Das Leugnen der Realität und die Realität des Leugnens

23. Januar 2022

In manchen europäischen Ländern haben sich neben Querdenkerinnen, Esoterikern und Rechtsextremen auch Teile des antiautoritären Milieus gegen Maßnahmen im Umgang mit der Covid-19-Pandemie gestellt oder die weltumspannende Gesundheitskrise gleich ganz in Zweifel gezogen. Sie wittern in den Protesten gegen Schutzmaßnahmen, Gesundheitspässe oder die Impfpflicht ein aufständisches Potenzial, veröffentlichen konfus-konspirationistische Manifeste, während sie sich gegenüber der realen Bedrohung und den realen Ängsten oft gleichgültig verhalten. Die Gruppe Antithesi und Freunde fragen sich vor dem Hintergrund der griechischen Situation, wie es soweit kommen konnte. Und sie untersuchen, wie durch Repression und Austerität das kollektive Leben und der Widerstand aufgelöst und so ein Nährboden für die Bewegung der Corona-Leugnerinnen bereitet wurde.

 

Wenngleich sich Linksradikale im deutschsprachigen Raum kaum an solchen Mobilisierungen beteiligen, sie angesichts der pandemischen Realität vielmehr paralysiert dem Staat und seinen falschen Kritikern gegenüberstehen, stellt der vorliegende Text einen wichtigen Beitrag zum Verständnis des katastrophalen Pandemiemanagements und den irrationalen Reaktionen auf die virale Gefahr dar. Indem die Autorinnen und Autoren der Frage nachspüren, was diese Krise und der Umgang mit ihr über den Kapitalismus der Gegenwart, den Staat, die Subjekte und die Bedingungen für ihr Denken und ihre Kämpfe verrät, treten sie der allgemeinen Konfusion in Teilen der Linken entgegen. Wir haben uns deshalb zu einer Übersetzung und Veröffentlichung des Beitrages entschieden.

 

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Vorwort zur englischen Übersetzung

 

Dieser Text wurde im September 2021 auf Griechisch verfasst und veröffentlicht. Er war als polemische Intervention in eine Debatte über das Sars-CoV-2-Virus, die Maßnahmen und Instrumente zu seiner Bekämpfung und den Autoritarismus der griechischen Regierung gedacht. Erstaunt (und bestürzt) darüber, dass viele unserer Genoss:innen und Freund:innen aus dem radikalen Milieu die Pandemie leugnen und teilweise sogar langsam aber sicher in Verschwörungsdenken abrutschen, wollten wir den offenkundigen Irrationalismus nicht nur kritisieren, sondern auch die Gründe für eine solche Regression verstehen. Mit unserem Text versuchen wir die Frage zu beantworten, was uns die Corona-Pandemie (und ihr Management) über den zeitgenössischen Kapitalismus und den Staat sagt. Gleichzeitig fragen wir uns, was sie uns über die Subjekte der heutigen Zeit und die materiellen Bedingungen für kollektive Denkanstrengungen und Kämpfe sagt.

 

Der Text wurde mit Blick auf ein griechisches Publikum verfasst, daher sind einige Passagen, die nur für dieses relevant sind, in der Übersetzung entfallen. Gleichzeitig wurde deutlich, dass sich viele der angesprochenen Punkte ohne weiteres auf andere Länder übertragen lassen. So scheinen auch in Frankreich und Italien radikale Linke die pandemische Realität zu verleugnen. Die Parallelen machen die Übersetzung des Textes zu einem lohnenden Unterfangen, und wir danken unseren Genoss:innen in Frankreich, Spanien, Deutschland, der Schweiz und Italien, die ihr Interesse daran bekundet haben. Unter anderem zeigen die Gemeinsamkeiten, dass bestimmte historische Entwicklungen in Griechenland (wie zum Beispiel die Folgen einer anhaltenden Austeritätspolitik und die Niederlage der gegen sie gerichteten sozialen Bewegungen) zwar in vieler Hinsicht bedeutsam sind, es aber auch in die Irre führen kann, sie in den Vordergrund zu rücken. Die beispiellosen existenziellen und materiellen Folgen eines ansteckenden Virus lösten fast zeitgleich auf der ganzen Welt Angst und Unsicherheit sowie unterschiedliche Reaktionen von Staat und Kapital aus. Diese Gleichzeitigkeit erlaubt es uns, unsere Beobachtungen über Griechenland hinaus auszuweiten.

 

Da Übersetzen im Wesentlichen Interpretieren (und manchmal auch Umschreiben) bedeutet, wurde die Struktur des Texts leicht verändert, um ihn flüssiger lesbar zu machen. Und obwohl seine Veröffentlichung bereits fast zwei Monate zurückliegt, haben wir bewusst nicht allzu viel ergänzt oder aktualisiert. Hinzugefügt haben wir lediglich ein paar Anmerkungen zum leidlichen Eintreffen unserer düsteren Prognosen sowie einige Erläuterungen, um den Text für ein nicht-griechisches Publikum verständlicher zu machen.

 

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Ich gestand mir noch nicht die Mitschuld zu, in deren Bannkreis gerät, wer angesichts des Unsäglichen, das kollektiv geschah, von Individuellem überhaupt redet.

 

- Adorno, Minima Moralia

 

Die Ausbreitung des Corona-Virus hat nicht nur die Weltwirtschaft für mehrere Monate zum Stillstand gebracht und die Verwalter:innen dieser Welt in Panik versetzt, und sie hat auch nicht nur eine Vielzahl widersprüchlicher Gegenmaßnahmen nach sich gezogen, die zum Teil mit Eifer umgesetzt und zum Teil sträflich vernachlässigt wurden. Wie jede große Krise hat die Pandemie auch Kräfte und Tendenzen ans Licht gebracht, die in der vorangegangenen Periode offen oder im Verborgenen am Werk waren, sowohl innerhalb der kapitalistischen (Re-)Produktionsverhältnisse als auch in kleineren Bereichen des gesellschaftlichen Lebens wie etwa dem politischen Milieu der radikalen Linken. Unter dem Eindruck der Corona-Krise hat der griechische Staat sich dafür entschieden, eher auf Triage als als auf Zusammenhalt zu setzen. Die Pandemie hat den miserablen Zustand des Gesundheitssystems nach jahrelangen Austeritätsmaßnahmen ebenso offenbart wie gewisse Wandlungen innerhalb der linksradikalen Milieus nach einem Jahrzehnt der Niederlage und des Rückzugs. Im Zuge der Sparmaßnahmen wurden nicht nur Löhne, Renten und Sozialleistungen gekürzt; auch der Gedanke des Kollektiven, einer gemeinsamen, gesellschaftlichen Existenz hat Schaden genommen. Die Folgen dieser Entwicklung sind heute deutlich sichtbar: Während eine rechtsextreme Regierung ihren autoritären Kurs durch die unumkehrbare Zerstörung der Natur 1, die Misshandlung und Ermordung von Immigrant:innen2 und den katastrophalen Umgang mit dem Corona-Virus3 festigt, haben Teile der linksradikalen Bewegung ausgerechnet in der Leugnung der Pandemie ein Aktionsfeld für sich entdeckt.

 

Selten war ein so großer Anteil der Weltbevölkerung gezwungen, sich gleichzeitig mit einer eskalierenden Krise auseinanderzusetzen; den bornierten Horizont vieler Radikaler hat dies kaum erweitert. Während Regierungen auf der ganzen Welt ihr Bestes taten, um die Wirtschaft am Laufen zu halten, und sie mit Appellen an die „individuelle Verantwortung“ vom offensichtlichen Zusammenbruch der jahrzehntelang „rationalisierten“, d.h. kaputtgesparten öffentlichen Gesundheitssysteme abzulenken versuchten, reagierten viele Radikale auf die Lage, indem sie jeden Gedanken von Public Health in Frage stellten.4 In einer Situation kriminellen Missmanagements, das zu Hunderten von vermeidbaren Todesfällen geführt hat, hielten sie es für geboten, die Existenz der Pandemie zu bestreiten. Und angesichts des anhaltenden Schreckens, der die Menschen nach Atem ringen lässt, leugnen sie weiterhin die mit dem Virus verbundenen Gefahren.

 

Ansteckende Krankheiten unterscheiden sich in einem ganz wesentlichen Punkt von anderen Krankheiten: Sie sind per definitionem sozial. Sie setzen Kontakt, Zusammenleben, eine Gemeinschaft voraus – und sei es eine entfremdete. Die Corona-Pandemie hat jedoch gezeigt, dass wir uns in einer historischen Periode befinden, in der soziale Beziehungen als belastende Leere zwischen festen, in sich abgeschlossenen und unverletzlichen Individuen erlebt werden; zwischen Individuen, die selbstbestimmt, unhinterfragbar und auch nicht ansteckend sind. Ob man diese Selbstwahrnehmung nun als Ausdruck von Narzissmus oder von (neo)liberalen Vorstellungen interpretiert, die den gesellschaftlichen Charakter der kapitalistischen Verhältnisse und der sie reproduzierenden Subjekte mystifizieren, ist an dieser Stelle relativ unerheblich.

 

Radikale Kritik zielt darauf ab, die tatsächliche Leere aufzudecken, die in diesem Fall gerade in einer solchen Individualität besteht. Radikale Kritik nimmt gesellschaftliche Verhältnisse als Verhältnisse wahr, das heißt als Beziehungen zwischen Menschen, auch wenn sie nicht frei und bewusst eingegangen und aufrechterhalten werden. Dennoch sind es Beziehungen; der Kern der gesellschaftlichen Wirklichkeit ist nicht das Individuum.

 

Niemand hat eine persönliche Beziehung zu einer ansteckenden Krankheit. Folglich kann auch niemand nur auf der Grundlage rein persönlicher Entscheidungen mit ihr umgehen. Wenn wir von Leugner:innen sprechen, meinen wir einerseits diejenigen, die die Existenz der Pandemie oder die von ihr ausgehende Gefahr bestreiten, andererseits aber auch diejenigen, die sich weigern, den sozialen Charakter unserer Existenz innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft anzuerkennen. Wie wir zeigen werden, geht beides häufig Hand in Hand.

 

Unabhängig davon, wie die gegenwärtige Krise politisch gedeutet wird, bestimmen diese Formen von Leugnung den Rahmen, in dem aktuell Einwände laut werden. Dennoch werden sie nie in dieser Offenheit geäußert. Im Gegenteil, die meisten Leugner:innen geben vor, ihre Kritik beträfe den Umgang mit der Pandemie. Dabei versteht es sich von selbst, dass das Pandemiemanagement katastrophal war (und ist). Aber die Pandemie oder ihre Auswirkungen zu leugnen, führt nur umso tiefer in die Katastrophe hinein. Dies zeigt sich in einem nahtlosen (und manchmal unbewussten) Übergang zu reaktionären, protofaschistischen Verschwörungsmythen. Und was vielleicht noch wichtiger ist: Diese Formen von Leugnung spiegeln und fördern ein völlig verkehrtes Verständnis von Kapital, Staat und kollektiver, gesellschaftlicher Existenz. Dass solche Vorstellungen in linken und linksradikalen Milieus anzutreffen sind, ist an sich nichts Neues. Aber es ist vielleicht das erste Mal, dass sie zu so tiefgreifenden Brüchen in den eigenen Reihen geführt haben.

