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Krahls Suche nach einem neuen Formtypus revolutionärer Organisation

Krahls Suche nach einem neuen Formtypus revolutionärer Organisation

21. Juli 2022

Anfang des Jahres erschien im Mandelbaum-Verlag der Sammelband Für Hans-Jürgen Krahl. Beiträge zu seinem antiautoritären Marxismus. Im folgenden veröffentlichen wir mit freundlicher Genehmigung des Verlags einen Text aus dem Band, der sich um Krahls Überlegungen zur Organisationsfrage dreht. Er lässt sich als ergänzende Randbemerkung zur Strategie- und Organisationsdebatte lesen, die seit einiger Zeit auf diesem Blog geführt wird. Im Text wird umrissen, auf welche Weise Krahl sich auf die Suche nach einem „neuen Formtypus revolutionärer Organisation“ machte. Seine organisationstheoretischen und -praktischen Überlegungen bettete Krahl einerseits in eine polit-ökonomische und geschichtsbewusste Gegenwartsanalyse und andererseits in die damalige Bewegungspraxis ein. Diese Suchbewegung Krahls ist geschichtlich mehr oder weniger auf halber Strecke zwischen heute und der Zeit der frühen Sozialdemokratie zu verorten, die zentraler Referenzpunkt des Debattenauftakts Was tun in Zeiten der Schwäche? ist. Diese kleine Wegmarke in der Entwicklung revolutionärer Theorie und Praxis zur Kenntnis zu nehmen, kann, so hoffen wir, dazu beitragen, die Ausgangspunkte strategischer und organisatorischer Diskussionen heute zu justieren – auch dann, wenn man der Analyse von Krahl an einigen Punkten nicht folgen will.

In Kürze wird an dieser Stelle auch noch eine Besprechung des gesamten Bands erscheinen. Stay tuned!

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„Was ever such rightness joined to such foolishness?“ So die Antwort von Samuel Beckett auf einen Brief Adornos im Februar 1969, den dieser unter dem Eindruck der studentischen Besetzung des Frankfurter Instituts für Sozialforschung an Beckett geschrieben hatte.1 Selbst wenn man geneigt ist, dieser Einschätzung oder jener von Adorno zuzustimmen, dass die Protestbewegung sich agitatorisch selbst unter taktisch unkluge Zugzwänge gesetzt hat2 – ein Urteil darüber soll im Folgenden nicht gefällt werden. Es geht nicht um die Beurteilung der Strategie und Taktik der Studentenbewegung, nicht um die Organisationsgeschichte des SDS im Spiegel von Krahls Texten, nicht um Bewegungsforschung. Ziel ist es lediglich, die theoretische und teils auch praktische Konstellation aufzuspannen, in der Krahl die Organisationsfrage verhandelt hat. Nun hat Krahl kaum eine geschlossene, ausformulierte Theorie hinterlassen, sondern vor allem Fragmente: Entwürfe, Notizen, Exzerpte, Reden. Gerade zur Organisationsfrage finden sich weiträumig verstreute Anmerkungen, die verschiedene Ebenen betreffen und in den verschiedensten theoretischen und praktischen Kontexten stehen. „Aus dem uneinheitlichen Stand von Geschlossenheit der jeweiligen Schriften lässt sich ablesen, dass sie ohne den Hintergrund der täglichen agitatorischen Arbeit nicht rezipiert werden können.“3 Verhandelt werden Texte aus der Zeit von 1967 bis Anfang 1970, also von der Hochphase der antiautoritären Studentenbewegung bis zu deren Zerfall ab Herbst 1968 und der anschließenden „proletarischen Wende“4 Die kontextualisierende Rezeption wird hier jedoch durch das primäre Ziel begrenzt, zentrale Denkfiguren herauszuarbeiten, mit denen Krahl die Organisationsfrage zu bearbeiten versuchte. Insgesamt kann und soll es hier nicht darum gehen, eine geschlossene Krahlsche Theorie der revolutionären Organisation zu präsentieren. Vielmehr soll an liegengebliebene, bis heute virulente Probleme revolutionärer Organisation erinnert, aber auch eine Herangehensweise an die Organisationsfrage vorgestellt werden, die im Kontrast zu heutigen Debatten irritierend fern erscheint. Diese Irritation lässt sich (unter anderem) nutzen, um die Strategie- und Machtlosigkeit der antiautoritären sozialrevolutionären Linken in der post-spätkapitalistischen, der zombiekapitalistischen Gegenwartsgesellschaft zu reflektieren, die mal sehenden, mal ängstlich verschlossenen Auges auf mehrere Abgründe gleichzeitig zurast.

 

1. Problemhorizonte

„… so muss der Formtypus revolutionärer Organisation mit jeder Veränderung der geschichtlichen Bedingung seiner Entstehung und Bestimmung eine angemessene Komplementärveränderung erfahren.“ (186)5

Krahls Auseinandersetzung mit der Organisationsfrage stellt sich dar als Ringen um die historische Aktualisierung der Bestimmung des Formtypus einer revolutionären Organisation, die sich ihrem Inhalt nach an neuen, emanzipatorischen Bedürfnissen auszurichten hat, um „emanzipatorische Vernunftinteressen“ praktisch durchzusetzen. Die Einsicht, dass organisatorische Formen dem Inhalt, das heißt hier einer sozialrevolutionär-emanzipatorischen Programmatik gegenüber keineswegs neutral sind, gehört zu den Grundlagen antiautoritär-marxistischen Denkens. Vor allem die politischen Formen von Partei und Staat gerieten historisch von antiautoritär-rätekommunistischen Strömungen in die Kritik,6da sie verändernde Praxis allein aufgrund ihrer Formeigenschaften an das Bestehende binden und damit blockieren. Krahls Suche nach einer Form von Organisation, die dem emanzipatorischen Inhalt entspricht, ist allerdings, wie sich unten noch zeigen wird, weniger durch eine solche prinzipielle Kritik der Partei motiviert, sondern durch die Annahme, sie sei historisch überholt – deshalb seine Suche nach einem neuen Formtypus revolutionärer Organisation. Die Organisationsfrage dreht sich damit um wesentlich mehr als um die formal-technische Regelung von Arbeits- und Entscheidungsstrukturen. Sie ist zentraler Bestandteil der Theorie und Praxis der Revolution und eng verknüpft mit Fragen der konkreten Strategie. Damit lässt sie sich keineswegs auf die Diskussion verengen, die als „Organisationsdebatte“ (im SDS) bekannt geworden ist und sich primär um das Verhältnis der Student*innen- zur Arbeiter*innenbewegung sowie die Position der (studentischen) Intelligenz in der spätkapitalistischen Klassenstruktur und ihre Rolle im Klassenkampf drehte und Durchlauferhitzer zur „proletarischen Wende“ war.7 Mit Lukács’ Aufsatz Methodisches zur Organisationsfrage aus Geschichte und Klassenbewusstsein entdeckte die Student*innenbewegung die „enorme[n] Potenz der Organisationsfrage“8. Auch bei Krahl dreht sie sich ums Ganze. Sie setzt immer (mindestens) drei miteinander verwobene Vermittlungszusammenhänge auf die Agenda:

- die Vermittlung von Theorie und Praxis, die auch als Frage des Verhältnisses von gesellschaftlichem Sein und Bewusstsein verhandelt wird;

- das Problem der Vermittlung von Führung/Avantgarde und Masse, das sich konkret nicht nur innerhalb der Studentenbewegung, sondern auch in ihrem Verhältnis zur Arbeiter*innenbewegung stellte;

- die Vermittlung der Funktion der Organisation als Gegenmacht mit der Funktion als Gegenmodell und damit das Verhältnis von Mitteln und Zielen revolutionärer Praxis.

Die von Krahl vorangetriebenen Konflikte um die Organisationsfrage drehen sich um die konkrete Positionierung in diesen Vermittlungszusammenhängen. Sie alle sind eingebettet in die übergreifenden Bestimmungen von Form und Inhalt der revolutionären Organisation, die nur vor dem Hintergrund der geschichtlichen Entwicklung des Kapitalismus sinnvoll vorgenommen werden kann. Hieraus ergibt sich die Gliederung des Beitrags: Krahl verortet sich und seine Zeitgenoss*innen in einem welthistorisch neuen Bezugsrahmen (2.). Dieser verändert den Inhalt (3.) des revolutionären Kampfes und seiner Organisation ebenso wie deren Form (4.). Vor diesem Hintergrund ergeben sich grobe Umrisse einer Konzeption der revolutionären Organisation als einer antibürokratischen Instanz der Bildung und Aufklärung, als einer Prozessgestalt der Konstitution von (Totalitäts- und Klassen-)Bewusstsein. Die drei genannten Vermittlungszusammenhänge werden in den Abschnitten 2. und 3. immer wieder aufgegriffen, um Krahls Positionierung in ihnen zu konkretisieren. Dabei zeigt sich, dass Krahl in Sachen Organisation stets fragend verblieben ist, in Auseinandersetzung mit verschiedenen Stimmen – seien es die der Vordenker*innen der Arbeiter*innenbewegung oder die der Fraktionen im SDS – einige Orientierungspunkte, aber keineswegs ein ausgefeiltes Organisationskonzept formuliert hat. Der Beitrag schließt mit ein paar Überlegungen zur Aktualität (5.) des Zusammengetragenen.

