»Streik muss emanzipieren.«

05. Februar 2023

Der Streik in den landeseigenen Berliner Kliniken 2021 geht alleine schon wegen seiner Länge von mehr als 30 Tagen in die Geschichte der Krankenhausbewegung ein. Bemerkenswert war außerdem, dass nicht die Lohnhöhe, sondern die katastrophale Personalsituation in den Krankenhäusern im Zentrum stand. Zum ersten Mal haben die Beschäftigten der beiden größten Klinikbetreiber Vivantes und Charité gemeinsam für einen Entlastungstarifvertrag und die Anwendung des Tarifvertrags für den öffentlichen Dienst (TVÖD) in den Vivantes-Tochterunternehmen gestreikt. Ver.di hat mit dutzenden Organizer:innen während des Streiks unterschiedliche Strukturen auf die Beine gestellt, um die einzelnen Beschäftigen zu motivieren und aktiv am Streikgeschehen zu beteiligen. Das Ergebnis des Tarifvertrags wurde von vielen Seiten bejubelt. Ein „Meilenstein der Entlastung“ sollte laut ver.di-Verhandlungsführerin Melanie Guba mit dem Tarifvertrag bei der Charité gesetzt werden. Im Gegensatz zu bisherigen Tarifabschlüssen ist es den Kolleg:innen vor allem gelungen, als Belastungsausgleich für unterbesetzte Schichten entweder eine finanzielle Entschädigung oder zusätzliche freie Tage zu erkämpfen.

Wie sieht es aktuell tatsächlich auf den Stationen aus? Und was ist bei den Beschäftigten von der Dynamik des Streiks geblieben? Darüber haben wir mit einem Krankenpfleger gesprochen, der seit über zwanzig Jahren bei der Charité beschäftigt ist und auf verschiedenen Stationen gearbeitet hat.

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Wie ist mehr als ein Jahr nach dem Streik die Lage bei euch? Hat sich die Personalsituation auf den einzelnen Stationen tatsächlich verbessert und wurde das Vereinbarte umgesetzt?

Es gibt auf jeden Fall Bereiche, in denen sich die Situation verbessert hat. Man hört jedoch auch ziemlich oft, dass sich, wie von vielen von uns erwartet, in dieser recht kurzen Zeit nichts wirklich im Sinne einer Entlastung durch mehr Personal gebessert hat. In letzter Zeit hat die Presse vor allem über die Situation auf den Kinderstationen berichtet, denn auch dort wurde in so gut wie keiner Schicht das vereinbarte Personal-Patienten-Verhältnis (Ratio) umgesetzt. Aus der Onkologie berichten die Kollegen zum Beispiel, dass ungefähr die Hälfte der Betten gesperrt wurde, um die Ratio einzuhalten. Aktuell werden massiv Kolleginnen aus anderen Ländern angeworben, was wiederum ganz eigene Probleme mit sich bringt und häufig zu einer anderen Belastung auf den Stationen führt. Trotz ihres Standortvorteils (attraktive Lage, Größe) schafft die Charité es jedoch im besten Fall, die Fluktuation von Pflegepersonal durch Neueinstellungen auszugleichen, ist aber nicht in der Lage, Personal signifikant aufzubauen. Trotzdem ist der Tarifvertrag als gewisse Erleichterung zu sehen. Kolleginnen wurde vorher in der Regel von ihren Vorgesetzten vorgehalten, dass sie sich besser organisieren müssten, wenn sie zum Beispiel in Form einer Gefährdungsanzeige angegeben haben, dass sie sich überlastet fühlen. Das wurde einfach als subjektive Empfindung abgetan. So einen Quatsch muss man sich mit den Ratios, die automatisch erfasst werden, nicht mehr anhören. Außerdem gibt es diese ChEP-Punkte (Charité-Entlastungs-Punkte). Wird in einer Schicht die im Tarifvertrag vereinbarte Ratio nicht erreicht, erhalten die betroffenen Kollegen jeweils einen ChEP. Diese wiederum kann man in einem begrenzten Maß in freie Tage umwandeln oder ansparen. Insofern wird das Vereinbarte an der Charité umgesetzt. Auch die Kommission, die für im Tarifvertrag noch nicht geregelte Bereiche Besetzungsregeln festlegen soll, arbeitet regelmäßig. Soweit wir das von den Kolleginnen bei Vivantes hören, erleben die weit größere Enttäuschungen.

