedere.

Als Delegierter der KAPD nahm er zusammen mit August Merges am zweiten Weltkongress der Komintern in Moskau teil. Allerdings lehnten beide die dogmatisch-leninistischen Aufnahmebedingungen der Komintern ab, und als die KAPD daraufhin nur einen beobachtenden Status ohne Stimmrecht bekommen sollte, reisten sie bereits vor Beginn des Kongresses wieder ab. Als das Exekutivkomitee der Komintern der KAPD daraufhin doch noch die Teilnahme mit Stimmrecht anbot, reisten aus Deutschland Jan Appel und Franz Jung nach Moskau. Für ihre Fahrt in die russische Hauptstadt entführten die beiden Kommunisten ein Dampfschiff, die Senator Schröder. In Moskau angekommen, verlangte die Komintern als Bedingung für die Aufnahme der KAPD den Ausschluss Rühles aus der Partei. Dies lehnte die KAPD, trotz heftiger Kritik an dessen frühzeitiger Abreise aus Moskau, entrüstet ab und berief Rühle stattdessen in ihr Zentralkomitee. Doch die vielen negativen Erfahrungen in der revolutionären Bewegung ernüchterten Otto Rühle zusehends. Nachdem er intern harte Kritik an der Politik der KAPD geäußert hatte, wurde er doch noch aus der Partei ausgeschlossen. Fortan engagierte er sich für die „Allgemeine Arbeiterunion Einheitsorganisation“ (AAU-E), die die Trennung in wirtschaftlichen Kampf (Gewerkschaft oder Betriebsorganisation) und politischen Kampf (Partei) aufheben wollte. Außerdem schrieb er in der Zeitschrift Die Aktion seines Freundes Franz Pfemfert. Er blieb also Teil des links- und rätekommunistischen Milieus.

Der autoritäre Mensch und die Revolution

Doch schwerpunktmäßig wendete er sich wieder der Pädagogik zu. Auslöser dafür war die Bekanntschaft mit Alice Gerstel, die 1921 seine zweite Frau wurde. Sie machte ihn mit der Individualpsychologie Alfred Adlers bekannt, die für Rühles weitere pädagogischen Schriften prägend werden sollte. In der Verbindung der Gedanken Adlers mit der Gesellschaftskritik von Karl Marx wollte Rühle erklären, warum die Revolution im Westen scheiterte und im Osten degenerierte. So schrieb er etwa über die Entwicklung in der Sowjetunion:

„In Rußland hat das Rätesystem seine staatspolitische Priorität und Selbständigkeit, die es am Anfang besaß, nicht aufrechterhalten können. Wahrscheinlich waren die Menschen den Anforderungen, die das System an sie stellt, nicht gewachsen.“5

Henry Jacoby und Ingrid Herbst fassen Rühles Analyse so zusammen:

„Als Ursache des Scheiterns der proletarischen Revolution sah er die massenhafte Verbreitung ‚autoritärer Menschen‘. Deren Existenz sei nicht auf individuelle Verfehlungen zurückzuführen, sondern sei zwangsläufiges Ergebnis des kapitalistischen Zeitalters, das ökonomisch auf Privateigentum und Privatwirtschaft beruhe und sich philosophisch als ‚Zeitalter des Individualismus‘ charakterisieren lasse.“6

Rühle entwickelte in seiner Analyse des Scheiterns der Revolution Parallelen zu den Forschungen der Kritischen Theorie. Diese war entstanden aus der Enttäuschung über die Niederlage der Revolution und entwickelte ihre Überlegungen zur autoritären Persönlichkeit anhand der Fragestellung, wie es möglich sein konnte, dass die Proletarisierten entgegen ihrer objektiven Interessen handelten. Der entscheidende Unterschied zwischen beiden Ansätze ist Rühles Bezug auf die Individualpsychologie Alfred Adlers und seine Ablehnung der Psychoanalyse Sigmund Freuds.

An dieser Entwicklung Otto Rühles übten seine rätekommunistischen Genoss:innen scharfe Kritik. Franz Pfemfert kündigte ihm die Freundschaft und Paul Mattick schrieb:

„Otto Rühle war, von unserem Standpunkt aus und unglücklicherweise der erste, der die populären Ideen von Marx in die neue Sprache der bürgerlichen Soziologie und Psychologie übersetzte. In seinen Händen wurde nun die materialistische Geschichtsauffassung zur ‚Soziologie‘, soweit sie von Gesellschaft handelte; soweit vom Individuum die Rede war, wurde sie nun ‚Psychologie‘ […]“.7