 

2. Ein welthistorisch neuer Bezugsrahmen – und das Fehlen einer revolutionären Theorie

„Die Anwendung der Kritik der politischen Ökonomie auf die Organisationsfrage heißt, diese am jeweiligen geschichtlichen Verhältnis von Politik und Ökonomie zu bestimmen.“ (183)

Wenn man wollte, könnte man die Auseinandersetzung mit der Organisationsfrage auch beim Problem der abstrakten Arbeit beginnen, versteht Krahl doch die revolutionäre Organisation – in ihrer Funktion als Gegenmodell – als „antizipierte Aufhebung entfremdeter, i.e. abstrakter Arbeit“ (313), die er immer wieder als Zusammenhang „isoliert wie unabhängig voneinander privat arbeitender Individuen“ (103f) bestimmt.9Die Herrschaft der Abstraktion (abstrakte Arbeit, Wert) konstituiert die gesellschaftliche Totalität als einen in sich widersprüchlichen, naturwüchsigen Krisenzusammenhang.10 Die Internalisierung kapitalistischer Arbeits- und Zeitnormen sieht er als entscheidenden subjektiven Faktor für die Reproduktion der Naturgesetzlichkeit des Kapitalverhältnisses (78f). So schließt Krahl zwar an die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie an, sieht sie jedoch zugleich an ihr historisches Ende gekommen, denn das Kapitalverhältnis befinde sich in seiner „monopole[n] und imperiale[n] Endphase“ (217), an seinem „naturgeschichtlichen Endpunkt“ (225).11Das ist die Grundannahme, auf der Krahls Bestimmung des Gegenwartskapitalismus aufbaut. Sie ist stark orientiert an Horkheimers Theorie des autoritären Staates12 sowie an Marcuses Theorie der eindimensionalen Gesellschaft13 – beide theoretisieren Krahl zufolge „Endpunkte[n] des Kapitalverhältnisses“ (223) auf je eigene Weise. Erstere wird vor allem mit Blick auf das Verhältnis von Ökonomie und Politik/Staat sowie die Rolle von Parteien und Gewerkschaften rezipiert, letztere vor allem mit Blick auf die Bedeutung von Technik und Wissenschaft sowie die Bewusstseinsstruktur der Massen.

Der ökonomische Zusammenbruch, so Krahl in seinem Entwurf Zur Geschichtsphilosophie des autoritären Staates, bedeute „noch nicht das politische Ende der kapitalistischen Gesellschaftsformation“ (212), er werde durch den autoritären Staat aufgehalten: „Der autoritäre Staat ist der politische Ausweg des Kapitals aus der ökonomischen Krise.“ (216) Die Theorie vom autoritären Staat legte Krahl bereits dem Organisationsreferat zugrunde, das er gemeinsam mit Rudi Dutschke auf der 22. Delegiertenkonferenz des SDS im September 1967 hielt.14

Sie beinhaltet unter anderem die Annahme der Liquidation der Zirkulationssphäre, die einst Grundlage bürgerlicher Individualität sowie der ausbeutungsverschleiernden Ideologien von Freiheit und Gleichheit war, „durch monopolistische Marktkontrolle“ (222); die Annahme der ökonomischen Notwendigkeit des Staatsinterventionismus, der „Politisierung der Ökonomie und Ökonomisierung von Staat und Politik“ (80) bei gleichzeitigem „Primats des Politischen“ (218); sowie die Annahme, dass Parteien und Gewerkschaften, also die zentralen Organisationsformen des Proletariats, in dem Moment, in dem sie staatsoffiziell anerkannt wurden, zu Integrations- und Unterdrückungsinstrumenten (vgl. 93 u. 242) geworden seien.

Diese mit der Theorie des autoritären Staates verbundene Diagnose hat Konsequenzen für die revolutionäre Theorie:

Der Typus revolutionärer Theorie steht für die durch die geschichtliche Erscheinungsform des autoritären Staats, den zunehmenden ökonomischen Primat des Politischen nur ungenügend bestimmte Endphase des Kapitalismus noch aus. Durchaus fraglich ist, ob revolutionäre Theorie noch als Kritik der politischen Ökonomie möglich ist, oder schon, wie Marcuse es unausgesprochen annimmt, als Kritik der politischen Technologie geschrieben werden muss.“ (218)15

In Abgrenzung zu den marxistischen Strömungen der „orthodoxe[n] Dogmatik“ und des „systemangepasste[n] Revisionismus“, denen er vorwirft, Veränderungen lediglich in der Dimension der Erscheinungen eines gleichbleibenden kapitalistischen Wesens zu verorten, geht Krahl von einem veränderten ökonomischen Wesen der spätkapitalistischen Gesellschaft aus (vgl. 219f). Neben dem ökonomischen Primat der Politik wird dieser Wandel mit der Verwissenschaftlichung und Technisierung (Automation) der Produktion assoziiert, die für Krahl mehrere Konsequenzen zeitigt. In den Metropolen sei das materielle Elend weitgehend abgeschafft und durch psychisches Elend ersetzt worden (vgl. etwa 160/240/299/321); die neuen Produktivkräfte hätten die „Abschaffung der Arbeit“ von einem abstrakten Wunsch „zur konkreten Utopie“ (224) erhoben, doch „in dem Maße, in dem die technische Leistung die Abschaffung der Arbeit ermöglichen könnte“ scheint sich die „Internalisierung der Arbeits- und Leistungsnormen im Zeitbewusstsein der Ausgebeuteten“ zu verfestigen (131); die Assoziation der unmittelbaren Produzenten sei möglich geworden, weshalb die abstrakte Arbeit nur durch „bewusst falsches Bewusstsein“ (85), also Manipulation, aufrechterhalten werden kann (vgl. auch 151), die von den „besonderen Bedürfnissen qualitativer Art“ (133) abstrahiert, auch von den emanzipatorischen Bedürfnissen nach „Freiheit, Frieden und Glück“ (248/304).16 Schon im Organisationsreferat halten Krahl und Dutschke fest, die Massen seien aufgrund des gigantischen Systems der Manipulation nicht mehr fähig, sich zu empören: „Die Selbstorganisation ihrer Interessen, Bedürfnisse, Wünsche ist damit geschichtlich unmöglich geworden.“17 Nur in den „revolutionären Bewusstseinsgruppen“ (ebd.) bleibt diese Möglichkeit lebendig.18

So der grobe Umriss des Bildes, das Krahl mit Horkheimer und Marcuse von seiner Gegenwart zeichnet. In durchaus krassem Gegensatz dazu stehen Krahls Äußerungen in seinem Diskussionsbeitrag zum Vietnam-Kongress im Februar 1968. Hier spricht Krahl mit Blick auf die „Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt“ von einer „qualitativ neue[n] weltgeschichtliche[n] Aktualität der Revolution“ (148; R. M.).19 Von der Aktualität und nicht bloß Potenzialität der Revolution zu sprechen, mag eine propagandistische Übertreibung sein,20 dennoch hält Krahl auch andernorts daran fest, dass es mit den „Befreiungsbewegungen der Dritten Welt, dem Kampf des Vietcong und dem sozialistischen Modell Kuba“ eine „neue weltgeschichtliche Konstellation“ gibt, die überhaupt erst eine „antiautoritäre Disposition objektiv ermöglicht“ habe (248f). Von den „Befreiungsbewegungen“ habe man eine „politische Moral der Kompromisslosigkeit“ (150) zu lernen, die Krahl auch in anderen Entwürfen (vgl. 246/248/277) sowie seinen „Angaben zur Person“ (23) hervorhebt. Sie sei „die Grundlage, um einen der gegenwärtigen Machtstruktur des Staates geschichtlich angemessenen Organisationstypus herauszubilden, der auf der Grundlage autonomer Initiativgruppen in den Hochschulen und Betrieben beruht.“ (150) An autonomen Initiativgruppen sollte es der antiautoritären Bewegung in der Folgezeit nicht fehlen, allein der dem autoritären Staat angemessene übergreifende Organisationstypus blieb ihr verborgen.