 

Ist es denn realistisch, dass Kolleginnen ihren Freizeitausgleich wirklich nehmen können, wenn sie entsprechende Belastungspunkte gesammelt haben, oder existiert der nur auf dem Papier?

Die Charité hat sich in weiser Voraussicht, dass sehr viele solcher Entlastungstage entstehen werden, in den Tarifvertrag schreiben lassen, dass ihre Anzahl begrenzt wird. So konnten 2022 nur fünf Entlastungstage pro Fachkraft geltend gemacht werden, 2023 sollen es zehn und 2024 dann fünfzehn sein. Die darüber hinaus aufgelaufenen ChEPs können unter Beachtung einiger bürokratischer Vorgaben entweder für ein Sabbatical angespart werden, das maximal drei Monate dauert, oder dafür, dass die Kolleginnen ein paar Wochen früher in die Rente flüchten können. In einem durch das Steuerrecht begrenzten Maße ist es auch möglich, die ChEPs in Geld umzuwandeln. Ich persönlich halte keine der zuletzt genannten Möglichkeiten für attraktiv. In diesen Alternativen ist leider die Gefahr angelegt, dass einem die Vorgesetzten in den Ohren liegen, lieber Punkte anzusparen als sie in freie Tage umzuwandeln. Da ist eine gewisse Standfestigkeit gefragt, um die freien Tage durchzusetzen. Um dem Personaldruck etwas entgegenzusetzen, der sich durch dieses System zuspitzt, bittet die Charité die Pflegekräfte darum, zusätzliche sogenannte Stabilitätsdienste zu absolvieren. Weil die sehr gut bezahlt werden, schieben tatsächlich viele Kolleginnen diese Dienste. Das wiederum führt zu mehr Streit auf den Stationen unter den Kollegen. Viele empfinden es als skandalös, dass die Arbeit in zusätzlichen Schichten plötzlich viel mehr Wert sein soll, und erwarten von den Kolleginnen im Stabilitätsdienst, mehr zu arbeiten. Zum anderen wird immer wieder mal hinterfragt, ob die Kolleginnen nach ihren Stabilitätsdiensten dann auf ihrer eigenen Station deutlich erschöpfter ihren Dienst antreten. Neben den zusätzlichen Diensten denkt die Charité laut darüber nach, die Arbeitszeiten zu flexibilisieren, wie zum Beispiel die Schichten auf zwölf Stunden auszudehnen. Noch krasser ist der Versuch, Pflegekräfte, die innerhalb der Charité eine Arbeitsstelle gefunden haben, die nicht mehr unmittelbar am Patientenbett ist, dazu zu bringen, wieder in den normalen Stationsdienst zurückzukehren. Sie reden von demographiegerechten Arbeitsplätzen, aber wollen Kolleginnen, die aus gesundheitlichen oder privaten Gründen ihre Nische mit weniger körperlich anstrengenden Tätigkeiten und ohne Schichtarbeit gefunden haben, unbedingt zurück in die Patientenversorgung bringen. Dazu passt auch die Forderung aus dem Vorstand der Charité, Leasingfirmen in der Pflege mehr oder weniger direkt zu verbieten. Denn in der Pflege bieten Zeitarbeitsfirmen häufig bessere Arbeitsbedingungen und zahlen mehr. Was das Ganze mit Entlastung zu tun haben soll, bleibt ein Geheimnis. Außerdem kann die Charité natürlich bestimmen, wie viele Patienten sie zur Behandlung aufnimmt. Das ist mit den eben genannten Bettensperrungen gemeint, allerdings sind dem natürlich Grenzen gesetzt, da die Charité sich rechnen soll und die Schließung von Betten für Patienten von Nachteil ist, die zum Teil längere Wartezeiten in Kauf nehmen müssen. Insofern ist es nicht realistisch, bei gleicher Leistung als Klinik zusätzliche freie Tage zu gewähren, wenn nicht durch die Hintertür eine Mehrbelastung vor allem durch Stabilitätsdienste stattfindet. Trotzdem sind die freien Tage wichtig als eine Art Schmerzensgeld.