Unbeirrt von dieser Kritik stürzten sich Otto Rühle und Alice Rühle-Gerstel in ihre Aufgabe, eine nichtautoritäre Erziehung für proletarisierte Kinder zu schaffen. Sie gründeten pädagogische Zeitschriften und entwickelten reformpädagogische Projekte. Die Machtübertragung an die NSDAP beendete aber alle derartigen Versuche. Nach einem Zwischenstopp in Prag, der Heimatstadt Alice Rühle-Gerstels, emigrierte das Paar 1936 nach Mexiko. In der dortigen sozialistischen Regierung erhielten sie Posten im Bildungsministerium, wo sie Unterrichtspläne für die mexikanischen Schulen entwerfen sollten. Doch durch den wachsenden Einfluss der Stalinist:innen verlor das Ehepaar Rühle-Gerstel diese Positionen wieder. Diese Erfahrung bestätigte Rühle in seiner antiautoritären und antitotalitären Kritik am Stalinismus. In seiner bereits 1931 unter dem Pseudonym Carl Steuermann geschriebenen Studie „Weltkrise – Weltwende. Kurs auf den Staatskapitalismus“8 kritisierte er, ganz ähnlich wie später Max Horkheimer in seinem Aufsatz „Autoritärer Staat“9, die globale Tendenz zur autoritär-staatlichen Intervention in die Ökonomie. Er verwies dabei sowohl auf die Sowjetunion als auch auf faschistische Konzepte für Staat und Wirtschaft. 1939 veröffentlichte er dann Brauner und Roter Faschismus“.10

Im mexikanischen Exil lernte er Leo Trotzki kennen. Diesem Zusammentreffen verdankte Rühle seine Berufung als Beisitzer im so genannten Dewey-Tribunal, in dem die stalinistischen Propagandalügen über den Trotzkismus entlarvt wurden. Doch trotz dieser Verteidigung Trotzkis gegenüber den sowjetischen Angriffen lehnte er dessen politische Vorstellungen weiterhin ab. So„hartnäckig wie Trotzky die Allgemeingültigkeit des bolschewistischen Parteiprinzips verteidigte, bestand Rühle auf dem antiautoritären und demokratischen Charakter der sozialistischen Transformation der Gesellschaft.“11

  • 1. Otto Rühle, Das proletarische Kind.
  • 2. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Kritische Theorie einer emanzipativen Praxis. Konzepte marxistischer Erziehungs- und Bildungstheorien,  Beltz Juventa, Weinheim, Basel 2019, S. 150.
  • 3. Zitiert nach: Philippe Bourrinet, Biografisches Lexikon des deutschen Rätekommunismus 1920-1960, Die Buchmacherei, Durchgesehene und erweiterte Auflage, Berlin 2024, S. 225f.
  • 4. Otto Rühle, Die Revolution ist keine Parteisache!, in: Frits Kool (Hrsg.), Die Linke gegen die Parteiherrschaft. Dokumente der Weltrevolution, Band 3, Büchergilde Gutenberg, Frankfurt am Main/Wien/Zürich 1970, S. 333.
  • 5. Otto Rühle, Baupläne für eine neue Gesellschaft. Mit einem Vorwort und einem Essay „Utopie als Gegenbild“ erstmals aus dem Nachlaß herausgegeben von Henry Jacoby, Rowohlt, Reinbeck bei Hamburg 1971, S. 155.
  • 6. Henry Jacoby und Ingrid Herbst, Otto Rühle zur Einführung, Junius Verlag, Hamburg 1985, S. 55f.
  • 7. Paul Mattick, Otto Rühle und die deutsche Arbeiterbewegung, in Institut für Praxis und Theorie des Rätekommunismus (Hrsg.), Bibliothek der Rätekommunisten Band 1, Berlin 1970, o. S.
  • 8. Carl Steuermann, Weltkrise – Weltwende. Kurs auf den Staatskapitalismus, Fischer Verlag 1931.
  • 9. Max Horkheimer, (1940/42), Autoritärer Staat, in: Gunzelin Schmid Noerr (Hrsg.), Max Horkheimer. Gesammelte Schriften Band 5, „Dialektik der Aufklärung“ und Schriften 1940-1950, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1987, S. 293-319.
  • 10. Otto Rühle, Brauner und Roter Faschismus, Syndikat A, Moers, o. J.
  • 11. S. Franck, zit. nach: Wolfgang Kutz, Der Erziehungsgedanke in der marxistischen Individualpsychologie. Pädagogik bei Manés Sperber, Otto Rühle und Alice Rühle-Gerstel als Beitrag zur Historiographie tiefenpsychologisch geprägter Erziehungswissenschaft, Ulrich Schallwig Verlag, Bochum 1990, S. 177.