 

3. Emanzipation – der Inhalt revolutionärer Organisation

„Die Befreiung kann nur mit Bewusstsein und Willen der Ausgebeuteten geschehen, oder sie geschieht gar nicht.“ (215)

Der Inhalt der revolutionären Organisation orientiert sich bei Krahl am Fixstern der Emanzipation. Die Vermittlung von revolutionärer Theorie und Praxis habe „unter der Leitung eines emanzipatorischen Vernunftinteresses“ (219) stattzufinden. Auch dieses ist keineswegs geschichtslos, vielmehr gelte es, „historisch neue Vernunftprinzipien der Emanzipation“ (336) umzusetzen. Sie sind abhängig vom historischen Entwicklungsstand der Produktivkräfte, der Technik und der Wissenschaft, die, wie oben bereits angedeutet, mit der Automation „die realutopische Perspektive nach Abschaffung von Arbeit überhaupt“ (304) eröffnen. Allerdings ist der technische Fortschritt nur Bedingung der Möglichkeit der Emanzipation, nicht schon diese selbst. Für die „Reduktion des emanzipativen auf den technischen Fortschritt“ werden Sozialdemokratie und Sowjetmarxismus in die Kritik genommen (305). Mit Marcuse, dem „kritische[n] Theoretiker der Emanzipation“ (vgl. 304ff), für den die „Freiheit von Mangel“ die „konkrete Substanz aller Freiheit“21 ist, hält Krahl fest, worin das neue Vernunftprinzip besteht:

[D]ie vereinigte Arbeiterklasse in den hochindustrialisierten Kapitalmetropolen kämpft nicht um die Verfügungsgewalt über das Maschinenwesen als solches, sondern um den kollektiven Besitz an den Produktionsmitteln als Bedingung von herrschaftsfreien Beziehungen der Menschen untereinander. […] Emanzipation […] will, dass die Individuen die industriellen Produktionsmittel organisieren, um miteinander glücklich verkehren zu können. […] Emanzipation ist nicht die Befreiung der technischen Maschinen, sondern die Befreiung der gesellschaftlichen Menschen.22 Allein auf dem Hintergrund dieses evidenten Vernunftprinzips kann das unerträgliche Moment an Unterdrückung in den scheinsozialen Sicherheitsgarantien des autoritären Staates und den keynesianisch auf Rezessionen verkürzten Krisen der monopolen Wirtschaftsweise den lohnabhängigen Massen einsichtig werden.“ (306; Hvm)

Dieses Emanzipationsverständnis verbindet sich bei Krahl mit der strategischen Unterscheidung von Sozialisierungs- und Kommunikationsstrategie (vgl. 199f/244f): Während erstere auf die Vergesellschaftung der Produktionsmittel zielt, also Sozialismus, geht es in letzterer um die Einrichtung eines „herrschaftsfreien Verkehrs solidarischer und von den Naturschranken urwüchsig überlieferter Arbeitsteilung entbundenen [sic] Individuen“ (305), also Kommunismus; während erstere sich um „machtkampftaktische Regeln der Gewaltanwendung“ (244) dreht und damit Organisation im Sinne von Gegenmacht involviert, geht es bei letzterer um „organisationspraktische Regeln der Solidarität“ (245), also um Organisation als Gegenmodell zu den existierenden Zuständen, in dem das Ziel der umfassenden Emanzipation bereits im Kleinen vorweggenommen ist. Die revolutionäre Organisation muss, das ist ohne Frage, erste Keimformen eines herrschaftsfreien Verkehrs enthalten (vgl. 27). Das Verhältnis dieser beiden Strategien und ihrer organisationspraktischen Implikationen zu klären sei etwas, „was in der Regel in der Vergangenheit von den Arbeitsbewegungen niemals geleistet worden ist“ (245; vgl. auch 3.2).

Insgesamt beinhalten die „wesentlichen strategischen und emanzipatorischen Zielvorstellungen des revolutionären Sozialismus“ ein „Bild der vernünftigen Gesellschaft“ (276), die neben der Abschaffung der Arbeit und der „Befreiung der Bedürfnisse“ (334/344) gekennzeichnet ist durch „das Absterben der Ware und des Geldes, schließlich das Absterben des Staates und die rätedemokratische Assoziation der nicht mehr in einem System totalitär zusammengefassten Individuen“ (276). Dieses Ziel zu erreichen, bedarf es einer bewussten, selbsttätigen, revolutionären Subjektivität. Sie zu konstituieren ist zentrale Funktion und Aufgabe der Organisation im revolutionären Klassenkampf. Er müsse die „schäbige materialistische Doktrin der kapitalistischen Realität, dass nämlich das Sein das Bewusstsein bestimmt und nicht umgekehrt“ (206/212) aufheben, was für die „kommunistische Organisation“ bedeutet, dass sie „immer Momente des Entrinnens aus dieser Naturwüchsigkeit“ enthalten muss, um letztlich „mit Bewusstsein Geschichte zu machen“ (206) – von hier aus erklärt sich Krahls Insistenz auf die bildungsgeschichtliche Dimension der revolutionären Organisation.

Krahl ist sich völlig darüber im Klaren, dass dieser Inhalt der revolutionären Organisation nicht durch ihre Form entsorgt werden darf, sondern in dieser und durch diese gestützt werden muss – oder mit Marcuse: „Gegen die Sprache der brutalen Fakten und Ideologie besteht jedoch die dialektische Logik darauf, […] daß der Zweck in den Mitteln, ihn zu erreichen, wirksam sein muß.“23 Dass genau das in den traditionalistisch-anachronistischen Organisationskonzepten, wie sie von bestimmten Fraktionen im SDS vertreten wurden, nicht geschieht, stellte einen zentralen Konfliktpunkt der damaligen Organisationsdebatte dar.24

 

4. Annäherungen an einen neuen Formtypus der revolutionären Organisation

Wie die Herausgeber von Konstitution und Klassenkampf anmerken (vgl. 169), diskutierte eine Projektgruppe des Frankfurter SDS von Winter 1967 bis Frühjahr 1968 die Organisationstheorie des revolutionären Sozialismus. Krahl nahm an diesen Diskussionen teil, die die Frankfurter Hochschulrevolte im WiSe 1967 vorbereiten und weitertreiben sollten. In diesem Kontext entstehen zwei Exzerpte, eins zu Lukács‘ Geschichte und Klassenbewusstsein und eins zu Lenins Staat und Revolution. Diese, wie auch andere in denselben thematischen Zusammenhang fallende Exzerpte zeugen von dem Unterfangen, unter Rückgriff auf die Geschichte der Organisationsfrage den eigenen Erfahrungszusammenhang zu reflektieren und daraus geschichtsbewusste strategische Konsequenzen zu ziehen. Im Folgenden sollen zunächst einige Problemstellungen und Denkfiguren umrissen werden, die Krahl in der Auseinandersetzung mit den Vordenker*innen der Organisationsfrage aufgreift und entwickelt (3.1), um anschließend einen Blick auf seine Positionierung in der Organisationsdebatte im SDS zu werfen (3.2), die in der Phase des Zerfalls der antiautoritären Bewegung einsetzt.

4.1. Auseinandersetzung mit den Vordenker*innen (Marx, Lenin, Luxemburg, Lukács)

Marx’ Kritik der politischen Ökonomie verfängt sich Krahl zufolge revolutionstheoretisch in einen Widerspruch: Zwar postuliert er, die proletarische Revolution müsse einen Sprung aus der Vorgeschichte in die mit Bewusstsein gemachte Geschichte darstellen, aber „er selbst wird seinem Desiderat, dass die Menschen, d.h. das Proletariat, in der sozialen Revolution lernen sollen, mit Bewusstsein Geschichte zu machen, nicht gerecht. In Wirklichkeit setzt sich bei ihm das Klassenbewusstsein als naturwüchsige Spontaneität hinter dem Rücken und über die Köpfe der Proletarier hinweg durch.“ (398f; Hvm) Von daher habe Marx „nicht zu einer adäquaten Klassenkampftheorie der Bewusstseins- und Organisationsbildung gelangen“ können (400). Es ist für Krahl deshalb mindestens fraglich, ob Marx die Vermittlung seiner Kritik zur revolutionären Subjektivität des Proletariats, d.h. für Krahl: zum revolutionären Klassenkampf (vgl. 396/398ff), gelungen ist. Dieses Problem, das Krahl kurz vor seinem Tod in einem Referat unter dem Titel Produktion und Klassenkampf angeht, zeichnet sich bereits in seinem Exzerpt zu Marx‘ Text Die Klassenkämpfe in Frankreich (vgl. 162ff) ab. Krahl entdeckt bei Marx „im Gegensatz zu Lenin“ aufkeimende „Elemente einer Spontaneitätstheorie“: Der revolutionäre Kampf gegen die gesellschaftlichen Verhältnisse habe – auch wenn er in einer Niederlage endet – eine „erzieherische Funktion“ (162). Die Erfahrung des Kampfes „hat aufklärerische, Klassenbewusstsein bildende Bedeutung, sie schafft solche, die frei sind für die Befreiung. Das materielle Sein des revolutionären Kampfes schafft spontan Klassenbewusstsein“ (164). Diese Spontaneitätstheorie verbindet sich in Krahls – durchaus tastend, fragend, unsicher bleibender – Interpretation von Marx mit dessen Kritik des Voluntarismus. Der Klassenkampf wird nicht durch bloßen Willen revolutionär, dieses Attribut muss ihm gewissermaßen erst durch die Verhältnisse anerzogen werden (vgl. 164). Krahl formuliert damit eine ähnliche Kritik an Marx wie an Luxemburg, die mit ihrer Spontaneitätstheorie ebenfalls einen „mechanische[n] Materialismus“ (193) vertreten habe.25 Hier wäre freilich die Reflexion anzuschließen, ob nicht jeder Versuch, die Konstitution einer revolutionären Subjektivität und damit die „Genesis der Revolution“ (399) theoretisch zu erklären, zum Scheitern verurteilt ist, da er das Gegenteil dessen voraussetzt, was erklärt werden soll: Kausalität. Kausale Faktoren lassen keinen Raum für eben jene selbstbewusste Freiheit des Willens, für jene „freie Tat“ – Spontaneität im philosophischen Sinne –, ohne die Befreiung nicht möglich ist (193) und durch die sich die proletarische von der bürgerlichen Revolution unterschieden würde (vgl. 398). Freiheit, die aus Kausalität erwächst, ist keine – genau das moniert Krahl ja mit dem (in sich widersprüchlichen) Begriff der ‚naturwüchsigen Spontaneität‘. Sie ist eben nicht ableitbar, nicht erklärbar und damit auch nicht im üblichen Sinne theoretisierbar. Darin liegt die Grenze jeder Revolutionstheorie: „Die Revolution ist ein spontaner Akt der Freiheit, der sich nicht ableiten lässt.“26 Es lassen sich maximal Bedingungen angeben, die Bewusstseinsbildungsprozesse begünstigen – bei Krahl kommt der Krise eine solche Rolle zu (vgl. etwa 81). In der Annahme, es könne und müsse eine Theorie der Konstitution von revolutionärem Bewusstsein und revolutionärer Subjektivität geben,27 scheint sich auch bei Krahl noch ein scholastischer Irrtum28 geltend zu machen, der übersieht, dass die Praxis der Logik (Theorie) und die Logik der Praxis auch im Prozess der radikalen Transformation nicht zusammenfallen können.