 

Du hast vorhin erwähnt, dass es Probleme nach sich zieht, wenn Kollegen aus dem Ausland angeworben werden. Was bedeutet das genau?

Zum einen finde ich es eine Schweinerei, wenn das reiche Deutschland gezielt ausgebildete Fachkräfte in der Pflege abwirbt, zumal ich davon ausgehe, dass die in der UN vorgegebenen Richtlinien kaum eingehalten werden. Denn es wird ja nicht nur über staatliche Abkommen um Pflegekräfte für deutsche Patienten geworben, sondern Kliniken tun dies auch auf eigene Faust. Die Kollegen bringen unterschiedliche Sprachkenntnisse mit und haben in anderen Pflegemodellen gearbeitet mit entsprechend anderer Arbeitsteilung. Das führt immer wieder zu Missverständnissen. Sie benötigen über eine recht lange Zeit eine Einarbeitung und müssen neben der Arbeit ihre Sprachkenntnisse verbessern. Es vergeht jedenfalls einige Zeit, bis die neuen Kolleginnen tatsächlich als Entlastung wahrgenommen werden.

 

Wie du schon angedeutet hast, sind die Tarifverträge an der Charité und bei Vivantes sehr unterschiedlich umgesetzt worden. Worin bestehen die Hauptunterschiede?

Die Tarifverträge enthalten ziemlich komplizierte Regelungen, einiges dreht sich darum, dass durch eine Software ein automatischer Abgleich der Patientenbelegung und des eingesetzten Personals einer Station erfolgt. Diese Software hat bei der Charité tatsächlich zum Start des Tarifvertrages funktioniert. Für den Abgleich wurden drei Messuhrzeiten festgelegt. Die Geschäftsführung des landeseigenen Vivantes-Konzerns wollte besonders genau sein und ein System einführen, das die Relation minutengenau erfasst. Eine Folge war, dass bis zum Sommer 2022 gar kein Erfassungssystem existiert hat. Zum anderen hat die minutengenaue Abrechnung dafür gesorgt, dass in den Zeiten der Übergabe, wo zum Beispiel die Frühdienstpflegekräfte und die Kollegen des Spätdienstes gemeinsam auf Station sind, die Ratios plötzlich erfüllt werden, die Kollegen jedoch kurze Zeit später wieder deutlich unterbesetzt ihre eigentliche Arbeit beginnen. Kolleginnen von Vivantes berichten, dass sie kurzfristig aus einer regelkonform besetzten Schicht auf andere Stationen umgesetzt werden, um dort den Mangel zumindest teilweise auszugleichen. Die im Tarifvertrag festgelegten Bereiche, für die es zum Abschluss des Tarifvertrags Entlastung (TVE) noch keine Ratios gab (zum Beispiel Radiologie und Dialyse), werden zwar auch an der Charité noch immer verhandelt, aber bei Vivantes scheint es einen echten Stillstand zu geben. Dem Pflegepersonal gegenüber benimmt sich die Geschäftsführung von Vivantes schon ganz schön arschig, im Verhältnis dazu, wie sie mit den Kolleginnen der Tochterunternehmen umgeht, erscheint es jedoch schon fast freundlich.

 

Ihr habt alle zusammen im Arbeitskampf gestanden, aber bei den Tochterunternehmen von Vivantes stand vor allem die Forderung nach einem TVÖD im Vordergrund. Laut Presse stimmen dort mittlerweile die Kollegen massenhaft mit den Füßen ab und kündigen in dem Wissen, dass sie woanders mehr verdienen. Wie schätzt du den Verlauf der sehr schleppend verlaufenen Verhandlungen ein?