 

Bevor wir die tieferliegenden Ursachen für dieses Leugnen untersuchen, lohnt es sich daher, einen genaueren Blick darauf zu werfen, was dieses Management war (und was nicht). Dabei interessiert uns vor allem die Phase, die durch die Verfügbarkeit von Impfstoffen bestimmt ist.

 

Das (Miss-)Management der Pandemie

 

Nachdem die griechische Regierung Kontaktverfolgung, Social Distancing, Quarantäne und andere Maßnahmen, die vorher mit beispiellosem repressivem Eifer durchgesetzt worden waren5, weitgehend aufgehoben hatte, folgte sie in der Sommersaison 2021 dem Beispiel zahlreicher anderer Länder und legte ihren Fokus auf die „Impfkampagne“. Infolgedessen wurde eine Reihe neuer Bestimmungen erlassen und seit September schrittweise umgesetzt.

 

Die wichtigste davon war die Einführung einer Impfpflicht für Beschäftigte im öffentlichen wie privaten Gesundheitswesen; wer sich nicht impfen lässt, wird ohne Lohn und Versicherungsschutz vom Dienst suspendiert. Ungeimpfte in anderen Sektoren wie Gastgewerbe, Tourismus, Bildungswesen, Kultur und Hochschulen müssen sich ein- bis zweimal pro Woche testen lassen und die Kosten dafür selbst tragen (bislang kam der Staat dafür auf). Außerdem wurden negative Tests für Fernreisen mit öffentlichen Verkehrsmitteln und für den Zutritt zu öffentlichen Einrichtungen vorgeschrieben, mit Ausnahme von Restaurants, Vergnügungsstätten und Sportplätzen, die nur Geimpfte oder Genesene betreten dürfen. Ungeimpfte Schüler:innen müssen zwei kostenlose Selbsttests pro Woche durchführen. Gleichzeitig gestattet die Regierung den Unternehmen, von ihren Beschäftigten einen Impfnachweis (oder ein negatives Testergebnis) zu verlangen; tun diese der Aufforderung nicht nach, drohen ihnen je nach Größe und Branche unterschiedlich hohe Bußgelder. Auf diese Weise wurde die Durchsetzung der Maßnahmen in erheblichem Umfang der Privatwirtschaft übertragen, was einen indirekten Rückzug des Staates aus der sogenannten „Impfkampagne“ anzeigt.6

 

Die offizielle Staatspropaganda, mit der diese neuen Maßnahmen gerechtfertigt wurden, war, wie üblich, ziemlich irreführend. Indem sie den unbestreitbaren Rückgang der Impfungen während der Sommermonate hervorhob7, jede Verantwortung für die stümperhafte Impfkampagne aber von sich wies, machte die Regierung deutlich, dass sie den Anstieg der Neuinfektionen (und der daraus folgenden Krankenhausaufenthalte und Todesfälle) allein den Ungeimpften zuzuschreiben hoffte (eine schwammige Kategorie, bei der nur selten zwischen bewussten Impfverweigerer:innen und Menschen unterschieden wird, die sich nicht impfen lassen können). Auf diese Weise rückte sie ihre eigene, sträflich dumme Entscheidung, auf alle anderen Gegenmaßnahmen während der Urlaubszeit zu verzichten, in den Hintergrund.8 Es bestand kaum ein Zweifel daran, dass dieselbe „Strategie“ auch das Pandemiemanagement nach der Urlaubszeit prägen würde.

 

Die Regierung versuchte, um jeden Preis einen neuen Lockdown zu vermeiden, indem sie in unverantwortlicher Weise und gegen alle verlässlichen wissenschaftlichen Erkenntnisse die Impfung als Freifahrtschein darstellte und alle Beschränkungen aufhob. Angesichts der höheren Übertragungsrate der Delta-Mutation sowie der Tatsache, dass Impfungen zwar einen erheblichen Schutz vor schweren Erkrankungen und Tod bieten, eine Infektion aber nicht ausschließen, steht völlig außer Frage, dass der bevorstehende Winter verheerend sein wird.9 Die Kombination aus einer neuen Mutation, einem hohen Prozentsatz an Ungeimpften (Griechenland hat die niedrigste Impfrate in der Eurozone) und eines bereits in den letzten anderthalb Jahren überlasteten Gesundheitssystems, das u.a. durch die Suspendierung ungeimpften Personals noch weiter ausgehöhlt wird, lässt unweigerlich eine albtraumhafte Vorahnung aufkommen. Dass die Regierung offenbar davon überzeugt ist, sie könne sich der Kritik an dieser absehbaren Katastrophe entziehen, indem sie alle Verantwortung auf die Ungeimpften abwälzt, zeigt einmal mehr, dass das Hauptaugenmerk dieser Bande auf bloßer PR und Schadensbegrenzung liegt, sie aber über keine ernstzunehmende langfristige Strategie verfügt.

 

Als Reaktion auf die neuen staatlichen Maßnahmen und den nach wie vor widersprüchlichen Umgang mit der Pandemie hat sich eine Bewegung von Leugner:innen gebildet, die weitaus größer ist als in der vorangegangenen Phase. Diese Bewegung, die aus Protesten gegen die Impfpflicht für Gesundheitspersonal hervorgegangen ist, ist alles andere als homogen. Sie reicht von der extremen Rechten bis zu orthodoxen Priestern, von Linken und Anarchist:innen bis zum Gesundheitspersonal. Was diese unterschiedlichen politischen Lager verbindet, ist nicht, wie von manchen gerne behauptet, die Ablehnung der autoritären Regierungspolitik. Es ist vielmehr die Leugnung der Pandemie oder zumindest der vom Virus ausgehenden Gefahr, die Berufung auf die individuelle Freiheit gegen bestehende oder angekündigte Maßnahmen sowie die Überzeugung, die Pandemie sei nur ein Vorwand für die Verwirklichung finsterer Pläne der Eliten (bestehend aus Big Pharma, Internetgiganten, Politiker:innen als deren „zynischen und moralisch hemmungslosen Vertreter:innen“10, und Architekt:innen einer neuen Weltordnung oder des „Globalismus“). Hinter diesen Vorstellungen verbirgt sich ein grundlegendes Missverständnis sowohl der kapitalistischen Verhältnisse als auch der Rolle des Staates darin.

 

Eine widersprüchliche Reproduktion

 

Um die Grundlagen des Pandemiemanagements zu verstehen, muss man sich vergegenwärtigen, dass der Staat die politische Form der kapitalistischen Produktionsverhältnisse ist. Da diese per definitionem widersprüchlich sind, manifestieren sich solche Widersprüche auch auf der Ebene staatlicher Politik. So kann etwa im Zuge einer beispiellosen Pandemie die Notwendigkeit der Reproduktion gesunder und produktiver Arbeitskraft mit der Notwendigkeit einer ununterbrochenen Fortsetzung der kapitalistischen Ausbeutung in Konflikt geraten. Anders ausgedrückt: Die Notwendigkeit der materiellen Reproduktion aller Elemente des Kapitalverhältnisses kann im Widerspruch zur Notwendigkeit stehen, Wertschöpfung und Rentabilität zu steigern, und der kurzfristige Profit der Unternehmen (selbst der marktbeherrschenden) im Widerspruch zur langfristigen Aufrechterhaltung des Kapitalverhältnisses. Dieser Widerspruch wurde schnell sowohl als Konflikt um die Gestaltung der Maßnahmen wie auch in der Widersprüchlichkeit ihrer Umsetzung deutlich.

 

Der Staat ist dafür zuständig, einen Rahmen zu schaffen, in dem die kapitalistische Akkumulation gedeihen kann – durch gesteigerte Produktivität der Arbeitskräfte, die Anpassung der Erwerbsbevölkerung an die Bedürfnisse des Kapitals, die Verfeinerung der Arbeitsteilung und die Senkung der Reproduktionskosten der Lohnabhängigen. Es geht aber auch um seine eigene Legitimität und die der ausbeuterischen Verhältnisse, die er aufrechterhält. Die Koexistenz dieser beiden Tendenzen wurde während der Pandemie zu einer explosiven Angelegenheit. Die Politik, die sich letztlich durchsetzte, stellte nur einen vorübergehenden Kompromiss inmitten dieser Widersprüche dar, ohne sie jemals überwinden zu können.

 

Gegenwärtig besteht kein Zweifel daran, dass alle Regierungen um jeden Preis neue restriktive Maßnahmen vermeiden wollen, die die ohnehin schon schwächelnde Konjunktur weiter belasten würden. Diese Tendenz zeigte sich bereits während des zweiten griechischen Lockdowns, der im November 2020 verhängt wurde. Er war bereits weniger streng als der erste und zielte darauf ab, insbesondere in Sektoren wie dem Tourismus, die für die griechische Wirtschaft als unverzichtbar gelten, den Betrieb so wenig wie möglich zu behindern. Stattdessen beschränkte er die nicht direkt produktiven Aktivitäten der Bevölkerung und konzentrierte sich so fast ausschließlich auf den Freizeitbereich, wobei auch jegliche kollektive Mobilisierung unterbunden wurde.

 

Der immanente Widerspruch zwischen der Notwendigkeit zur sozialen Isolierung einerseits, der Konzentration der Arbeitskräfte zur Aufrechterhaltung von Produktion und Distribution andererseits, bestimmte von Anfang an das Pandemiemanagement jenseits medizinischer Maßnahmen.11 Mittlerweile liegt auf der Hand, dass sich das anfängliche Misstrauen und die Gleichgültigkeit der westlichen Welt gegenüber den Warnungen vor einem neuartigen, ansteckenden Virus mit den dramatischen Vorhersagen eines weltweiten Zusammenbruchs des BIP, der Unterbrechung von Lieferketten, der Aussetzung des Handels und anderen Störungen erklären lassen, die mit der Einstellung der Arbeit und somit der Mehrwertproduktion einhergehen. Auf diese Weise lässt sich auch die Verabschiedung von widersprüchlichen und halbgaren Maßnahmen erklären, deren potenzielle Wirksamkeit von Anfang an untergraben wurde: Während die meisten Betriebe nahezu unkontrolliert weiterliefen und die Erkenntnis, dass der öffentliche Verkehr ein offensichtlicher Ansteckungsherd ist, mit pseudowissenschaftlichen Begründungen12 ignoriert wurde, fand gleichzeitig eine massive Überwachung des öffentlichen Raums im Freien statt.

 

Bemerkenswert ist jedoch, dass dieser recht offenkundige Widerspruch zwischen unterschiedlichen Momenten des Kapitalverhältnisses und des Staates die Denkfähigkeit einiger Radikaler überfordert zu haben scheint; was zu Positionen geführt hat, die vom Wesentlichen ablenken und sowohl die (halbherzigen) Maßnahmen der Regierung ablehnen als auch die materielle Wirklichkeit der Pandemie selbst bestreiten. Dass die Regierungen die Pandemie als Vorwand nutzen, um ihre autoritäre Herrschaft zu festigen, ist aus dieser Sicht ein Indiz dafür, dass die Pandemie gar nicht existiert.13 Oder, sofern sie doch existiert, soll sie nur für einen kleinen und ohnehin gefährdeten Teil der Bevölkerung bedrohlich sein. Diese Einstufung erfolgte meistens (zu Unrecht) nach Altersgruppen.14 Auf Grundlage dieser Annahmen gab es keinen Grund für die Verhängung von Maßnahmen – abgesehen von den autoritären Neigungen des Staates. Die hohe Übertragungsrate des neuen Virus, die von ihm ausgehenden Gefahren und die hohe Sterblichkeitsrate wurden so zu einem Problem umgedeutet, das sich mühelos lösen ließe, wenn die (ohnehin schon strukturell vernachlässigten) gefährdeten Alten „geschützt“, d. h. aus unserem Blickfeld entfernt würden. Jede andere Maßnahme, so behaupteten die Leugner:innen, habe nur das Ziel, die staatliche Kontrolle und Disziplinierung auszuweiten.