Wo die naturwüchsigen Verhältnisse als ‚Erzieher’ ausfallen, steht schnell die Partei oder die Avantgarde bereit, diese Funktion zu erfüllen. Sie haben dieselbe unlösbare Aufgabe zu erledigen, den dialektischen Umschlag von Naturwüchsigkeit in Freiheit zu ‚organisieren‘, herbeizuführen. Es wundert kaum, dass die revolutions- und organisationstheoretischen Kontroversen, die Krahl in Gestalt von Lenin, Luxemburg und Lukács rezipiert, sich um diesen Punkt drehen, also darum, den Umschlag im Verhältnis von Sein und Bewusstsein zu konkretisieren und zu organisieren. Dieses Grundproblem setzt sich in anderen Wendungen fort: Wie kann die Theorie zur materiellen Gewalt, also zu den Bedürfnissen der Massen vermittelt werden? In welchem Verhältnis stehen Führung und Masse, ihr jeweiliger Bewusstseinsstand, ihre spezifischen Bedürfnisstrukturen? In welchem Verhältnis stehen Organisation und Spontaneität?

Für Krahls Positionierung in der Organisationsdebatte im SDS ist vor allem seine Kritik an Lukács und die Rezeption von Lenin relevant. Von Lukács greift Krahl die Bestimmung der Organisation als Medium der Vermittlung von Theorie und Praxis auf – was er als „erkenntnistheoretische Bestimmung der Organisation“ (176) versteht –, kritisiert jedoch die Art und Weise, wie Lukács sie konzipiert hat. Dessen „Erkenntnistheorie der Organisation“ bleibe formal (169), die Organisationsfrage werde lediglich als geistige Frage gestellt, obwohl sie doch „eine der wichtigsten strategischen Fragen“ sei: „Strategie ist in gewisser Hinsicht die Theorie der organisierten Praxis. Strategie und Organisation sind Elemente des Verhältnisses von Theorie und Praxis. […] Die Organisation ist die gegenständliche Wahrheit der Strategie, deren materiell sichtbare sinnliche Gewalt.“ (170) Lukács spreche der Organisation eine „transzendentale Konstitutionsfunktion“ (176/180) zu, die letztlich den Zusammenhang zwischen Klassen- und Totalitätsbewusstsein, das in der Organisation verortet und als immer schon gegebenes vorausgesetzt wird, einerseits und dem „empirisch psychologischen Bewusstsein der einzelnen Proletarier“ (342) andererseits problematisch werden lasse: „Das richtige Klassenbewusstsein existiert [bei Lukács; R.M.] immer schon in Gestalt der a priori vorgegebenen richtigen Partei des Proletariats, dem Leninschen Parteitypus, der allen geschichtlichen Formbestimmungen transzendental enthoben wird.“ (Ebd.) Krahl zufolge kann sich Klassenbewusstsein „als parteiliches Totalitätsbewusstsein“ aber nur dann bilden und auf emanzipatorische Weise in Praxis übersetzen, wenn das „Moment der Theorie des wissenschaftlichen Sozialismus, durch welche Umwandlungen und Vermittlungen auch immer, in das Bewusstsein der Massen“ umgesetzt wird „und in ihre Erfahrung“ eingeht (343). Der Einschub „durch welche Umwandlungen und Vermittlungen auch immer“ markiert die angesprochene Grenze der Revolutionstheorie – die Umwandlungen und Vermittlungen bleiben ihr blinder Fleck. Dennoch ist hiermit eine für Krahl zentrale Aufgabe der revolutionären Organisation angesprochen: Die Vermittlung der Theorie bzw. des Totalitätsbewusstseins mit der Bedürfnisstruktur der Massen. Da diese historisch-gesellschaftlichen Veränderungen unterliegt, kann auch die Form der Organisation nicht dieselbe bleiben. Doch genau das unterstellt Lukács, wenn er den „Leninschen Parteitypus vom industriell zurückgebliebenen Russland auf die hochindustrialisierten Länder Westeuropas“ projiziert (343).

Dem Leninschen Parteitypus selbst kommt Krahl zufolge jedoch eine „erwiesene Wahrheit“ (186) zu. Er stelle ein „allerdings in keiner Stelle zu dogmatisierende[s] Lehrstück in der revolutionären Theorie des Proletariats“ (187) dar und sei den russischen, zaristischen, vielfach noch vorkapitalistischen Verhältnissen angemessen gewesen. „Unter diesen Bedingungen vermag das Interessenbewusstsein des Industrieproletariats sich nicht aus sich selbst heraus zu aufgeklärter Spontaneität entfalten.“ (343) Es ist Lenin zufolge nur von außen politisierbar. Organisationsintern sei für diese Aufgabe Zentralisierung und strikte Disziplin notwendig. Krahl übernimmt Lenins Rechtfertigung dieser Organisationsprinzipien durch den Verweis auf die russischen Verhältnisse – wodurch er sich gleichzeitig in die Rechtfertigung von Herrschaft und Unterdrückung versteigt. Wo die gesellschaftlichen Verhältnisse den Arbeitern noch keine Leistungsprinzipien eingepaukt haben, dort müsse die revolutionäre Organisation die Disziplinierung zur Leistung übernehmen. Denn bis zu einem gewissen Zeitpunkt sei Unterdrückung zum Zweck der Produktivkraftentwicklung notwendig. Die Verinnerlichung der Arbeitszeitnormen, die mit der kapitalistischen Form von Mehrarbeit einhergehen, gilt ihm als „Disziplinierungsprozess, der ohne Zweifel Fortschrittsbedingung ist“ (243).

Die Zwangsgewalt des Absolutismus ist gesellschaftlich notwendige Unterdrückung nicht nur für die Herrschaft des Kapitals, sondern auch für den damit anfänglich untrennbar verbundenen Fortschritt der Produktivkräfte. Die Machtstruktur im Leninschen Parteitypus stellt eine komplementäre Antwort auf die Notwendigkeit des absolutistischen Zwangsstaats dar, insofern es auch in jenem um die Herausbildung von Leistungsdisziplin geht.“ (187f.)

Heute allerdings sei diese Unterdrückung überflüssig geworden, weshalb auch die Organisation nicht mehr die Form einer „zentralistischen Erziehungsdiktatur“ (188) annehmen müsse, was Krahl andernorts zu dem Prinzip verdichtet: „Je überflüssiger Arbeit wird, umso herrschaftsfreiere Organisationsstrukturen muss die revolutionäre Bewegung annehmen.“ (201) So zumindest die Bestimmung der Organisation in der Dimension als Gegenmodell. In der Organisationsdebatte im SDS wird sich zeigen, dass Krahl angesichts der Erfordernisse der Organisation von Gegenmacht weiterhin eine spezifische Form von Disziplin einfordert.