Der Streik hat für die Tochterunternehmen mit einem Tarifvertrag geendet, der an den TVÖD angelehnt ist und stufenweise Lohnerhöhungen vorsieht, aber das Lohnniveau des TVÖD nicht erreicht. Zudem werden nicht alle Töchter gleich behandelt. Doch seit dem Abschluss streitet Vivantes mit ver.di und enthält den Kolleginnen, die ihnen doch angeblich so viel Wert sind, größere Teile ihres Lohnes vor. So sind einige Zulagen ersatzlos gestrichen worden. Außerdem feilscht Vivantes um die Eingruppierung. Aus Sicht der Kolleginnen sollen sie in zu niedrige Lohngruppen eingeordnet werden. Anscheinend streicht Vivantes mit der neuen Eingruppierung auch bisher gewährte Zulagen, wie wohl zum Beispiel im Bereich der Reinigung. Zugleich will Vivantes die Kolleginnen spalten und plant, neues Personal in der Eingruppierung schlechter zu stellen. Ende 2022 war das Drama meines Wissens immer noch nicht zu Ende. Das könnte durchaus Kalkül von Vivantes sein, denn ohne Einigung mit ver.di muss jede Kollegin einzeln ihre Rechte einklagen.

 

Hätte der Streik länger geführt werden müssen, um eine Rückführung der Beschäftigen in den Mutterkonzern zu erreichen?

Der Streik hätte ganz bestimmt länger geführt werden müssen. Sowohl die Ziele der Entlastung als auch die Einführung des TVÖD für die Tochterunternehmen waren noch nicht sicher erreicht. Aber trotzdem muss man sagen, dass die Pflege vier Wochen im Streik stand, die Kollegen der Tochterunternehmen noch mal zwei Wochen länger. Das ist ganz schön kräftezehrend. Außerdem gab es zwar eine Sammlung zur finanziellen Unterstützung der Streikenden bei den Töchtern, aber das Streikgeld gleicht natürlich den Lohn nicht komplett aus. Gerade wer wenig hat, muss dann schon überlegen, wie lange ein Streik geführt werden kann. Mein Gefühl war, dass, bevor die Charité den Tarifvertrag unterschrieben hat, die Kraft der Kolleginnen vermutlich noch für einige Streiktage gereicht hätte, aber mit der Unterschrift dann das Ende besiegelt war. Ob die Zeit ausgereicht hätte, um einen besseren Tarifvertrag auszuhandeln, bleibt spekulativ. Die Kollegen hatten aber anscheinend das Gefühl, dass nicht viel mehr geht, und haben entsprechend für die Aussetzung des Streiks gestimmt.

 

Ist die Kündigung aktuell die einzige Form des Protests? Inwiefern können diese Schwierigkeiten bei der Umsetzung genutzt werden, um die Kämpfe weiterzutreiben?

Ja, aktuell drückt sich der Protest vor allem darin aus, dass die Kolleginnen die Tochterunternehmen verlassen. Da der Tarifvertrag auf den TVÖD abhebt, besteht in der aktuell beginnenden Tarifrunde die Möglichkeit, wieder einen gemeinsamen Arbeitskampf zu führen und dabei das Thema Lohnhöhe in den Mittelpunkt zu stellen. Leider sind die Tarifverträge so ausgearbeitet, dass die vereinbarten Lohnerhöhungen immer nur mit zeitlichem Verzug bei den Kolleginnen der Töchter ankommen würden. Trotzdem wäre meine Hoffnung, dass die diesjährige Tarifrunde uns erneut in großer Zahl zusammen auf die Straße und in den Streik bringt, damit die Gemeinsamkeit nicht so schnell in Vergessenheit gerät. Denn über fast zwanzig Jahre hinweg haben Politik und Chefs uns schön gespalten.

 

Ver.di war in den letzten Jahren in den Tarifauseinandersetzungen sehr um eine andere Form von Mitsprache bemüht, Stichwort Streikuni in Form von Workshops für den gemeinsamen Austausch und politische Diskussionen, von den Teams ernannte Delegierte und Tarifberater, die Verhandlungen begleiten, ihre Teams informieren und die Forderungen der Teams im besten Fall an ver.di weitergeben. Was denken denn die Kolleginnen über die Organisierung des Streiks und was hat sich für sie dadurch längerfristig verändert?