 

In der Frühphase der Pandemie spielten der Mangel an verlässlichen Daten, der Unglaube angesichts der sich ausbreitenden Dystopie und sowie die Tatsache, dass Warnungen von bereits diskreditierten Organisationen und Institutionen kamen, eine entscheidende Rolle bei der Entstehung solcher Deutungsmuster. Noch gravierender war jedoch, dass sie von Leuten übernommen wurden, die Anspruch auf wissenschaftliche „Autorität“ erheben. Bereits im März 2020, als die meisten Menschen die Existenz des Corona-Virus und die drohende Gefahr noch gar nicht registriert hatten, warnte John Ioannidis in einem Artikel vor übertriebenen, unwirksamen und potenziell katastrophalen Maßnahmen bei der Bekämpfung der Pandemie.15 Das zentrale Argument war nur scheinbar plausibel: Es gebe nicht genügend Beweise, um so drastische Maßnahmen wie Lockdowns, Masken und Social Distancing zu rechtfertigen. Erstaunlicherweise hielt dieser Mangel an Informationen Ioannidis nicht von dem Vorschlag ab, überhaupt keine nennenswerten Maßnahmen zu ergreifen. Obwohl seine Behauptungen den Anschein einer wissenschaftlich fundierten Argumentation erwecken, stellen sie in Wirklichkeit eine gezielte (und klar politisch motivierte) Ablehnung bestehender Richtlinien für die Bekämpfung von Pandemien dar. Da Mutationen von Grippeviren etwa alle zehn Jahre registriert worden waren, beruhte das Protokoll der Gesundheitsbehörden in den USA und anderen Ländern auf dem Ansatz, besser in den ersten Tagen einer Epidemie drastische Maßnahmen zu ergreifen, als eine rapide, oftmals exponentielle Ausbreitung zuzulassen, die sich nicht mehr eindämmen lässt.16

 

Es braucht nicht viel Phantasie, um sich klarzumachen, welche Auswirkungen die Umsetzung solcher Richtlinien auf die Wirtschaft hätte. Deshalb handelt es sich bei Einwänden wie denen von Ioannidis nicht nur um rein technische oder wissenschaftliche Einwände gegen die geltenden Verfahren. Sie entspringen vielmehr dem von uns aufgezeigten zentralen Widerspruch: dem Zielkonflikt zwischen unmittelbarer Profitabilität (die durch temporäre Betriebsschließungen beeinträchtigt würde) und der erweiterten Reproduktion von wesentlichen Momenten des Kapitalverhältnisses. Ioannidis und seinesgleichen haben sich in diesem Konflikt klar auf eine Seite geschlagen.

 

Obwohl sich allmählich die Einsicht durchsetzt, dass eine Unterbrechung des wirtschaftlichen Betriebs unausweichlich ist, um die weitere Ausbreitung des Virus mit all ihren katastrophalen Folgen für die kapitalistische Ökonomie insgesamt zu verhindern, bilden Argumente wie die von Ioannidis bis heute den Bezugsrahmen von Corona-Leugner:innen: die hartnäckige und allen tatsächlichen Erkenntnissen widersprechende Darstellung des Virus als bloßer Grippe; die verschwörungstheoretische Infragestellung der Sterblichkeitsrate; die das Virus verharmlosende selektive Verwendung falsch interpretierter oder schlicht gefälschter Daten17; die Behauptung, nur ältere Menschen mit geschwächtem Immunsystem wären gefährdet. All diese Argumente, die seither von Corona-Leugner:innen auf der ganzen Welt endlos wiederholt wurden, finden sich bereits in Ioannidis' Artikel vom März 2020.18

 

In Griechenland wurden solche Überlegungen durch die besonderen Umstände der ersten Pandemie-Welle gefördert. Die geradezu panische Eile, mit der die Regierung damals harte Maßnahmen ergriff, die Tatsache, dass die Pandemie außerhalb der touristischen Hochsaison ausbrach und der internationale Reiseverkehr eingeschränkt war, sowie die allgemeine Besorgnis in der Bevölkerung, die sich angesichts eines jahrzehntelang kaputtgesparten Gesundheitssystems freiwillig Vorsicht auferlegte, führten dazu, dass Griechenland die ersten Monaten im Vergleich zu Ländern wie Italien mit einer eher geringen Zahl an Infektionen, Krankenhausaufenthalten und Todesfällen überstand. Dieser (vorläufige) Erfolg dient den Leugner:innen aber inzwischen als eigentümliche Bestätigung, denn er kann den falschen Eindruck erwecken, die Gefährlichkeit des Virus sei überschätzt worden; das kommt ihnen entgegen, während sie weiterhin darauf beharren, ihr Protest richte sich ausschließlich gegen das staatliche Pandemiemanagement.

 

Die anfänglich niedrigen Zahlen führten jedenfalls dazu, dass die Maßnahmen schließlich gelockert wurden, was dem Wunsch der Regierenden entsprach, in der Tourismussaison 2020 wieder öffnen zu können, und geradewegs in die zweite Welle von Ende Oktober 2020 mündete. Als klar wurde, dass eine derartig unbekümmerte Haltung nicht nur falsch, sondern katastrophal ist, war es bereits zu spät; nicht nur für die Tausenden, die erkrankten, und die Hunderten, die an einem Virus starben, das immer noch als einfache Grippe dargestellt wurde, sondern auch für all die Leugner:innen, die das Geschehen weiterhin auf Grundlage der ersten Welle beurteilten, ihre ideologischen Scheuklappen festzurrten und den nachfolgenden Entwicklungen mit längst widerlegten Deutungsschemata begegneten.

 

Verschiedene Arten des Pandemiemanagements

 

Der weit verbreitete Irrglaube, Vorstellungen wie die von Ioannidis oder die viel diskutierte Great Barrington Declaration19 wären „ignoriert“ worden, setzt ein erstaunliches Maß an Verleugnung voraus, denn immerhin haben solche Positionen bis zu einem gewissen Zeitpunkt eindeutig den Handlungsrahmen von Staatschefs wie Trump, Bolsonaro und Johnson bestimmt. Nachdem die Pandemie und die Dringlichkeit von Gegenmaßnahmen immer wieder heruntergespielt wurden, kollidierte dies schließlich mit dem ungeheuren Anstieg von Infektionen, Krankenhauseinweisungen und Todesfällen, sodass selbst diese Regierungen gezwungen waren, gewisse Formen von Lockdown und Social Distancing zu beschließen, was schließlich auch zu einer Unterbrechung internationaler Lieferketten führte.

 

Die Gründe dafür liegen auf der Hand: Das Ziel unmittelbarer Rentabilitätssteigerung und das Ziel der allgemeinen Aufrechterhaltung des Kapitalverhältnisses waren noch nie identisch. Zu welcher Seite sich die Waage neigt, hängt auch von Niveau und Intensität der sozialen Kämpfe und von Legitimationsfragen ab. Aber dass der Staat zugunsten einer Kapitalfraktion oder schlimmer noch zur abstrakten Disziplinierung bewusst und vollständig darauf verzichten würde, das Kapitalverhältnis insgesamt aufrechtzuerhalten, stand nie zur Debatte.

 

Ebenso falsch ist der umgekehrte Standpunkt, den viele Linke vertreten: Der Staat ist kein neutraler Apparat, der unter den richtigen Bedingungen oder unter einer anderen Regierung in den Dienst der Arbeiter:innen gestellt werden kann. Radikale Kritik glorifiziert weder den Staat, der für die allgemeine Reproduktion des Kapitalverhältnisses zuständig ist, noch gibt sie sich der Illusion hin, seine Stärkung könne irgendeinen Sieg für „das Volk“ bedeuten – im Übrigen ein schwammiger, gehaltloser Begriff. Wenn der Staat Schranken für die private Kapitalakkumulation errichtet, so tut er dies nicht, um die Proletarisierten vor brutaler Ausbeutung zu schützen. Er tut dies, weil seine Rolle auch darin besteht, das langfristige Überleben des Kapitalverhältnisses zu sichern, das oft mit den unmittelbaren Plänen des (einzelnen) Privatkapitals kollidiert – selbst mit denen großer Unternehmen. Der Staat greift entweder ein, um sozialen Druck zu mindern, oder um innerkapitalistische Rivalitäten zu lösen, die das relative Gleichgewicht zwischen privater Kapitalakkumulation und allgemeiner Reproduktion gefährden könnten. Das Verhältnis selbst hebt er jedoch nicht auf.

 

Allerdings sind weder die Gesetze, die das Privatkapital regulieren (fortwährende Profitmaximierung um jeden Preis), noch das diffizile Gleichgewicht, das die staatliche Vermittlung aufrechtzuerhalten hat, schweren Krisen gewachsen. Wenn es dem Privatkapital nicht gelingt, sich Vorteile zu verschaffen (obwohl der rechtliche und politische Rahmen des Staates dies begünstigt), wird es auf dem Altar der Wettbewerbsfähigkeit geopfert, und es gibt viele Beispiele dafür, dass das Versagen von Staaten bei der Aufrechterhaltung des genannten notwendigen Gleichgewichts ihnen die Existenzgrundlage entzieht und sie in Failed States verwandelt. In jedem Fall ist der Versuch, die Wirtschaft offen zu halten und damit einer Seite des Kapitalverhältnisses den Vorrang zu geben, schließlich an seine Grenzen gestoßen, so dass Maßnahmen zu seiner allgemeinen Aufrechterhaltung unabdingbar wurden.

 

Vor diesem Hintergrund hätte man erwarten können, dass diejenigen, die das Corona-Virus stur als eine einfache, nur für ältere Menschen gefährliche Grippe darstellten, innehalten und sich besinnen würden. Ihren Behauptungen widersprach bereits die schlichte Realität, dass sich die Verantwortlichen der Weltökonomie (wenn auch widerwillig und verspätet) gezwungen sahen, die Wirtschaftstätigkeit monatelang lahmzulegen und so der Produktion, Distribution und Profitabilität zu schaden, während sie gleichzeitig eine bis dahin undenkbare Aufblähung der Staatsverschuldung als notwendiges Mittel billigten, um die Folgen dieser beispiellosen wirtschaftlichen Erschütterung zu bewältigen. Diese Abkehr von der ökonomischen Orthodoxie erfolgte in einer Phase, in der selbst die dynamischsten Volkswirtschaften (wie die der USA oder Deutschlands) bereits mit anhaltender Stagnation und niedrigen Wachstumsraten zu kämpfen hatten. Die zentrale Frage, warum eine solch dramatische Stilllegung der Weltwirtschaft notwendig gewesen sein sollte, nur um dem Autoritarismus zum Durchbruch zu verhelfen, wird von den Leugner:innen nicht beantwortet.