Krahl verteidigt mit dem Leninschen Parteitypus ein Modell, das nur unter Abstraktion vom Leid der Ausgebeuteten als fortschrittlich deklamiert werden kann. Auch an diesem Punkt vertritt er eine andere Position als seine philosophischen Lehrer Adorno und Horkheimer. Zwar zitiert Krahl Horkheimers Diktum: „Für den Revolutionär ist die Welt schon immer reif gewesen. … Er ist mit den Verzweifelten, nicht mit denen, die Zeit haben.“ (225) Doch dem voran steht der Hinweis, das gelte erst, „wenn die Naturgesetze der kapitalistischen Entwicklung ihre Zeit erfüllt haben“ (ebd.) – erst wenn das der Fall ist, wenn die objektive Möglichkeit (vgl. 226) gegeben ist, dann hat der in den Sätzen Horkheimers sich ausdrückende Voluntarismus seine Berechtigung. Um eben nicht in eine solche Rechtfertigung von (vergangener) Herrschaft und damit in die Sistierung von Vernunft zu verfallen, ging Adorno dagegen davon aus, „dass die heute offenbare Möglichkeit einer vernünftigen Einrichtung der Menschheit wahrscheinlich in den weniger komplizierten, engeren, auch der Anzahl an Menschen nach unvergleichlich viel bescheideneren Verhältnissen auch da gewesen wäre. Daß […] es nicht möglich gewesen wäre, das ist auch einer der Sätze, die ihre Plausibilität nur dem verdanken, daß sie eigentlich von den Siegern ausgesprochen worden sind“.29 Krahls Rechtfertigung von Unterdrückung und Disziplin macht es fragwürdig, ihn ohne Weiteres als antiautoritären Marxisten zu bezeichnen.30 Was ihn von Lenin und dessen Parteikonzept trennt – allerdings ganz im Sinne des Leninschen Realismus –, ist der historische und gesellschaftsformative Abstand. Genau diesen zu ignorieren – also die historisch neuen Emanzipationsprinzipien31 sowie die Bedingungen des autoritären Staates, der sich die tradierten Organisationsformen des Proletariats einverleibt hat32 – ist für Krahl der zentrale Fehler jener Fraktion des SDS, die im Gefolge in der „proletarischen Wende“ auf dem Sprung steht, K-Gruppen zu gründen. Ebenso wie Lukács entheben sie die Organisationsfrage den spezifischen „geschichtlichen Formbestimmungen“ (342).

4.2 Reflexion der Entwicklung des SDS und der antiautoritären Student*innenbewegung

Ende 1968 – das Ende der „Aktionshektik“ (285) und verbreitete Diagnose eines Zerfalls- oder Auflösungsprozesses der antiautoritären Bewegung. Es hatten sich unterschiedlichste Arbeits- und Basisgruppen gebildet, von denen sich nicht sagen ließ, ob und inwiefern sie noch an einem Strang ziehen. Im SDS stelle sich, wie Krahl im September 1968 die Frage, wie es möglich ist, „eine Organisationsform herauszubilden, die unter den Bedingungen des Zwanges und der Gewalt sowohl autonome Individuen herausbildet, als auch solche, die zu einer bestimmten disziplinären Unterordnung unter die Erfordernisse des Kampfes und unter die Bedingungen des Zwangs fähig sind. Dieses Problem – d.h. das Problem des Verhältnisses von Gegenmacht und Gegenmodell – „ist völlig ungelöst.“ (262) Diesem Problem, wie die beiden entgegengesetzten, aber notwendigen Momente von Freiheit und Zwang organisationspraktisch zu vermitteln sind, nähert sich Krahl, indem er jene Fraktionen kritisiert, die einen der beiden Pole übermäßig strapazieren.

Bei der 24. und letzten Delegiertenkonferenz des SDS im November 1968, auf der über die Dezentralisierungsproblematik diskutiert wurde,33 standen sich diese Fraktionen gegenüber: Auf der einen Seite jene, die den Anspruch verfolgten, das Privatleben zu politisieren und damit Probleme adressieren, die nicht innerhalb einer Organisationsform wie dem SDS zu bearbeiten sind,34 vertreten etwa durch die Münsteraner Ortsgruppe,35 die sich von den „großen Gruppen“ unter einen „ziemlich einseitigen theoretischen Leistungsdruck gestellt“ fühlte und vor einer „Selbstversklavung“ warnte. In eine ähnliche Kerbe schlugen jene, die die Gesellschaft über einen Angriff auf die Sexualmoral aus den Angeln heben wollten (vgl. ebd.: 195). Wieder andere verlangten, die Debatte über die damalige Justizkampagne müsse mit „Lustgewinn“ verbunden sein (ebd.: 189). Diese Positionen klingen in Krahls Kritik des antiautoritären Bewusstseins aus dieser Zeit nach, sie sind es, die er (und andere) als „kleinbürgerliche[n] Verfallsformen des antiautoritären Emanzipationsbewusstsein“ (336) kritisiert. Er hält es nicht für verwunderlich, dass innerhalb des SDS die Forderung aufkomme, dass „unmittelbar Emanzipationsbedürfnisse befriedigt werden sollen“36 und erachtet diese Bedürfnisse für legitim, aber sie müssen mit strategischen Erfordernissen ins Verhältnis gesetzt werden:

„Und wenn wir solche Bedürfnisse diskutieren, müssen wir fragen, wie sind diese Bedürfnisse, legitime Bedürfnisse innerhalb der eigenen Organisation, solche Emanzipationsansprüche zu stellen, wie sind die zu vermitteln zu unseren strategischen Bedingungen des Kampfes. Denn es ist ganz selbstverständlich, wenn man einfach wie die Region Nord da sagt, daß man an die einzelnen Gruppen, Genossen keine Aktivitäten mehr delegiert, die sie frustrieren, daß das ‚ne Abstraktion ist von den repressiven Erfordernissen, die einfach der politische Kampf setzt, […] daß man auch mal abstrahieren muss von seinen unmittelbaren Bedürfnissen.“ (ebd.: 207; R. M.)

In diesem Sinne fordert Krahl eine „disziplinierende[n] Selbsteinschränkung“ (284) – der Knüppel auf dem Kopf bringt eben keinen Lustgewinn, das stunden-, wochen-, monatelange Ringen um eine theoretisch fundierte Strategie funktioniert nur, wenn man sich einem gewissen Leistungsprinzip unterwirft. „Die bestimmte Negation des bürgerlichen Tauschverkehrs, zugleich solidaritätsbildend für proletarische Organisationsformen, würde bedeuten, dass ein jeder um der Emanzipation des anderen willen, sich so viel Unterdrückung aufzuerlegen imstande ist, dass er seine Emanzipationsbedürfnisse nach den Gesetzen des politischen Kampfes einschränkt.“ (313) Die in der Organisation selbst auferlegte Unterdrückung geschehe „um der Freiheit des anderen willen“ (27) – hierin liegt die für die Transformation notwendige Vermittlung von Freiheit und Zwang: „Die Antizipation der befreiten Gesellschaft in den Organisationsformen des politischen Kampfes“, also die Organisation als Gegenmodell, „ist immer eine historisch bestimmte Vermittlung von Freiheit und Zwang.“ (312)

Auf der anderen Seite stehen die aus Krahls Sicht neuen Autoritären, personifiziert etwa in Christian Semler (SDS Berlin) und Joscha Schierer (SDS Heidelberg),37 die ihre Forderung nach einer starken Zentrale38 mit dem Prinzip der strikten Disziplin und formalen Hierarchie verbinden. Die „kurzgeschlossene autoritative Reaktion auf die […] individuellen Emanzipationsbedürfnisse“ wolle diese „umstandslos ausrotten“, indem „realitätsblind […] auf das formalistische Modell einer zentralistischen und disziplinierten Kaderpartei im enthistorisierten Bezugsrahmen der Oktoberrevolution“ (287) zurückgegriffen wird. Diese Fraktion trifft also eine ähnliche Kritik wie Lukács: Enthistorisierung des Organisationstypus. Mit in diesem Sinne „formalen Rezepten“ werde die „Organisation als emanzipative[r] Prozess der Gegensozialisation“ (290) stillgestellt. Dieser Fraktion gegenüber macht Krahl also geltend, die neuen und legitimen Emanzipationsbedürfnisse dürften nicht disziplinär überrannt werden, oder anders: die Form der Organisation dürfe den emanzipativen Inhalt nicht konterkarieren. Krahl wirft dieser Fraktion, die eine Liquidation der antiautoritären Phase fordert, eine „identitätsschwache Unfähigkeit zu dialektischem Denken“ vor, „die Verdrängung unangenehmer, aber realer Widersprüche, das Unvermögen, sie im Denken auszuhalten und damit auch im Handeln auflösen zu können“ (290).

Was setzt Krahl diesen beiden Fraktionen entgegen? Zum einen bedürfe es einer strategischen Transformation der Emanzipationsbedürfnisse – sie müssen auf- und ernst genommen, aber zugleich durch „agitatorische Vermittlung“ (287) mit einem politischen Realitätsprinzip verbunden werden. Hierzu brauche es Aufklärung, Bildung, Gegensozialisation, nicht „Schulung“, wie das „Zauberwort des Jahres 1969“39 lautet. Krahl schreibt Ende 1969 zum Konzept der Schulung: „der geschlossene Kanon systematischer Sätze und streng disziplinäre Organisation sind Ausdruck eines bildungsgeschichtlichen Strategieersatzes sowie der Bedürfnisse nach Sicherheit und Bindung, die die Entfaltung produktiver revolutionärer Kollektive, emanzipativer Bedürfnisse nach Befreiung sowie revolutionäre Bedürfnisse nach dem stets leistungszwingenden und risikobeladenen politischen Kampf blockiert.“ (318; Hvm) Aufklärung heiße dagegen: theoretische Kategorien der Herrschaftskritik mit konkreten Erfahrungsgehalten zu vermitteln (vgl. 328).40 Wo das nicht geschehe, so sagt Krahl etwas prophetisch, aber durchaus zutreffend voraus, „werden wir in die Situation kommen, dass die wissenschaftliche Intelligenz – und vor dieser Entscheidung stehen wir jetzt – eine leninistische Ersatzpartei wird, die niemals auch irgendwie nur einen einzigen Proletarier im Sinne von Befreiung und glücklichem Leben mobilisieren wird“ (328).