Bis zu der Tarifbewegung Entlastung ist uns die Gewerkschaft eher mit einem Top-Down-Stil begegnet, sprich, Gewerkschaftsfunktionäre haben Ziele und Tempo vorgegeben. Mit den Tarifberaterinnen wurde ein Weg beschritten, bei dem die aktiven Kollegen sich deutlich mehr einbringen können. Das hat tatsächlich zu einer gewissen Dynamik auf den Stationen geführt. Die Tarifberater wurden ja im Idealfall von ihren Teams gewählt und die Teams haben sich besprochen. Das ging 2021 so weit, dass die Teamdelegierten, wie die ehemaligen Tarifberaterinnen nun genannt werden, die Verhandlungen sehr eng begleitet haben und durch die Tarifkommission fortlaufend informiert wurden. Ich habe den Eindruck, dass das von vielen als angenehm empfunden wurde und zu einer anhaltenden eigenen Aktivität geführt hat. In Vorbereitung auf die Tarifauseinandersetzung sind viele interessierter als sonst und nehmen an Treffen teil, wenn auch noch nicht auf dem Niveau von 2021. Insofern ist sowas wie eine Teamdelegiertenstruktur unbedingt sinnvoll. Ob eine solche Struktur aber ausreicht, aktiv Entscheidungen der gewerkschaftlichen Funktionäre in Frage zu stellen, lässt sich noch nicht abschließend beurteilen. Außerdem halte ich es für normal, dass die Strukturen, die in einem Arbeitskampf entstehen, danach wieder abbröckeln. So war es wohl auch an der Charité. 

 

Wie haben die Kolleginnen denn die Organizer erlebt und was ist von der Dynamik geblieben, die durch sie entstanden ist?

Ohne die Organizer hätte es den Streik so nicht gegeben. Vor allem in der Anfangszeit waren sie nötig, um die Kollegen zu aktivieren. Sie haben sich eine Vertrauensposition erarbeitet, schon allein deshalb, weil sie immer vor Ort und ansprechbar waren. Gleichzeitig hat das Organizing große Teile der Kampagne geplant, dazu gehören auch die Tarifberater, die großen Treffen, Demonstrationen etc. Alles sehr wichtig für die Dynamik, einen so langen Streik anzugehen. Aber in meinen Augen hat das auch dazu geführt, dass die Teamdelegierten zu selten Entscheidungen und vorgeschlagene Regelungen hinterfragt haben. Besser wäre es meines Erachtens gewesen, wenn sich die Organizer nach der Anfangsphase etwas mehr zurückgezogen hätten, vor allem in inhaltlichen Fragen, um so den Kolleginnen mehr Raum zur eigenen Entwicklung zu geben. Streik muss emanzipieren. Organizer sind Angestellte von einer Firma, die von ver.di beauftragt wird. Damit ist natürlich immer auch die Gefahr gegeben, dass die bürokratischen Ebenen von ver.di über die Organzier starken Einfluss auf das Meinungsbild der Kolleginnen nehmen. Wenn von Seiten der Organizer Meinungen kundgetan wurden, hatte das in der Regel mehr Gewicht als wenn eine Pflegekraft spricht. Die Kollegen sind es nicht gewohnt, Dinge in Frage zu stellen, und bleiben oft lieber in der Konsumentenrolle, so zumindest meine Erfahrung. Die Teamdelegierten sind eine gute Idee, das aufzulösen, aber so ganz ist das noch nicht gelungen.

 

Gab oder gibt es unter den Beschäftigten eigene Versuche, sich jenseits des gewerkschaftlichen Apparats unabhängig zu organisieren?

Ich würde sagen, dass es bundesweit ganz wenige derartige Versuche gibt. Sämtliche Grüppchen, die mir bekannt sind, bestehen nur aus sehr wenigen Leuten. Das scheint mir ein Ausdruck des Problems zu sein, das ich eben beschrieben habe.

 

Mittlerweile haben Beschäftigte in über zwanzig Kliniken bundesweit Entlastungs-Tarifverträge erkämpft. Habt ihr Kontakte in andere Städte und wie seid ihr vernetzt?

Ja, es gibt Kontakte. Die Vernetzung läuft im Wesentlichen über ver.di oder auch über unterstützende Gruppen außerhalb der Kliniken wie das Bündnis „Gesundheit statt Profite“. Auch diese Kontakte sind sicher ausbaubar.