 

Was wir stattdessen beobachten konnten, war eine bemerkenswerte Verdoppelung ihrer Anstrengungen, die noch einmal zeigt, dass über das Funktionieren der kapitalistischen Wirtschaft und des Staates große Konfusion herrscht, hier verbunden mit einer geradezu uneingeschränkten Hinwendung zum Individualismus. An die Stelle von Reflexion trat eine ganze Reihe sich ergänzender Theorien, die von rechtsextremen und antisemitischen Verschwörungsvorstellungen rund um 5G und Bill Gates bis hin zu linken oder anarchistischen Erzählungen über Big Pharma, Webkonzerne, neue Totalitarismen, „Hygiene-Apartheid“ und Disziplinierungstheorien reichen.20 Ungeachtet der Unterschiede in Inhalt und Gewichtung haben sie alle denselben Ausgangspunkt: die Behauptung, dass das Virus nur ein Vorwand und keine echte Bedrohung wäre. Sie unterscheiden sich einzig und allein in der Beantwortung der Frage, für was dieser „Vorwand“ eigentlich gebraucht wird.

 

Die gesellschaftlichen Bedingungen

 

Die SARS-CoV-2-Pandemie war kein äußerer Schock, der eine ansonsten stabile Normalität erschüttert hätte. Zum einen war sie logische Konsequenz der kapitalistischen Ökonomie und der Art und Weise, in der sich „die kapitalistische Produktion grundsätzlich zur nicht-menschlichen Welt verhält – die ‚natürliche Welt‘ samt ihres mikrobiologischen Unterbaus kann, kurz gesagt, nur im Zusammenhang dessen verstanden werden, wie die Gesellschaft die Produktion organisiert“.21 Zum anderen fiel die Pandemie in eine Phase, in der die Gesellschaft mit einer lang anhaltenden ökonomischen Krise zu kämpfen hatte.

 

Besonders in Ländern wie Griechenland, wo die Krise durch die verheerenden Folgen jahrelanger Austerität noch verschärft wurde, kam es zu vielschichtigen Auswirkungen. Einerseits sollte man nicht vergessen, dass die harten Sparmaßnahmen, die durch keinen proletarischen Aufstand abgemildert werden konnten, ideologisch im Namen des Allgemeininteresses gerechtfertigt wurden. Aufgrund der Niederlage der sozialen Bewegungen, die den Maßnahmen etwas entgegenzusetzen versucht hatten, ist es letztlich mit der einseitige Klassenpolitik dieses „Allgemeininteresses“ nicht zu einer Stärkung proletarischer Kämpfe gegen Kapital und Staat gekommen. Nach der Niederschlagung der Mobilisierungen gegen die Memoranda im Winter 201222 konnten keine gemeinsamen Kämpfe gegen die Austerität mehr aufrechterhalten werden. Stattdessen sahen wir einen Rückzug in kleinbürgerliche, zahlenmäßig eng umgrenzte Formen unmittelbarer Gemeinschaftlichkeit (Familie, kleine Freundeskreise, das örtliche Café), in denen – im Gegensatz zur Explosion kollektiver Erfahrungen in der vorangegangenen Phase – eine horizontale soziale Kontrolleleichter aufrechtzuerhalten ist und sich fast zwangsläufig die Identität des isolierten und gleichzeitig verherrlichten Individuums in den Vordergrund drängt.

 

Durch die zahlreichen Niederlagen und das Schwinden von Perspektiven ist auch die Idee von Kollektivität nicht nur als soziale Realität, sondern auch als notwendigen Bedingung des Widerstands gegen die kapitalistische Maschinerie untergraben worden. Natürlich wurden kollektive Existenz und Mobilisierung auch schon vor der Krise oft nur als Unterstützung politischer Parteien oder Organisationen verstanden und erfahren (so in der außerparlamentarischen und parlamentarischen Linken); oder aber in den immer wiederkehrenden, aber stets flüchtigen und schwammigen Begriff der „Aufständischen“ übersetzt (so im anarchistischen/anti-autoritären Milieu). Doch nicht nur das Verschwinden der sozialen Bewegungen förderte die Zersplitterung, auch das allgemeine Gefühl des Rückzugs, das auf die Niederlagen folgte, trug zur Fragmentierung bei. Die Linke wurde sich dessen schmerzhaft bewusst, als sie sich infolge der Wahl Syrizas 2015 entlang der jeweiligen Distanz zum neuen Staatsapparat endlos spaltete. Relevante Teile des anarchistischen Milieus sahen sich genau durch diesen Prozess sowohl in ihrer Absonderung von der Gesellschaft als auch in ihrer Annahme bestätigt, dass es keine Kollektivität gibt, die auf dem Spiel stünde, sondern lediglich rebellische Individuen, die sich in kleinen Organisationsformen oder informellen Netzwerken von Freund:innen bewegen.

 

Nach einer großen Krise und dem Scheitern einer Bewegung mit kollektiven Forderungen ergeben sich solche Rückzüge und Privatisierungstendenzen mit einer gewissen historischen Unvermeidlichkeit. Aber diese negativen Auswirkungen lassen sich zumindest etwas abschwächen, wenn man erstens die Gründe dieser Entwicklungen sowie ihre Kontingenz anerkennt und zweitens bewusst versucht, sich nicht in dieser Marginalität als einziger Position, von der aus das Gesellschaftliche noch reflektiert werden kann, einzurichten. Inwieweit man allerdings erfolgreich der Tendenz widersteht, den Rückzug in eine geschwächte und isolierte Position noch zu affirmieren, zeigt sich in jedem Fall erst im nächsten Kampfzyklus. Wenn es in dieser Pandemie dahingehend irgendwelche Indikatoren gibt, dann negative. Bei wesentlichen Teilen der Bewegung hat die kollektiven Vision schrittweise der Konsolidierung und Verteidigung einer zurechtgestutzten (individuellen) Autonomie und Selbstbestimmung oder dem isolierten Aktivismus politischer Sekten Platz gemacht. Mit dieser Verschiebung erscheint ihnen das Gesellschaftliche zunehmend als äußere Einmischung oder schlimmer noch als ideologische Erfindung, die sich mit staatlichem Autoritarismus verbindet. Wie sie mit ihrer Schwerpunktsetzung und ihren Interventionen immer wieder deutlich gemacht haben, erkennen sie nicht an, dass es ein akutes Public-Health-Problem gibt – sofern es überhaupt ein tragfähiges Konzept von „Public Health“ geben kann. Stattdessen erkennen sie überall nur Versuche „biopolitischer“ Disziplinierung und infolgedessen zahlreiche Übertreibungen seitens des Staats und der Pharmaindustrie, mit denen ein Problem, das nur einen kleinen Teil von Älteren und Vulnerablen betreffe, in ein Versuchsfeld für eine langfristige gesellschaftliche Transformationen verwandelt werden solle.

 

Indem sie diejenigen, die die Pandemie ernst nehmen, als willentliche (oder verblendete) Unterstützer:innen eines schleichenden staatlichen Autoritarismus23 darstellen, schaffen die Leugner:innen erst den Raum dafür, dass der Staat sich als verantwortlicher und rationaler Exponent des „Allgemeininteresses“ gegen irrationalen Individualismus präsentieren kann. Einer kollektiven Malaise wie der Pandemie die unendliche Ausweitung individueller Freiheit entgegenzusetzen, verstärkt nur die Einordnung des Ganzen als Krieg aller gegen alle, die es dem Staat erlaubt, als rationale(re) Vermittlungsinstanz aufzutreten – und das in einer Phase wachsender Unzufriedenheit  und Wut auf das skandalöse Versagen der Staatsapparate und des Pandemiemanagements. Dies ist keine soziale Bewegung, die ebenso sehr gegen ein Pandemiemanagement kämpft, das in erster Linie den ökonomische Schaden minimieren möchte, wie füreinen universellen und bedingungslosen Zugang zu vorhandenen Schutzmöglichkeiten (von Impfstoffen bis zum bezahlten Fernbleiben vom Arbeitsplatz) und umfassenderer Gesundheitsversorgung. Stattdessen sehen wir die Entwicklung einer Strömung, die im Namen von „Freiheit“ und Selbstbestimmung das Recht einfordert, so zu tun, als würde es Sars-CoV-2 nicht geben.

 

Ein Haufen Individuen

 

Hinter der Berufung auf „körperliche Selbstbestimmung“ und der Verteidigung des Rechts auf eigene Entscheidung24 erkennen wir die verzweifelte Anthropologie eines geschwächten Individuums, das immer nur Spielball objektiver Kräften und unfähig ist, sich eine kollektive Existenz vorzustellen, die etwas anderes wäre als das Trugbild einer bloßen Ansammlung Einzelner.25 Mit ihrer Idee individueller Freiheit stellen die Leugner:innen die Grundlage ihrer Ohnmacht gar nicht in Frage, schieben aber alle Verpflichtungen, Bindungen, Verantwortlichkeiten und Konsequenzen, die mit kollektiven Zusammenleben einhergehen, beiseite. Es stimmt zwar, dass soziale Bindungen zu einem Hindernis für Befreiung werden können, aber sie sind immer noch Ausdruck von Verbindungen zwischen Menschen und bilden damit ein Feld möglicher Emanzipation.

 

Im Begriff der individuellen Freiheit steckt noch eine weitere dialektische Mehrdeutigkeit. So sehr sie historisch gesehen Schutz vor klerikalem und feudalem Autoritarismus bot, so sehr war sie auch Vehikel für die Vereinzelung in kapitalistischen Sozialbeziehungen, die nicht mehr durch Religion oder das heilige Recht der Könige, sondern durch die abstrakten Kategorien von Recht und Markt vermittelt waren. Das geht so weit, dass radikale Leugner:innen heute nicht einmal vorgeben, irgendeine Verpflichtung einzugehen oder die sozialen Folgen ihrer Haltung anzuerkennen. Beschränktheit und enger Horizont ihrer Position liegen damit offen zutage – sie entpuppt sich als schlechte Aufhebung des bürgerlichen Individualismus. Während sich der Liberalismus noch daran abkämpfte, die Hohlheit des isolierten Individuums zu versöhnen, indem er sich auf abstrakte Universalismen (Recht und Markt) berief, wird heute kein solcher Versuch unternommen.

 

In dieser Denkweise erkennen wir auch das psychische Gepräge des modernen Narzissmus. Durch gesellschaftlichen Druck unablässig von Zerfall bedroht, versucht das Individuum reflexartig, seine Integrität zu erhalten. Gleichzeitig ist es aus genau dieser Gesellschaft überhaupt erst hervorgegangen. Gerade weil Narzissmus der Verlust des Selbst und nicht dessen Bestätigung ist, geht er mit einer selektiven Apathie gegenüber dem kollektiven Leben einher. Diese Gleichgültigkeit wiederum weist auf eine praktischen Abschaffung der Empathie hin. Gleichzeitig führt das widersprüchliche Gefühl der Ohnmacht des Einzelnen auch zu Abwehrreaktionen, die Überlegenheitsgefühle gegenüber anderen hervorrufen. Auf scheinbar paradoxe Weise führt die Anerkennung und der Aufstieg individueller Freiheit als Gegengewicht zum staatlichen Autoritarismus zum Verblassen individueller Subjektivität. In kollektiven Prozessen und Beziehungen, die nicht durch Geld, Markt und Staat vermittelt werden, können Menschen aber nur als individuelle Subjekte (und nicht als verdinglichte abstrakte Einheiten) handeln. Dies schien in den Klassenauseinandersetzungen und den daraus hervorgegangenen Kampfgemeinschaften durch, die im letzten Jahrzehnt besiegt und aufgelöst wurden.