Vor diesem Hintergrund plädiert Krahl weniger für eine formale Zentralisierung als für eine strategische Vereinheitlichung, d.h. eine gemeinsame, langfristige Strategie des politischen Kampfes. Um diese zu entwickeln sei ein gemeinsamer Bildungs- und Selbstaufklärungsprozess nötig. Solchen Bildungsprozessen und daran hängenden Reflexionen auf kategorialer Ebene spricht Krahl eine strategisch wichtigere Funktion zu als den „schlecht moralisierenden Verbindlichkeitsdiskussionen“ (341). Zum Zwecke der Bildung und der Strategiefindung sei nun allerdings eine Kaderorganisation notwendig.

„Nur die sozialistische Kaderorganisation vermag [….] die dezentralisierten Basis-, Projekt- und Arbeitsgruppen innerhalb und außerhalb der Hochschule vor den zersetzenden Folgen departementalisierender und partikularisierender ‚Handwerkelei‘ zu bewahren und die einzelnen Projekte, die auf jeweils strategische Teilbereiche zielen, den gesamtstrategischen Erfordernissen der Einheit des politischen Kampfes zu unterwerfen, sowie die in einzelnen Projektbereichen praktisch arbeitenden Genossen zum kritischen Werturteil über politische Präferenzen und Dezisionen zu befähigen.“ (289)

Parteilichkeit und Verbindlichkeit, die „obligatorische Delegierung langfristiger Funktionen“, sind für Krahl die praktischen Kriterien der Kader (vgl. 288). Nur auf diesem Wege könne sich eine langfristige Aktionsstrategie herausbilden und die gemeinsame Diskussion „zur materiellen Gewalt des politischen Richtungskampfes“ (ebd.) präzisiert werden. Auch Krahl setzt also auf eine bestimmte Form der ‚Zentralisierung‘, diese wird jedoch nicht formal und unhistorisch begründet, folgt nicht aus der abstrakten Negation der Dezentralisierung und des antiautoritären Kleinbürgertums. Vielmehr wird sie durch die inhaltliche Zielsetzung begründet, die Emanzipationsbedürfnisse durch Aufklärung und Bildung zu transformieren und eine langfristige Strategie zu entwickeln. Mit dieser Bestimmung des Verhältnisses von Organisation und Bewegung41 zielt Krahl darauf, „so etwas wie kollektive Lernprozesse möglich zu machen“, ohne dabei in „individuenfeindliche[n] Kollektivismus“ (262) zu verfallen (vgl. auch 29).

Zur Debatte steht damit aber auch das Verhältnis der Organisation – ihrer Theorie, ihrer Strategie, aber auch ihres Personals, der wissenschaftlichen Intelligenz – zur weitgehend inaktiven, bewegungsexternen Masse bzw. Klasse.42 Der kollektive Lernprozess soll auch hier aus einem Problem heraushelfen: Die Logik des provokativen Protestes, wie sie zu Beginn der antiautoritären Revolte verfolgt wurde, sei seit den Antinotstandsaktionen nicht mehr zu den Bedürfnissen der Massen vermittelt. „Eine neue organisatorische Qualität kann nur erreicht werden, wenn sich die Bewegung massenhaft und kollektiv auf eine neue Reflexionsstufe hebt und Agitation und Propaganda inhaltlich verändert im Hinblick auf eine Theoriebildung, die abstrakte Totalitätskategorien immanent mit Begriffen der Bedürfnisbefriedigung verbindet.“ (351) Also: Kollektive Erneuerung der revolutionären Theorie. Sie sei wissenschaftlich, wenn auch nicht positivistisch zu entwickeln, müsse aus der „praktischen Erfahrung des politischen Kampfes“ schöpfen, denn auf dieser Erfahrung basiere der „Zugang zur Bedürfnisstruktur der Massen“ (350). Krahl scheint damit einen nicht-akademischen Modus der Theorieproduktion anzustreben. Dieser bleibt jedoch ebenso unkonkret wie der Gestaltwandel der Theorie, der aus ihrer Vermittlung resultiert: Es könne nicht um die kathedersozialistische Vorstellung gehen, dass alle Proletarier zu Kritikern der politischen Ökonomie werden (161). Es komme „nicht darauf an, den Arbeitern die Theorie, so wie wir sie zu entwickeln im Begriff sind, in dieser Form zu vermitteln“ (244). In welcher aber dann?

Neben dem Formwandel der Theorie und ihrer Produktion, geht es für Krahl aber auch um eine inhaltliche Verschiebung gegenüber dem wissenschaftlichen Sozialismus, den Marx und Engels zu ihrer Zeit gegen den utopischen Sozialismus in Stellung gebracht hatten. Der wissenschaftliche Sozialismus heute dürfe sich nicht mehr nur auf die „innergeschichtlichen Realisierungsbedingungen“ der Emanzipation richten, sondern müsse darüber hinaus, „will er sozialrevolutionäre Phantasie erzeugen und potenzielles Klassenbewusstsein aktualisieren helfen, […] gerade die Formulierung der konkreten Utopie leisten“ (316).

Vor all diese Aufgaben sah Krahl die wissenschaftliche Intelligenz gestellt, damit letztendlich die „revolutionäre Theorie […] in die Konstitution eines richtigen alltäglichen Klassenbewusstseins des Proletariats“ eingehen kann (315). Sie sind bis heute unabgegolten. Auch deshalb gilt weiterhin, was Krahl am Ende seiner Thesen zum Verhältnis von wissenschaftlicher Intelligenz und proletarischem Klassenbewusstsein festhält: Das Problem des Verhältnisses der Theoretiker*innen zum Proletariat ist ungelöst (vgl. 350).

 

5. Die Aktualisierung der Aktualisierung

Sich in Hinblick auf die Organisationsfrage durch die Fragmente von Krahl zu wühlen, ist nicht immer ein Vergnügen, dabei die Übersicht zu behalten nicht eben einfach. Warum also sollte man sich das heute antun? Schließlich ist die Ausgangslage heute in vielen Punkten eine andere: Zur ökonomischen Krise im engeren Sinne ist eine Krise der gesellschaftlichen Naturverhältnisse und eine Krise der sozialen Reproduktion hinzugekommen; die politische Instanz des nationalen Wohlfahrtsstaats scheint die Reproduktionsbedingungen des Weltkapitals und die Verwüstungen, die es hinterlässt, immer weniger als ideeller Gesamtkapitalist in Regie nehmen zu können. Gleichzeitig haben sich die in verschiedenen sozialen Bewegungen zum Ausdruck kommenden Emanzipationsbedürfnisse weiter vervielfältigt. Schon zu Krahls Zeiten waren sie vielfältiger als jene, die von ihm theoretisch reflektiert wurden. Nicht nur die Fesseln der bürgerlichen und proletarischen Subjektivierung sollen und müssen gesprengt werden, vielmehr auch die der heterosexuellen und rassifizierenden Subjektivierung; nicht nur die Arbeit in der Produktionssphäre, auch die Arbeit in der Reproduktionssphäre soll und muss von ihren kapitalistisch-patriarchalen Formbestimmungen befreit werden.43 Und es gilt sich von einem ökologisch katastrophalen, umwelt- und damit selbstzerstörerischen kapitalistischen Naturverhältnissen zu emanzipieren. Trotz der Vervielfältigung von Emanzipationsbedürfnissen und obwohl die Irrationalität des Ganzen heute allen recht deutlich vor Augen stehen dürfte, existieren kaum noch positive Bilder einer möglichen Zukunft und bleibt verändernde, vernünftige Praxis ohnmächtig – und keine Organisationsdebatte der Welt liefert hier die befreiende Zauberformel.