 

Wie beurteilt ihr die Streikunterstützung aus der Berliner Bevölkerung und was würdet ihr euch für zukünftige Auseinandersetzungen wünschen?

Tatsächlich hatten wir das Gefühl, dass wir eine sehr breite Unterstützung innerhalb der Berliner Bevölkerung hatten. Das meint zum einen Treffen mit der sogenannten Stadtgesellschaft, an denen sehr viele Leute und auch Initiativen teilgenommen haben. Gleichzeitig haben wir auch von Familie, Freunden, Patienten und Angehörigen viel positives Feedback und Unterstützung erhalten. Bei der letzten Tarifauseinandersetzung ging es um Entlastung und damit auch um eine Verbesserung der Patientenversorgung. Und jeder weiß, dass er schnell mal Patient werden kann. 2023 geht es nun um unsere Lohnhöhe und einen Inflationsausgleich. Wir wissen, dass viele Berlinerinnen finanziell ähnlich schlecht oder noch schlechter gestellt sind als wir. Deshalb wollen wir, dass unsere Lohnforderungen eben nicht als gierig angesehen werden. Für uns sind sie das absolute Mindestmaß an Lohnerhöhung für alle Beschäftigten und Hilfeempfänger. Wir hoffen, dass es zu kraftvollen gemeinsamen Aktionen zum Beispiel mit den Kolleginnen bei der Berliner Stadtreinigung kommt, um unsere Forderungen durchzusetzen, und auch die Berliner Bevölkerung mit uns auf die Straße geht.

 

Im Oktober 2022 haben auch die Ärztinnen an der Charité gestreikt. Wie sahen da die Verbindungen zur Entlastungsbewegung aus und wie steht es um die Solidarität zwischen verschiedenen Berufsgruppen?

Die Ärzteschaft an der Charité hat über den Marburger Bund einen eigenen Tarifvertrag. Prinzipiell ist das Verhältnis zwischen Ärzten und Pflegekräften, was das Tarifgeschehen angeht, schwierig. Zum einen aufgrund der Beobachtung, dass die Lohnforderungen der ärztlichen Kolleginnen in den letzten Jahren auch ohne Arbeitskampf erfüllt wurden à la „Ärzte müssen nicht streiken“. Zum anderen ist während unseres Streiks für Entlastung so mancher Chef- oder Oberarzt negativ damit aufgefallen, die Pflege unter Druck zu setzen, doch mehr Leistung zu erbringen, als durch die Streiknotbesetzung möglich war. Letztes Jahr haben die Ärzte neben mehr Lohn vor allem bessere Arbeitsbedingungen gefordert, und hier hätten wir ja tatsächlich eine Schnittmenge, denn sowohl ihre als auch unsere Arbeitsbedingungen sind aufgrund der Fallpauschalen so unerträglich. Gerade für die Forderungen der Assistenzärzte gibt es viel Verständnis von Seiten der Pflege, aber in tatsächlicher Solidarität der einzelnen Pflegekräfte drückt sich das leider selten aus. Gleichzeitig muss man sagen, dass die Solidarität unter den Berufsgruppen, die eine Klinik aufrechterhalten, insgesamt ausbaufähig ist.

 

Was erwartest du für die jetzt anstehende Tarifauseinandersetzung, was die Motivation deiner Kolleginnen betrifft?

Der Druck ist wegen der gestiegenen Lebenshaltungskosten sehr hoch, entsprechend hoffe ich, dass die Kolleginnen ordentlich motiviert sind. Es bestehen jedoch bereits jetzt unter den Kolleginnen Befürchtungen, dass sich die Tarifkommission mit zu wenig zufrieden gibt oder aber die Arbeitgeber in die Schlichtung flüchten. Anders als bei der Tarifbewegung Entlastung geht es jetzt um einen bundesweiten Tarif und die Erfahrung zeigt, dass die unmittelbare Einflussmöglichkeit da geringer ist. Das könnte sich auch negativ auf die Motivation der Kollegen auswirken. Das müssen wir abwarten. Der nächste Streiktag ist am 9. Februar. Viele Kolleginnen haben bereits klar gesagt, dass sie für ihre Forderungen auf die Straße gehen wollen.