 

Trotz ihres Streitens für und ihrer Berufung auf „Freiheit“ werden Leugner:innen keinerlei Zuflucht und Unterstützung bieten können, wenn sich ihr Wirklichkeitsbegriff letztlich auf persönliche und subjektive Angelegenheit beschränkt und keinerlei Bezug auf irgendetwas außerhalb der unmittelbaren persönlichen Erfahrung hat. Gründet der Widerstand auf der Ich-Konstitution und individueller Freiheit, entsteht ein Selbst, das von Demütigungen und Kontrollverlusts gequält ist, das mit allen Mitteln eine „Wiederherstellung von Gerechtigkeit“ anstrebt und das sich gegen alles wendet, was außerhalb seines ausgedehnten Identitätsgefühls liegt. In diesem Prozess entsteht auch ein verzerrtes Bild des Staates, der kapitalistischen Welt und derjenigen, die es als Verbündete oder Feind:innen wahrnimmt.

 

Wo nur noch von Rechten die Rede ist und individuelle Autonomie als unantastbares Privateigentum eingeklagt wird, ist der Standpunkt einer sozialen Emanzipation, die auf die Abschaffung der Klassengesellschaft und des kapitalistischen Eigentums zielt, aufgegeben und eine kollektive Abwehr der Gefahren eines ansteckenden Virus und der menschlichen Kosten kapitalistischer Widersprüche ausgeschlossen.

 

Zudem lenken diejenigen, die sich gegen die Beschränkungen und negativen Folgen des Lockdowns aussprechen – während sie gleichzeitig die Realität der Pandemie leugnen –, von der Tatsache ab, dass individuelle Freiheit in der kapitalistischen Gesellschaft bereits vor der Pandemie formal und begrenzt war. Niemand geht jeden Morgen aus freiem Entschluss und nach reiflicher Überlegung zur Arbeit, noch hat man einen direkten Einfluss darauf, wie diese Arbeit organisiert wird. Die Menschen sind dazu gezwungen, um zu überleben, und nur ihre kollektiven Kämpfe bestimmen den Rahmen, in dem sich dieser Zwang mehr oder weniger direkt und gewaltsam vollzieht. In diesem Zusammenhang ist Leugnen kein Antagonismus gegen die Staatsform oder die kapitalistischen Verhältnisse per se (und kann es auch nicht sein), sondern der Versuch, in einer mehrdeutigen Konfliktsituation (der globalen Pandemie) eine gewisse Normalität zu wahren. Für die Leugner:innen stellt sich die Pandemie als ein Alptraum dar, der ihnen den Schlaf raubt.

 

Vor dem Ausbruch der SARS-CoV-2-Pandemie hätten nur eine Handvoll engagierter Impfgegner:innen mit bereits wirren Ansichten die Impfpflicht für Gesundheitspersonal als einen Ausdruck einer aufkommenden autoritären Ordnung betrachtet26. Lässt man SARS-CoV-2 einmal beiseite, wird schnell klar, dass man erschreckend engstirnig sein muss, um die Schutzmaßnahmen gegen Infektionskrankheiten tatsächlich in den Bereich persönlicher Entscheidungen delegieren zu wollen. Vor allem, wenn man bedenkt, wie solche „Entscheidungen“, selbst unter Fachleuten des Gesundheitswesens, tendenziell vom Sumpf der sozialen Medien geprägt, von reaktionären Ideologien aufgeblasen und durch das Kaleidoskop der sterilen Individualität gerahmt werden.

 

Hinter der imaginären Institution einer solchen Ich-Autonomie und hinter einem auf Rechtsbegriffen beruhenden Körperverständnis erkennen wir mit Dauvé die Spuren „einer bürgerlichen Revolution, die sich ewig vollendet und perfektioniert, indem sie von der Demokratie verlangt, einen Inhalt statt nur eine Form zu haben. Radikale Kritik lehnt diese Bestrebungen nicht ab, sondern zeigt nur ihre Grenzen auf. Wenn die Ursachen der Unterdrückung nicht bekämpft werden können, müssen die Unterdrückten zwangsläufig gegen ihre Auswirkungen kämpfen. In diesem Fall wird der Anspruch auf den eigenen Körper als Schutz gegen dessen Fremdaneignung empfunden [...] Leider erweist sich dieser Schutz als Illusion. Individuelles Eigentum ist kein Schutz gegen Enteignung. [...] Die Wiederaneignung des Selbst kann nur kollektiv erfolgen.“27

 

Eine radikale Verteidigung individueller Rechte ist nicht möglich, wenn sie nicht in ihrer Begrenztheit anerkannt wird, und schon gar nicht, wenn sie zu Lasten unserer kollektiven Erfahrung geht. Dass ein solches Konzept überhaupt auf fruchtbaren Boden fällt, setzt die extreme (und abstrakte) Konstitution des Individuums voraus, die durch liberale Phantasien oder, was auf dasselbe hinausläuft, durch die Unfähigkeit hervorgebracht wird, den gesellschaftlichen Charakter einer ansteckenden Krankheit zu verstehen.

 

Jeder weiß, dass dieses falsche Selbst, das einen an ein Unternehmen, eine Familie, eine Tradition, eine Nationalität, eine Nation oder die Gesellschaft im Allgemeinen bindet, im Namen eines kollektiven „Wir“ Unterdrückung produziert, die lediglich die bestehende Herrschaft aufrechterhält. Aber die Antwort ist, wie Dauvé feststellt, „nicht die Ausweitung neuer Formen des Ichs, sondern die Erschaffung eines nicht trügerischen Selbst [...] Alles, was wirklich gewonnen wird und positiv, ‚menschlicher‘, ist, ist das Ergebnis gemeinsamer Aktionen [...] Unser Körper gehört denen, die uns lieben, nicht aufgrund irgendeines ‚Gesetzes‘, sondern weil wir als Fleisch und Blut nur in Beziehung zu ihnen leben und handeln. Und in dem Maße, in dem wir die Menschheit kennen und lieben können, gehört ihr unser Körper“.

 

Statt jede Vorstellung von kollektiver Existenz oder sogar die Idee von Public Health selbst zu untergraben, sollte die Sorge und Fürsorge für die Menschen um uns herum ein nicht verhandelbares Merkmal radikaler Kritik sein. Denn damit, dass man soziale Beziehungen als Hindernisse für Individualität ansieht, verwirft man gerade den wirklichen Reichtum menschlicher Erfahrung. Die Sorge um Andere hat sich nie auf unterschiedliche Grade von Vulnerabilität beschränkt oder von einer gründlichen Evaluation der wissenschaftlichen Forschung abhängig gemacht. Wäre das Fehlen oder die Mehrdeutigkeit solcher Forschungen wirklich Grund, diese Fürsorge oder Sorge einfach sein zu lassen? Für uns bleibt es rätselhaft und zutiefst bedrückend, dass Menschen (vor allem enge Genoss:innen) bereit sind, solche Fürsorge oder Sorge im Namen der Kritik am „wissenschaftlichen Totalitarismus“ oder deshalb, weil sie das persönliche Ego und individuelle Freiheiten begrenzt, zur Disposition zu stellen. Wir sehen in solchen Positionen weder eine systematische Kritik des wissenschaftlichen Diskurses noch einen heroischen Ungehorsam gegenüber dem Autoritarismus des Staates oder kapitalistischen Apparats. Was wir stattdessen sehen, ist eine Haltung, die eine selektive oder wirre Rezeption der Daten widerspiegelt, die über die Pandemie und ihre weitergehenden sozialen Auswirkungen vorliegen. Dem zugrunde liegt vor allem der Versuch einer Rationalisierung (und Abweisung) der schweren psychologischen Belastung, die eine Anerkennung der uns umgebenden Dystopie und der uns plötzlich auferlegten vielfältigen Verantwortung mit sich bringt.28

 

Die politische Identität der Corona-Leugner:innen

 

In den Bewegungen der Corona-Leugner:innen dominiert weltweit nicht zufällig die extreme Rechte. Diese Bewegungen sind ideologisch anfällig für Verschwörungstheorien, mit denen sich der zunehmende Kontrollverlust rationalisieren lässt, und zeigen eine unterschwellige Neigung zu autoritärer Disziplinierung. Außerdem findet man im faschistischen Denken schon historisch immer wieder die positive Bezugnahme auf eine Politik des Thanatos (Todes), die sich aggressiv gegen unproduktive Mitglieder der Gesellschaft oder ‚Schädlinge‘ der produktiven Gemeinschaft richtet. Folglich ist es kaum verwunderlich, dass sich genau dieses politische Spektrum um jeden Preis für eine Rückkehr zum wirtschaftlichen Normalbetrieb einsetzte. Gleiches gilt für die verbreiteten Erzählungen über Herdenimmunität, in denen kaum kaschiert Sozialdarwinismus und eugenische Phantasien zum Vorschein kamen.

 

Der Aufstieg solcher postfaschistischen Tendenzen ist ein globales Phänomen.29 In Griechenland wurde dieser Trend insbesondere durch die nationalistischen Massenproteste gegen Mazedonien sowie die Pogrome gegen Migrant:innen auf den griechischen Inseln und in den Grenzregionen verstärkt. Diese Ereignisse sorgten letztlich dafür, dass sich aus einst losen Tendenzen ein bedeutender sozialer Block herausbilden konnte, der sich schließlich sogar in den Staatsapparat integrierte.30 Wo das isolierte Individuum als Daseinsform vorherrscht, nimmt die Suche nach Verallgemeinerung zwangsläufig die Form von Abstraktionen wie starker religiöser Zugehörigkeit oder nationalen Identitäten an. Genoss:innen aus Thessaloniki beschreiben dieses Phänomen wie folgt: „Nationale und religiöse Gemeinschaften gewinnen an Bedeutung, da sie den Einzelnen Stabilität und Schutz sowie die Wiedererlangung individueller und kollektiver Souveränität versprechen. Sie füllen die materielle und symbolische Lücke, die der Zusammenbruch des patriarchalen Wohlfahrtsstaats hinterlassen hat.“31 Die Wiederherstellung der patriarchalen staatlichen Herrschaft, die Gehorsam einfordert und Schutz verspricht, ist das Ziel der gegenwärtigen Politik faschistischer Strömungen. Diese Perspektive fällt in den Auseinandersetzungen während der Pandemie auf besonders fruchtbaren Boden, sei es durch die Verbreitung alter Verschwörungsnarrative (Bill Gates, die jüdische Weltherrschaft, Freimaurer usw.), sei es durch Behauptungen, die griechische DNA oder der orthodoxe Glaube würden Schutz gegen das Virus bieten. Dieser organisierte Mob „versucht mit der Anrufung des Vaterlandes und des orthodoxen Glaubens und mit dem Ruf nach einem Aufstand der Nation obsessiv ein Imaginäres zu errichten, mit dem sich der Kampf gegen einen unsichtbaren Feind aufnehmen lässt, dessen Ursprünge zwar schemenhaft bleiben, dessen Ziel jedoch scheint, das griechische Territorium und seine Religion zu zersetzen, die ökonomisch stärksten Sektoren des Landes abzuwürgen und das grundsätzlich machtlose Volk zu unterwerfen und zu maßregeln.“

 

Neben den faschistischen Strömungen setzt sich die Bewegung vor allem aus Liberalen und einem bunten Haufen von Irrationalist:innen zusammen. Die liberale Fraktion brennt für die bedingungslose Verteidigung von Privateigentum und Individuum gegen jedes kollektive Interesse oder Gemeinwesen. Die Fraktion der Irrationalist:innen oder Querdenker:innen, die sich vor allem aus Q-Anon-Spinner:innen, mystischen Homöopath:innen und spirituellen Esos zusammensetzt, kann sich dank der Proteste gegen die Corona-Maßnahmen zum ersten Mal einer öffentlichen Plattform bedienen, um ihren New-Age-Aberglauben und astrologischen Hokuspokus zu verbreiten und alternative ‚Heilmethoden‘ zu verkaufen.