Doch man muss aus der Organisation keinen Fetisch machen, um einzusehen, dass die Frage, wie die zunehmend ausbrechenden verschiedenen Kämpfe verstetigt, in sozialrevolutionärer Perspektive und mit dem Ziel einer erhöhten Wirkmächtigkeit zusammengeführt werden können, weiterhin virulent ist. Manche sehen in dem seit der letzten globalen Krise des Kapitals 2008ff sich abzeichnenden Kampfzyklus eine „Welle von Massenprotesten auf der Straße, Streiks und Aufständen“, die „nur mit revolutionären Aufbrüchen wie 1848, 1917 oder 1968 vergleichbar“44 ist.45 Der Abgleich der gegenwärtigen Tendenzen und Diskussionen mit denen von 1968 – und da Krahl als zentrale Figur der 68er*innen-Theoriebildung gelten kann, bietet es sich an, seine Texte für einen solchen Abgleich heranzuziehen – kann zu einem Geschichtsbewusstsein beitragen, das den jüngsten Organisationsdebatten häufig abgeht. Dabei ist der Hinweis von Oskar Negt, dass der Verlust des historischen Bewusstseins jede sinnvolle marxistische Analyse der Organisationsfrage behindert,46 weiterhin aktuell. Die Aufgabe, eine Organisationsform zu finden, die, sowohl ihrem Inhalt als auch ihrer Form nach, der stets drohenden Gefahr widerstrebt, sich in die herrschenden Zustände integrieren zu lassen, die eine den emanzipatorischen Zielen entsprechende Vermittlung ihrer Funktionen als Instanz von Gegenmacht und als Modell der besseren Zukunft leistet, die, statt zu disziplinieren, kollektive Lernprozesse ermöglicht, steht noch heute auf der Agenda. Die Organisationsfrage ist eben keine bloß formale Frage nach funktionierenden AG- und Entscheidungsstrukturen, sie ist notwendiger und wesentlicher Bestandteil der Theorie und Praxis der Revolution. Hieran erinnern die Fragmente von Krahl.

Auch wenn man einige von Krahls Annahmen in ihrer damaligen oder heutigen Triftigkeit bezweifeln kann, so kann doch seine Herangehensweise an die Organisationsfrage durchaus Vorbildcharakter haben: Die konkreten Aktionen, die kleinen oder größeren, die partiellen und spontanen Aufstände, die existierenden Bewegungen und „Nicht-Bewegungen“47 mit den großen Fragen zu behelligen und zu den geschichtlichen Bewegungstendenzen der Gesellschaft in Beziehung zu setzen. Das kann schnell größenwahnsinnig wirken, aber letztlich ist die Vorstellung des emanzipatorischen Sprungs aus der naturwüchsig vor sich hin katastrophierenden Vorgeschichte nicht weniger als das: größenwahnsinnig. Die Erneuerung revolutionärer Theorie, die zu diesem In-Beziehungs-Setzen nötig wäre, steht weiter aus. Was ist der gegenwärtige welthistorische Bezugsrahmen revolutionärer Bestrebungen? In welchem Stadium der „Krisengeschichte“ (188) befinden wir uns? Wie ist gegenwärtig das Verhältnis von Ökonomie und Politik zu bestimmen? Mit welcher Bewusstseins- und Bedürfnisstruktur der Massen haben Kämpfe um Emanzipation sich heute ins Verhältnis zu setzen? Wie könnten angesichts dessen realistische Strategien und Taktiken der Transformation aussehen? Und nicht zuletzt: Welche Umrisse einer konkreten Utopie lassen sich heute entwerfen? Bei der Arbeit an all diesen Fragen dürfte eines ganz sicher hilfreich sein: mehr „sozialrevolutionäre Phantasie“.

 

Literatur

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Wolff, Frank/Windaus, Eberhard (1977): Studentenbewegung 67-69. Protokolle und Materialien. Frankfurt am Main: Verlag Roter Stern.