 

Die wirkliche Spaltung innerhalb der antagonistischen Bewegung

 

Leider beschränkt sich das Phänomen der Corona-Leugnung nicht auf den rechten Mob. In bestimmten Ländern (allen voran Frankreich und Griechenland) haben sich überproportional große Teile des linksradikalen und antiautoritären Milieus systematisch gegen Maskentragen, Abstandhalten, Quarantäne und Kontaktverfolgung gestellt. Als Begründung führen sie den repressiven (und irrationalen) Charakter dieser Maßnahmen an oder stellen, noch schlimmer, die Pandemie selbst infrage. Ähnlich wie bei der extremen Rechten hat dieser Umstand auch Teile des linken Milieus in die Impfgegnerschaft oder zum Widerstand gegen den „Gesundheitspass“ geführt.

 

Wie bereits betont, gehen die genannten Mobilisierungen vielfach von einer Vorstellung der kapitalistischen Gesellschaft aus, die sich fälschlich in der Herrschaft von Pharmariesen, Techkapital, Großbanken, Massenmedien und neoliberalen Politiker:innen erschöpft und gelegentlich sogar auf den rechtsextremen Begriff der „Globalisten“ zurückgreift. Gleichzeitig ist wie auch bei rechter Ideologie wenig erreicht, wenn man solche Phänomene als Verschwörungstheorien brandmarkt. Und zwar nicht, weil diese Erzählungen endlos inhaltsleere Banalitäten aneinanderreihen (der Staat als monströser Apparat, die Interessen der herrschenden Klasse, die nicht-neutrale Technologie usw.), sondern weil solche Denkformen sich gegen jede Kritik abschotten: Die Kritik wird zum Beweis ihrer ‚Wahrheit‘. Die Angriffe, denen sie sich ausgesetzt sehen, belegen den Corona-Leugner:innen lediglich, dass sie sich jenseits des Mainstreams bewegen. Mit Widersprüchen im Denken ist man heutzutage schon auf dem besten Weg zum Märtyrertum.32

 

Anders als ihre rechten Pendants setzen linksradikale Corona-Leugner:innen dem Kollaps des kollektiven, gesellschaftlichen Raums weder Nationalismus noch Religion entgegen. Doch was genau führen sie stattdessen ins Feld? Manche von ihnen behaupten, dass es sich bei den Mobilisierungen gegen die Corona-Maßnahmen um ein von Rechten gekapertes Klassensubjekt handelt, das von der Linken verraten wurde: Diese habe sich direkt oder indirekt dem Staat zugewandt, weshalb den Unzufriedenen nur noch die nationalistischen und religiösen Angebote der extremen Rechten blieben. In mehr als einem Land rechtfertigen (Ex-)Genoss:innen mit diesem Argument die Teilnahme an Corona-Demos, auf denen auch Faschist:innen mitlaufen. Dabei wird oft angemahnt, dass man rechte und linke Positionen gegenüber den Corona-Maßnahmen nicht in einen Topf werfen dürfe. Ironischerweise sind es jedoch die linken Corona-Kritiker:innen selbst, die dies tun: So wurde von (Ex-)Genoss:innen u.a. behauptet, dass es ihnen „egal ist, ob diese Positionen auch von Rechten geteilt werden, solange sie korrekt sind“, und dass es momentan eben „leider nur die extreme Rechte ist, die Widerstand leistet“. Diese Anekdoten finden selbstverständlich auch ihre Rechtfertigung im öffentlichen Theoriediskurs. Ein symptomatischer französischer Text fasst seine Analyse der Situation folgendermaßen zusammen: „Die Bevölkerung spaltet sich gegenwärtig in zwei Lager. Diejenigen, die erkennen, dass die Technokrat:innen überall bereit sind, absolut alles zu tun, um die bestehende politische und ökonomische Ordnung zu verteidigen. Das andere Lager hingegen glaubt, dass die Technokrat:innen in dieser schweren Krise alles in ihrer Macht stehende tun und wir von ihnen lediglich besseren Schutz einfordern sollten.“33

 

Ähnlich argumentiert auch das italienische Kollektiv Wu Ming. Es warnt vor einer pauschalen Ablehnung der Mobilisierungen, die zwar „widersprüchlich, aber unausweichlich“ seien, und kritisierte „die Leichtigkeit, mit der Etiketten angebracht wurden, sowie das Festhalten am von uns so genannten ‚pandemischen sozialen Frieden‘“. Wu Ming hält dem entgegen, dass die Teilnehmer:innen der Kämpfe gegen die Corona-Maßnahmen primär von der Sorge um „ihre eigene Proletarisierung“ angetrieben würden, und bezeichnet die Präsenz faschistischer Tendenzen lediglich als bedenklich, obwohl organisierte faschistische Gruppen teilnehmen. Eine Linke, die sich darauf beschränke, „dies alles als ‚faschistisch‘ zu bezeichnen“, zeige „zumindest ein Zeichen von ideologischer Verblendung“ und ist entweder zum „aktiven Unterstützer des Staates“ (Amiech) oder zu einem potentiellen „Verteidiger des Status quo“34 (Wu Ming) geworden.

 

Andere gehen noch weiter. Denjenigen, die die Pandemie und ihre Gefahren ernst nehmen, wird zum einen vorgeworfen, sie wären „unterwürfig“, „Staatskollaborateur:innen“ oder „hygienetotalitär“. Zugleich wird radikale Kritik des Pandemiemanagements bewusst ignoriert und die richtige Antwort auf die gegenwärtige Lage einzig darin gesehen, Masken, Lockdown, Abstandhalten und Impfungen abzulehnen. Diese Kreise setzen sich als „Aufständische“ (ohne einen Aufstand ein geradezu sinnloses Konzept) in überheblicher Weise von der „unterwürfigen“ Gesellschaft ab und belächeln die Angst vor einem ansteckenden Virus, während sie ihre eigene aufgeblasene Angst vor Überwachung und Biotechnologie in den Vordergrund stellen. In den Mobilisierungen sehen und feiern sie „Aufstände“ gegen eine techno-biologische Dystopie. Uns fällt es hingegen schwer zu verstehen, wie ein politischer Diskurs, der sich aus Online-„Forschung“, Algorithmus-Manipulationen und der Aufblähung abwegigster Positionen durch Social Media speist, ein Erwachen gegen eine technologische Dystopie der Massenüberwachung sein kann.35

 

Die gesundheitliche Gefährdung durch SARS-CoV-2 halten die Leugner:innen für künstlich übertrieben. Diese Positionen offenbaren den Wunsch nach Rückkehr zu einer Normalität vor dem „hygienischen Totalitarismus“ und der „Apartheid“36, als noch keine Zertifikate von zeitgenössischen Dr. Mengeles erforderlich waren und man das soziale Leben noch ohne Beschränkungen und Ausschluss genießen konnte – mit anderen Worten eine Rückkehr zum Leben vor Corona.

 

Wir verstehen den Wunsch, der Dystopie, in der wir leben, entkommen zu wollen. Allerdings bezweifeln wir, dass dieses Ziel erreicht werden kann, indem man das Virus „einer Grippe“ gleichsetzt und sich Schutzmaßnahmen bewusst verweigert, darunter Impfungen, deren Wirksamkeit gegen symptomatische Infektionen, Krankenhausaufenthalte und Tod überzeugend belegt ist. Wie wir dabei mit einigem Erstaunen feststellen, sehen auch ansonsten kluge und radikale Köpfe die Antwort auf die Versuche des Staates, alles auf „individuelle Verantwortung“ zu reduzieren, allzu schnell in der persönlichen Entscheidung, sich die soziale Realität egal sein zu lassen, statt in einem kollektiven Kampf, der unsere Interessen über die der Wirtschaft und ihre Folgen stellt.

 

Das herrschende Recht (und seine repressive Seite) löst Ehrfurcht und Unterwerfung aus, wo man ihm als isolierte Einzelne gegenübertritt; nur kollektiver Widerstand setzt sich darüber hinweg. Kollektiver Widerstand ist jedoch nicht einfach die Summe voneinander getrennter freier Individuen, die nur unter einer gemeinsamen politischen Agenda vereinigt werden können (was die extreme Rechte versucht). Die Rolle radikaler Kritik und Praxis kann nicht darin bestehen, zwar eine politische Agenda (die extreme Rechte) durch eine andere (die Linke) zu ersetzen, aber den Kern dieser Politik, nämlich individuelle Freiheit, nicht in Frage zu stellen. Ein Kampf, der Autonomie und individuelle Freiheit gegen die missverstandenen Funktionsweisen von Kapital, Staat und wissenschaftlichen Entwicklungen ins Feld führt, kann nur selbst in der Affirmation des Kapitals im Allgemeinen enden.

 

Innerhalb eines solchen Rahmens bleibt die Kritik an Kapital, Staat und selbst der Wissenschaft oberflächlich und verkommt zur bloßen Karikatur.37 Das Kapital wird darin zu einem Subjekt, das konspiriert und die Pandemie als Vorwand benutzt, um etwas gewaltsam durchzusetzen, das ohnehin auf der Tagesordnung stand – ohne dabei jedoch die Art von koordiniertem Widerstand hervorzurufen, der überhaupt erst die massiven Disziplinarmaßnahmen rechtfertigen würde, die hinter dem Covid-Ablenkungsmanöver lauerten. Darüber hinaus passt dieses Verständnis des Kapitals als konspirativem Subjekt sowohl in einen linken als auch in einen rechtsextremen/antisemitischen „Antikapitalismus“, der vor allem ein fetischisierter, reaktionärer Antikapitalismus ist (wie Postone festgestellt hat).

 

Auch der Staat wird darin nicht mehr als politische Form des gesellschaftliches Kapitalverhältnisses verstanden, sondern gerät wie in den schlimmsten Überbleibseln orthodox-marxistischen Denkens zu einem Instrument der Eliten (ein Denkschema, das impliziert, dass eine andere Gruppe von Eliten den Staat zwingen könne, „dem Volk zu dienen“). Daraus lassen sich die verschiedenen Missverständnisse und Übertreibungen rund um eine „Politik der Disziplin“ erklären: Indem Disziplin zum Selbstzweck wird, geraten staatliche Interventionen zur Sicherstellung einer erweiterten Reproduktion aus dem Blick und die konkrete Reproduktion des Proletariats – als conditio sine qua non der kapitalistischen Produktion – wird mystifiziert. Stattdessen sollen wir glauben, dass staatliche und transnationale Behörden, die vermeintlich experimentelle oder gefährliche Impfungen fördern, aus irgendeinem Grund bereit sind, die Gesundheit und das Leben von Milliarden von Proletarier:innen und die wertvollste Ware der kapitalistischen Akkumulation, Arbeitskraft, zu opfern, um die Profite einiger weniger Pharma- und Big-Tech-Unternehmen zu sichern.

 

Wie schon erwähnt, verhindert diese bedauerliche Verwirrung der Leugner:innen, dass sie entscheidende Verschiebungen zwischen staatlichen Akteuren und Kapital überhaupt erfassen und analysieren. Wo sie das Schreckgespenst einer allgegenwärtigen Tendenz zur Disziplinierung unter dem Vorwand eines „pandemischen Fiaskos“ herbeireden, können sie nicht mehr erklären, warum zentrale Elemente der globalen politischen Ökonomie der letzten Jahrzehnte über Nacht ad acta gelegt wurden. Sehr auffällige Veränderungen – die Ignoranz gegenüber der „katastrophalen“ Zunahme der Staatsverschuldung, die direkte Intervention der Zentralbanken durch Gelddrucken ohne Sparauflagen oder Ausschluss finanzpolitisch „undisziplinierter“ Staaten, die Bereitstellung von EU-Mitteln in Form von Zuschüssen (und nicht von Krediten) – können nicht im Entferntesten mit dem Aufkommen einer „Grippe“ begründet werden, an die sich großen Pharma-Unternehmen bereichern können.

 

Abschließend noch eine Bemerkung zur Wissenschaft. Im Gegensatz zur Vorstellung eines techno-dystopischen Apparats, der nur überwacht und Daten sammelt, um damit „Roboter zu trainieren und die zahllosen Algorithmen zu entwickeln, die an unserer Stelle bestimmen, was wir tun können und wollen“38, verstehen wir Wissenschaft lieber zugleich als Produktivkraft, als enteignetes gesellschaftliches Wissen und als Produktionsprozess. Tatsächlich hat sich der Produktionsprozess im modernen Kapitalismus allgemein in einen wissenschaftlichen Prozess verwandelt. Er ist aber nicht nur Verwertungsprozess, sondern auch ein Prozess der Produktion von Gebrauchswerten. Und diese Gebrauchswerte befriedigen sowohl die Bedürfnisse der kapitalistischen Warenproduktion als auch die der Reproduktion der Arbeitskraft. Natürlich erscheint die Wissenschaft „der Arbeit gegenüber (…) als Eigenschaft des Kapitals“ (Marx, Grundrisse, S. 586), als dessen „Macht über die lebendige Arbeit“ (S. 587), und daraus erwächst der proletarische Kampf gegen Maschinen und Wissenschaft als Formen der Kapitalmacht und Entfremdung. Gleichzeitig ist sie aber auch eine gesellschaftliche Produktivkraft, die menschliche Bedürfnisse befriedigt, im Falle der Medizin und Pharmazie das elementarste Bedürfnis des Menschen, gesund zu sein.

 

Während manche ihre Antworten auf die vom Virus verursachten Probleme in religiöser Metaphysik suchen, berufen sich die meisten rechten und linken Leugner:innen gerade auf Wissenschaftler:innen, um dem wissenschaftlichen Nachweis der Gefährlichkeit der Pandemie (und der Wirksamkeit der Impfstoffe) etwas entgegenzuhalten. Soweit sich dieser Ansatz von den (zahlreichen) pseudowissenschaftlichen Diskursen (die Impfstoffe enthalten Mikrochips, Geimpfte werden zu Magneten, mRNA-Impfstoffe verändern die menschliche DNA usw.) unterscheiden lässt, hebt er sich nicht nur inhaltlich von geschlossenen religiösen Vorstellungen ab (Jesus wird uns retten, der Leib Christi beim Abendmahl kann nicht ansteckend sein), sondern versucht auch, der eigenen Kritik einen radikalen Anstrich zu geben: Die Corona-Leugnung könne sich auf wissenschaftliche Befunde stützen, doch die „kritischen“ Wissenschaftler:innen, auf die sie sich beruft, würden verleumdet und mundtot gemacht, eben weil sie sich nicht den vorherrschenden, offiziellen Auffassungen anschließen.

 

Interessant an diesem alternativen, vermeintlich widerständigen Ansatz ist, wie er gleichzeitig politisiert und entpolitisiert. Einerseits beklagt er, dass der offizielle wissenschaftliche Diskurs (WHO, CDC etc.) zutiefst politisch sei und einem allgemeinen Trend zu Apartheid, Spaltung und Schaffung von Bürger:innen zweiter Klasse diene; andererseits herrscht völlige Gleichgültigkeit gegenüber den politischen Positionen der Wissenschaftler:innen, auf die er sich beruft.

 

Das Ergebnis ist schwer zu ertragen. Genoss:innen, die viel zur antagonistischen Bewegung beigetragen haben, lassen sich von Wissenschaftler:innen mit neoliberalen, marktapologetischen oder sogar rechtsradikalen Positionen beeindrucken und käuen deren Ansichten wieder. Und natürlich besteht auch kein Mangel an Scharlatanen und Bauernfänger:innen, die Zweifel nur säen, um aus der ganzen Angst und Unsicherheit Profit zu schlagen. In jedem Fall findet hier keine systematische Kritik wissenschaftlicher Rationalität statt; vielmehr wird alles begierig aufgegriffen, was einem vorgefassten Argwohn entgegenkommt und von der schweren psychologischen Bürde befreit, die alptraumhafte Realität des Virus anzuerkennen.

 

Solche Auffassungen zu kritisieren bedeutet umgekehrt nicht, Expert:innen blind zu vertrauen oder die Begrenztheit wissenschaftlicher Zwecke auszublenden. Dass Wissenschaft in der Vergangenheit als Alternative zu diskreditierten metaphysischen Denksystemen wie der Religion auftreten konnte, heißt nicht, dass sie uns eine stimmige und umfassende Erklärung der Welt und unserer Stellung in ihr anzubieten hätte. Sie versucht heute gar nicht mehr, Vorschläge dafür zu unterbreiten, wie man das Leben insgesamt anders organisieren könnte.

 

Radikale Kritik feiert also nicht blindlings die Autorität von Expert:innen oder der Wissenschaft im Allgemeinen – schon gar nicht, wenn es um gesellschaftliche Fragen geht. Im Gegensatz zu den Corona-Leugner:innen fällt sie aber auch nicht darauf zurück, die Ansichten jedes beliebigen Laien aufzugreifen und weiterzuverbreiten. Als Iwan Iljitsch kritisierte, dass neue medizinische Behandlungstechniken ältere auch dann verdrängen, wenn diese eindeutig wirksamer sind, meinte er (anders als viele Corona-Leugner:innen heute) nicht, man solle moderne Krankheiten (wie Covid-19) doch mit alten (und medizinisch als unwirksam erwiesenen) Hausmitteln oder gar Quacksalberei kurieren. Das Aufbegehren gegen die technologische Seite der Herrschaft könnte durchaus neue Formen von Gemeinschaft hervorbringen, aber es kann auch zu Nihilismus und einer diffusen, völlig ausgehöhlten Subjektivität führen. Irrationalismus war noch nie ein gutes Gegengewicht zur Einseitigkeit instrumenteller Vernunft.

 

Vernünftige Kritik an Expert:innen kann nicht auf dem Wahn beruhen, jede:r von uns wäre gleichermaßen in der Lage, gute Urteile über Epidemiologie, Immunologie oder übertragbare Krankheiten zu fällen. Unser Ausgangspunkt ist vielmehr die Feststellung, dass jede wissenschaftliche Position einen bestimmten historischen Rahmen hat und Ausdruck der gesellschaftlichen Verhältnisse ist. Die zentrale Aufgabe besteht für uns daher darin, den historischen und strukturellen Rahmen richtig zu bestimmen, statt medizinische Fakten auf Basis eines Facebookposts infrage zu stellen. Streng methodologisch betrachtet drückt die medizinische Forschung – ihre Ausrichtung, die getätigten Investitionen und die Auswahl publizierter Ergebnisse – Dynamiken und Beziehungen aus, die durch die herrschende kapitalistische Produktionsweise bestimmt sind. Das bedeutet jedoch im Umkehrschluss nicht, dass wissenschaftliches Wissen, die Forschung und ihre Resultate per definitionem falsch, irreführend oder auf irgendwelche undurchsichtigen Interessen zugeschnitten wären. Das wichtigste Werkzeug radikaler Kritik ist die Offenlegung der sozialen Rahmenbedingungen, unter denen wissenschaftliche Diskussion und Arbeit stattfinden, und der Versuch, die weiterreichenden Konsequenzen zu erklären. Will man hingegen jeden wissenschaftlichen Fortschritt allein aufgrund seiner Einbettung in eine bestimmte gesellschaftliche Wirklichkeit leugnen, wird man nicht nur auf unüberwindbare Hürden stoßen, sondern arbeitet auch reaktionären Positionen zu.39 Wie wir gezeigt haben, ergibt sich unsere Position zu den Maßnahmen und zum Impfen nicht daraus, dass wir plötzlich zu Epidemiologie-Expert:innen geworden wären – was umgekehrt nicht bedeutet, dass wir die Forschung nicht verstünden. Unsere Position stützt sich vielmehr im Wesentlichen auf die Analyse der historischen Rolle des Staates und seiner Mechanismen und geht dabei von einem vielschichtigen Verständnis der Wissenschaft innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft und einer kommunistischen Haltung zur Frage kollektiver Existenz aus.

 

Eine Kritik der wissenschaftlichen und medizinischen Realität könnte sich z.B. darüber empören, dass Bevölkerungsgruppen, die dem Kapital als überflüssig gelten, aufgrund mangelnder Profitabilität keinen Zugang zu verfügbaren Behandlungsmethoden und Medikamenten erhalten. Ebenso könnte man kritisieren, dass man genau wegen der kurzfristigen Ausrichtung des Profitinteresses nicht ernsthaft und systematisch auf das Impfen und die medizinische Behandlung im Fall einer Pandemie vorbereitet war.40 Erst als sich die Bekämpfung der globalen Pandemie als unmittelbar notwendig erwies, wurden beinahe unbegrenzt öffentliche Gelder in die Erforschung eines Impfstoffs investiert, was zur Folge hatte, dass jetzt fast zehn verschiedene sehr wirksame Vakzine im Umlauf sind.41 Doch statt die vormals fragwürdige Ausrichtung der Forschung und den mangelhaften Zugang großer Teile der Welt zu wissenschaftlichem Wissen und Therapien zu kritisieren, konzentrieren sich Corona-Leugner:innen auf Grundlage abstrakter Ängste und einem Zerrbild wissenschaftlicher Entwicklung lieber auf das Recht zur Impfverweigerung.42

 

Widerstand gegen die Impfpflicht – eine Nebelkerze

 

Angesichts der staatlichen Aufgabe, für die erweiterte und günstige Reproduktion gesunder, produktiver Arbeitskraft zu sorgen, zielen die kürzlich getroffenen Impfmaßnahmen vor allem darauf ab, eine weitere Welle von Toten und den Zusammenbruch der Krankenversorgung – wie im letzten Winter geschehen – ebenso zu verhindern wie einen neuen Lockdown. Unter marktwirtschaftlichen Bedingungen ist Impfen als effektive Prävention gegen das Virus die kostengünstigste Lösung und entspricht somit dem Vorhaben der Regierung, das Gesundheitswesen weiter abzubauen und zu privatisieren. Wie Ministerpräsident Mitsotakis bereits erklärt hat, besteht keinerlei Absicht, mehr Personal einzustellen und die Ausgaben für das öffentliche Gesundheitssystem zu erhöhen. Im Gegenteil: Die Regierung will noch mehr regionale Krankenhäuser schließen und Privatisierungen vorantreiben, indem sie Unternehmen die Beteiligung an Krankenhäusern erlaubt; ein Teil der bisherigen Staatsausgaben kann so der Profitabilität des Kapitals zugutekommen.43 Darüber hinaus sind die Impfungen nicht nur für den Staat, sondern auch für das Kapital eine günstige Lösung: Insoweit sie eine wichtige Präventivwaffe im Kampf gegen die Pandemie darstellen, bieten sie zugleich ein Alibi für den Abbau von Schutzmaßnahmen am Arbeitsplatz, die als Hemmnis für Produktion, Distribution und Profitabilität wirken.