  • 1. Vgl. Claussen, Theodor W. Adorno, S. 399.
  • 2. Vgl. ebd., S. 398.
  • 3. Reinicke, Für Krahl, S. 6.
  • 4. Gringmuth, Was war die Proletarische Wende?, S. 220.
  • 5. Alle Seitenangaben ohne weitere Anmerkung beziehen sich auf Krahl, Hans-Jürgen (1971/2008).
  • 6. Vgl. etwa die Kritik von Franz Pfemfert und Otto Rühle, zusammengefasst in: Wallat, Staat oder Revolution, S. 169ff.
  • 7. Vgl. Gringmuth, a. a. O., S. 111ff. Für Krahl hat die „große Hinwendung zum Proletariat“ (266) im Mai 1968 stattgefunden, mit der am 1. Mai ausgegeben Parole „Klassenkampf statt Sozialpartnerschaft“. Er konzediert jedoch auch: „All diese Formeln sind mehr blinder Reflex unserer eigenen Praxis als eine reflektierte Strategie.“ (Ebd.)
  • 8. Gringmuth, a. a. O., S. 66.
  • 9. Damit setzt Krahl eine Bestimmung zentral, die Marx im Kontext der sogenannten einfachen Zirkulation vornimmt, in der noch methodisch vom Klassenverhältnis und von Ausbeutung abstrahiert wird. Die Phrase von der „Isolierung durch abstrakte Arbeit“ (190) zieht sich relativ konsistent durch Krahls Texte. Nur stellenweise wird sie von der Einsicht gebrochen, dass „die Arbeiter“, obwohl auch sie der abstrakten Arbeit unterworfen seien, „im Gegensatz zum Kleinbürgertum in der technischen Einheit der Fabrik zusammengefasst“ (200) sind, also im Rahmen der Betriebe durchaus Kooperation und „Kombination der Arbeit“ durch einen „Gesamtarbeiter“ (MEW 23, S. 346) stattfindet. Anders als aus der Isolierungsthese folgt aus dieser Einsicht für Krahl jedoch erst dann etwas, wenn es um die neue Rolle der wissenschaftlichen Intelligenz geht (vgl. 340). Dabei wäre doch auch unabhängig von dieser aus der bestimmten Negation der kapitalistischen Form betrieblicher Arbeitsteilung und Kooperation ebenso organisationspraktische Konsequenzen zu ziehen wie aus der „bestimmte[n] Negation des bürgerlichen Tauschverkehrs“ (313).
  • 10. Zentral sind dabei der Widerspruch von Gebrauchswert und Tauschwert, der Widerspruch von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen, der Widerspruch von Vergesellschaftung der Arbeit und privater Aneignung ihrer Produkte.
  • 11. Vgl. auch Krahls Exzerpt zu Hendryk Grossmanns Das Akkumulations- und Zusammenbruchsgesetz des kapitalistischen Systems (87ff).
  • 12. Vgl. Horkheimer, Autoritärer Staat.
  • 13. Vgl. Marcuse, Der eindimensionale Mensch.
  • 14. Vgl. Dutschke/Krahl, Organisationsreferat. Als Anlässe die „Organisationsfrage“ zu stellen, werden im Referat zwei Ereignisse genannt: Die Bildung der Großen Koalition im Dezember 1966 und der politische Mord an Benno Ohnesorg im Juni 1967, in dessen Folge die antiautoritäre Bewegung starken Zulauf erhielt, mit dem der SDS organisatorisch überfordert war: „Die Spontaneität der Bewegung drohte die größten Gruppen organisatorisch zu paralysieren. Ihr politisches Verhalten erschien deshalb zum großen Teil reaktiv aufgezwungen, und Ansätze für politisch-initiative Führung waren weitgehend hilflos.“ (ebd., oS)
  • 15. Auf diese Problematik des Fehlens einer historisch angemessenen revolutionären Theorie kommt Krahl auch noch in einem kurz vor seinem Tod gehaltenen Referat zurück (vgl. 393; vgl. auch den Beitrag von Kocyba in diesem Band). Krahl unterscheidet die revolutionäre Theorie von einer Theorie der Revolution: Erstere sei „eine solche, deren Aussagen die Gesellschaft unter dem Aspekt ihrer Veränderbarkeit darstellen und die bestehenden Herrschaftsverhältnisse entschleiern. Eine Theorie der Revolution gibt bestimmte strategische Prinzipien an“ (244) – wie etwa die Unterscheidung von Sozialisierungsstrategie und Kommunikationsstrategie (s.u.).
  • 16. Hier spielt auch der autoritäre Sozialstaat seine Rolle: Indem er „materielle Sicherheit“ verspreche, unterdrücke er, wie Krahl im Unterschied zu Horkheimer annimmt, „Emanzipationsbedürfnisse“ und spanne die „lohnabhängigen Massen“ in ein „System der Apathie ein“ (239). Als „die Basisideologie des gerechten Äquivalententausches“ mit der Liquidation der Zirkulation zerbrach und die Organisationen der Arbeiterklasse offiziell anerkannt wurden, sei „die Sozialreform durch den autoritären Staat“ notwendig geworden, „um emanzipatorische Bedürfnisse als solche zu ersticken“ (202). Ohne diese Unterdrückung würden die „emanzipativen Regungen“ des Proletariats dazu führen, dass dieses begänne „sich auf irgendeine selbsttätige Weise zu solidarisieren und untereinander zu organisieren“ (25f). Die wilden Streiks im September 1969 sah er als Beleg für diese Annahme.
  • 17. Dutschke/Krahl, Organisationsreferat, oS.
  • 18. In einer Notiz zu Lenins „Was tun?“ aus dem Sommer 1967 heißt es bereits: „Lenin kann ausgehen von der Existenz einer Bewusstseinsavantgarde; sein Problem ist das der Agitation. Heute sind wir auf die Konstitution von Bewusstseinsgruppen zurückverwiesen, die einmal avantgardestrategische Funktion übernehmen können.“ (159f)
  • 19. Vermittelnd fungiert hier allerdings die Annahme, dass die „Verschärfung des Gegensatzes zwischen reichen und armen Ländern […] die Möglichkeit regional begrenzter sozialer Revolutionen in den kolonialen Ländern erhöht, die einer den Kapitalismus aufhebenden Praxis im imperialistischen Westen geschmälert“ hat (172).
  • 20. Vgl. allerdings auch eine ähnliche Äußerung in Zur historischen Dialektik der nachstalinistischen Reform in der CSSR (277), einem 1968 veröffentlichten Artikel von Krahl.
  • 21. Marcuse, Der eindimensionale Mensch, S. 21.
  • 22. Etwas dialektischer formuliert, findet sich ein ähnlicher Gedanke bei Dietmar Dath: „Die Menschen müssen ihre Maschinen befreien, damit die sich revanchieren können.“ (Dath, Maschinenwinter, S. 131)
  • 23. Marcuse, a. a. O., S. 61.
  • 24. Vgl. unten 3.2.
  • 25. Diese Interpretation von Luxemburg muss man nicht teilen, geht sie doch keineswegs davon aus, dass Klassenbewusstsein ohne weiteres Zutun von Organisation und Aufklärung aus dem Kampf erwächst – diese Momente gehören für sie vielmehr untrennbar zusammen (vgl. Luxemburg, Organisationsfragen der russischen Sozialdemokratie, S. 74). Zwar bezeichnete sie die Geschichte als „die einzig wahre Lehrmeisterin“ des Proletariats (Luxemburg, Die Reichskonferenz des Spartakusbundes, S. 478), gleichzeitig sei es aber Aufgabe der Partei, den Proletariern das Bewusstsein über ihre historische Mission zu vermitteln. Ihr galt die Spontaneität als der nicht von außen herbeizuführende Funken, der Bedingung von Bewusstseinsbildung ist, aber eben noch nicht diese selbst.
  • 26. Wallat, Staat oder Revolution, S. 103.
  • 27. Reinicke, Für Krahl, S. 25.
  • 28. Bourdieu, Meditationen.
  • 29. Adorno, Zur Lehre von der Geschichte und von der Freiheit, S. 100.
  • 30. Die linkskommunistische Kritik an Lenin und dem Bolschewismus (Wallat, a. a. O.), wird von ihm kaum rezipiert. Die Holländische Schule, namentlich Anton Pannekoek, findet zwar ab und an Erwähnung, sie erhält aber zumindest in den verschriftlichten Überlegungen von Krahl bei weitem nicht denselben Raum wie Lenin und Lukács, was angesichts der Wiederentdeckung des Rätegedankens in der Student*innenbewegung (vgl. Allmendinger, Brecht dem Schütz die Gräten, alle Macht den Räten) überrascht. Interessant wäre in diesem Zusammenhang auch, was Krahl an Lukács gerade nicht kritisiert, wie etwa dessen Degradierung der Freiheit, eigentlich Ziel und Zweck der Emanzipation, zu einem Mittel: „Die Freiheit kann (ebensowenig wie etwa die Sozialisierung) einen Wert an sich darstellen. Sie hat der Herrschaft des Proletariats, nicht aber diese ihr zu dienen.“ (Lukács, Geschichte und Klassenbewusstsein, S. 450)
  • 31. Vgl. oben 3.
  • 32. Vgl. oben 2.
  • 33. Mit dieser Diskussion nahm der SDS bereits die Organisationsdebatten des Jahres 1969 vorweg: „Folgt man […] den Debatten in der Roten Presse Korrespondenz seit ihrem Ersterscheinen Frühjahr 1969, so bemerkt man wie sehr alles in dieser Zeit um die Frage einer Zentralisierung der vielfältigen Initiativen auf allen Ebenen kreist. […] Wie kann ein Kommunikationszentrum äußerst divergenter Ansätze und Interventionen, vom Zentralrat der Sozialistischen Kinderläden Westberlin bis zur Justizkampagne, von INFI bis zu den Basis- und Betriebsgruppen in den Stadtvierteln, von Kommune-Projekten und subkulturellen Szeneläden bis zu den im Laufe des Jahres sich bildenden Roten Zellen an den Universitätsinstituten aussehen?“ (127)
  • 34. Krahls Replik: „[D]as legitime Bedürfnis, das hier auch immer wieder aufkommt, politisches Leben und Privatleben zu vermitteln, äußert sich im Moment in den Basisgruppen so, und das ist eben doch das Kommune-Element darin, daß das politische Leben privatisiert wird“ (Wolff/Windauus, Studentenbewegung 67-69, S. 208).
  • 35. Vgl. Wolff/Windaus, Studentenbewegung 67-69, S. 192ff.
  • 36. Wolff/Windaus, Studentenbewegung 67-69, S. 206.
  • 37. Semler wird später die KPD/AO (1970), Hans-Gerhart „Joscha“ Schmierer den KBW (1973) mitbegründen.
  • 38. Vgl. Wolff/Winaus, Studentenbewegung 67-69, S. 211.
  • 39. Gringmuth, Was war die Proletarische Wende?, S. 169.
  • 40. Hier sieht sich Krahl durchaus in der Tradition des Leninschen Begriffs von Agitation: Die Massen müssten „aus eigener Erfahrung autonom nachvollziehen, was die Avantgardestrategen ihnen vermitteln: die konkrete Erfahrung der abstrakten Herrschaft.“ (159)
  • 41. Wo aber verläuft die Grenze zwischen sozialistischer (Kader-)Organisation und dezentralisierter Bewegung? Die revolutionäre Organisation hat – anders als die bürgerlich-kapitalistische Form der Organisation – keine klare, über bürokratisch-formal geregelte Mitgliedschaft definierte Grenze, schließlich lautet die Konsequenz aus der Transformation von Partei und Gewerkschaften zu Unterdrückungs- und Integrationsinstrumenten, es brauche eine „antibürokratische Praxis“ (242). Doch für den aktiven Kern der Bewegung soll als revolutionäres Organisationsprinzip gelten: „Keiner ohne Funktion!“ (185). Eben weil es keine formal geregelte Grenzen gibt, könnte hieraus umgekehrt ein Schuh werden: wer (bewusst) eine Funktion wahrnimmt, ist organisiert.
  • 42. Unerwartete Aktivität entfalteten Teile der bundesdeutschen Arbeiterklasse mit den wilden Streiks im September 1969, was der Frage nach der Verhältnisbestimmung von Student*innenbewegung und Arbeiter*innenklasse neue Dringlichkeit verlieh. In die sich darauf beziehende Strategie- und Organisationsdebatte interveniert Krahl mit seinen Thesen zum Verhältnis von wissenschaftlicher Intelligenz und proletarischem Klassenbewusstsein.
  • 43. In diesem Zusammenhang wäre zu diskutieren, was die Debatten um Care- bzw. Reproduktionsarbeit für die Utopie der „Abschaffung der Arbeit“ bedeuten, die sich auch in gegenwärtigen Diskussionen über Automation (vgl. kritisch Benanav, Automation and the Future of Work) wiederfindet. Sie bezieht sich schließlich nicht nur auf die Abschaffung der kapitalistischen Form der Lohnarbeit, sondern meint ein weitestgehendes Hinaustreten aus dem ‚Reich der Notwendigkeit‘, das zu beackern den Maschinen überlassen werden soll. Damit ist diese Utopie recht eindeutig auf Industriearbeit bzw. die Produktion von materiellen Gütern fixiert. Die „vitalen Bedürfnisse“ sind aber keineswegs mit Nahrung, Kleidung und einem Dach über dem Kopf abgedeckt, wie bspw. auch Marcuse unterstellte (vgl. Marcuse, Der eindimensionale Mensch, 25). Die Debatten um Reproduktions- und Care-Arbeit werfen unter anderem die Fragen auf, in welchem Ausmaß und in welcher Form eine Technologisierung oder Automatisierung von Arbeit überhaupt wünschenswert ist und was in einer von kapitalistischen und patriarchalen Zwängen befreiten Assoziation eigentlich noch ‚Arbeit‘ ist. Die Sorge um sich und andere abzuschaffen, sollte jedenfalls nicht zum Emanzipationsprinzip erhoben werden.
  • 44. Wildcat-Redaktion, Klassenkampf statt Regierungshandeln; vgl. auch Endnotes, Onward Babarians.
  • 45. Quantitativ betrachtet mag das zutreffen (vgl. auch das IMF working paper von Barrett et al., Measuring Social Unrest Using Media Reports), von einem wenigstens halbwegs optimistischen Geist des Aufbruchs, der die vorangegangenen mehr oder weniger revolutionären Phasen kennzeichnete, ist heute aber kaum etwas zu spüren – eher von einem Geist der Verzweiflung.
  • 46. Vgl. Negt, Nicht nach Köpfen, sondern nach Interessen organisieren!, S. 219.
  • 47. Vgl. Bayat, Leben als Politik.