 

Die Zahl der Todesfälle niedrig zu halten und einen Kollaps des Gesundheitssystems abzuwenden, dient außerdem direkt der Legitimierung – nicht nur, weil eine andere Entwicklung enorme politische Kosten für die Regierung hätte und das bereits brüchige Staatsvertrauen weiter untergraben würde, sondern auch, weil sich der Staat so gegenüber seinen diskreditierten, irrationalen Feind:innen als Vertreter von Rationalität darstellen kann. Aus dieser Perspektive muss auch die Kampagne gegen Ungeimpfte gesehen werden: Wohlwissend, dass die Impf-„Kampagne“ und die großartigen Pläne einer Rückkehr zur Normalität gescheitert sind, ist sie eine Vorkehrung für den Notfall – falls die Infektionszahlen und damit der Druck auf das Gesundheitssystem zunehmen sollten, hat er seine Verantwortung bereits auf die Ungeimpften abgewälzt.

 

Wie kläglich die Regierungspolitik in puncto Impfpflicht für das Gesundheitspersonal ist, zeigt sich auch daran, dass ein praktisch nicht-existentes Problem gewaltig aufgeblasen wird – die meisten Ärzt:innen und Pflegekräfte waren bereits geimpft, bevor das entsprechende Gesetz angekündigt wurde. Vor allem aber wurden so die Impfgegner:innen zu einer Bewegung zusammengeschweißt und Widerstände gegen das Impfen erzeugt, was angesichts der niedrigen Impfquote in Griechenland tragische Konsequenzen hat. Dieser offensichtliche Widerspruch schreckt die Regierung aber nicht ab; sie versucht sich eine Win-win-Situation zu schaffen: Führt der gesetzliche Zwang zu mehr Impfungen, wäre sie ihrem Ziel näher gekommen, einen flächendeckenden Lockdown zu vermeiden und die Wirtschaft wieder anzukurbeln; stärkt er dagegen die Impfgegner:innen, kann sie diese für steigende Infektionszahlen verantwortlich machen, sich selbst der Verantwortung entziehen und ihre Pläne zur Deregulierung und Privatisierung vorantreiben. Mit diesem ideologischen Spektakel folgt die Demokratie einmal mehr treu dem Urteil Guy Debords: Sie will, „dass man sie nach ihren Feinden und weniger nach ihren Ergebnissen beurteilt“ – nach „Feinden“, die in diesem Fall die „Impfgegner:innen“ sind.

 

Für die Formulierung einer radikalen Kritik genügen diese Einsichten allerdings nicht. Einfach ausgedrückt: Dass eine bestimmte Maßnahme gegen die Corona-Pandemie kostengünstiger ist, Profit erzeugt und die Legitimation des Staats stärkt, reicht noch nicht per se hin, sie abzulehnen. Im Gegensatz zu einigen selbsternannten Revolutionär:innen haben wir nichts dagegen einzuwenden, dass Staat und Kapital uns lieber lebendig sehen.

 

Was im Lauf der Zeit immer deutlicher hervortritt, ist der hausgemachte Charakter der Bewegung der Impfgegner:innen. Nicht in dem Sinne, dass der Staat sie erschaffen hätte und heimlich fördern würde (auch wenn in Griechenland die Kirche als ein Teil des Staates sowie einige rechtsradikale Organisationen an den Rändern von Nea Dimokratia wesentlich zu ihrer Entstehung beigetragen haben), sondern insofern er sie de facto gestärkt hat: Durch seine autoritären Politik, durch die nicht nachzuvollziehenden, ja vollkommen absurden und halbherzigen Maßnahmen seit Beginn der Pandemie und dadurch, dass er ihr Erstarken ausgeschlachtet hat, um sich selbst als verantwortungsbewussten und rationalen Vertreter des „Allgemeininteresses“ gegenüber einem irrationalen Individualismus zu präsentieren.

 

Wie bereits erwähnt, kannte die europäische Gesetzgebung schon lange vor der Pandemie eine Impflicht im Gesundheitswesen gegen diverse ansteckende Krankheiten, um Beschäftigte wie Patient:innen zu schützen. In vielen Ländern sind auch Impfungen von Kindern verpflichtend, sobald sie in den Kindergarten oder die Schule gehen. Diese Vorschriften, die zur Suspendierung von Pflegekräften führen können, wenn sie zum Beispiel aktive Tuberkulose entwickeln, zielen vom Standpunkt des Kapitals aus betrachtet auf die Erhaltung gesunder Arbeitskräfte, damit möglichst wenig Arbeitstage verloren gehen – also auf die Produktion von Wert und Profit. Es wäre aber absurd, nicht anzuerkennen, dass dies zugleich einem grundlegenden Bedürfnis der Klasse entgegenkommt. War die explizite Anforderung an Pflegekräfte, keine ansteckende Krankheit zu haben, bereits in der Vergangenheit eine Art „Diktatur“, oder wurde sie das erst mit dem Corona-Virus? Angesichts einer Pandemie, die den Statistiken zufolge bis dato 5,3 Millionen Menschenleben gefordert hat (die meisten davon in Ländern mit ausgebauten Gesundheitssystemen) und in Griechenland im Durchschnitt achtzig Menschen am Tag dahinrafft, sind Impfungen umso wichtiger für unsere Gesundheit, auch wenn sie gewiss kein Allheilmittel darstellen. Es wird immer offensichtlicher, dass ständig wiederkehrende Infektionswellen am besten durch eine Erhöhung des Bevölkerungsanteils zu vermeiden sind, der über genügend Antikörper verfügt, um die Gefährlichkeit des Virus abzuschwächen. Impfungen sind dafür wesentlich.

 

In diesem Zusammenhang ist es vom proletarischen Klassenstandpunkt aus gesehen unsinnig, Freiheit und Zwang in abstrakter Weise gegenüberzustellen. Verdeutlichen lässt sich das am Arbeitsrecht, also der verdinglichten und entfremdeten Form, die die Resultate des Klassenkampfs im kapitalistischen Recht annehmen. In Griechenland zum Beispiel beinhaltet es bis heute einige Verbote und Pflichten, die den Arbeiter:innen zugutekommen: Es verbietet den Unternehmen Entlassungen aufgrund gewerkschaftlicher Tätigkeit sowie Aussperrungen bei Streiks, beschränkt aber auch die „individuelle Freiheit“ von Arbeiter:innen, sofern es ihnen den Abschluss von Arbeitsverträgen untersagt, die die Arbeitsgesetze oder Tarifverträge unterlaufen. Tatsächlich war der Ruf nach „individueller Entscheidungsfreiheit“ eine wichtige ideologische Waffe bei der Deregulierung des Arbeitsrechts, wie in der Debatte um die von der Regierung beschlossene Anhebung der maximalen Tagesarbeitszeit auf zehn Stunden deutlich wurde. Zwang steht nicht notwendigerweise gegen die Interessen der Klasse, genauso wie umgekehrt das Recht auf individuelle Entscheidung diesen Interessen nicht notwendigerweise entspricht.

 

Grundsätzlich betrachtet dient der Zwang des Rechts der Reproduktion der bestehenden Gesellschaftsordnung. Die Abschaffung dieses Zwangs und die kommunistische Überwindung des Rechts bestehen aber nicht im „Recht auf individuelle Entscheidungsfreiheit“, sondern darin, durch Zuspitzung der Klassenkämpfe die gesellschaftliche Trennung aufzuheben und anstelle der illusorischen Vereinigung getrennter Individuen eine wirkliche Gemeinschaft herzustellen. So gesehen ist der Gegensatz von Zwang und individueller Freiheit falsch. Der Ausschluss der Ungeimpften ist nicht bloß ein Ergebnis staatlicher Maßnahmen, sondern drückt auch aus, dass das Gemeinwesen einer kapitalistischen Gesellschaft gerade in der Trennung der Individuen besteht. Der Staat erzeugt Einheit durch Zwang und Ausschluss. Indem die Impfgegner:innen ihre Weigerung auf der bornierten Ebene der „persönlichen Verantwortung“ ansiedeln, laden sie den Staat geradezu ein, als einziger Verfechter des gesamtgesellschaftlichen Interesses aufzutreten, und verstärken gerade dadurch noch die Ausschlüsse, da der Staat nur auf Basis verallgemeinerten Ausschlusses überhaupt Einheit herstellen kann. Ausschluss und Zwang lassen sich nicht aufheben, indem man sich auf das beruft, was sie begründen, nämlich auf die „persönliche Entscheidung“ getrennter Individuen, ob es nun um Impfungen, Tests oder Maskentragen geht.44 Dies erfordert vielmehr die Schaffung einer Gemeinschaft, die auf wirklicher Solidarität beruht und folglich auch alle notwendigen Maßnahmen ergreift, um die Pandemie einzudämmen.

 

Es geht also weder um die Impfpflicht per se noch um die griffige Parole vom „Widerstand gegen den autoritären Staat“. Es geht um die Frage, inwieweit man die Gefährlichkeit des Virus und die Wirksamkeit von Schutzmaßnahmen zur Kenntnis nimmt oder bestreitet. Proteste, die rechtlich verpflichtende Schutzmaßnahmen gegen übertragbare Krankheiten als Stigmatisierung und „Impf-Apartheid“ anprangern, hat es in der Vergangenheit nie gegeben. Das „Recht auf Entscheidungsfreiheit“ stellt sich in der gegenwärtigen Lage als Recht dar, keine Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie zu ergreifen, und nimmt daher leicht einen reaktionären und individualistischen Gehalt an – sei aus Ignoranz oder, schlimmer noch, aus Gleichgültigkeit und Sozialdarwinismus.

 

Vom Standpunkt der Klasse und der gesellschaftlichen Solidarität aus betrachtet ist Impfen ein selbstverständlicher Akt, um seine Mitmenschen zu schützen. Dass der Staat auf Impfungen setzt und das Thema manipulativ ausschlachtet, ändert daran nichts. Deshalb ist auch der konstruierte Gegensatz von Staat und Impfgegner:innen falsch. Weder stehen die Impfgegner:innen gegen das staatliche Management einer realen Gesundheitskrise, denn in Wirklichkeit verstärken sie diese sogar, noch sind sie in der Lage, die Impfpolitik des Staates in ihren tatsächlichen Dimensionen zu analysieren.

 

Gegen das staatliche Pandemie-Management, das im Widerspruch zu proletarischen Interessen und Bedürfnissen steht, müssen wir einen gemeinsamen Kampf für die Befriedigung dieser Bedürfnisse führen, was eben auch umfangreiche Impfungen einschließt. Statt die Selbsttäuschung der Corona-Leugner:innen zu verteidigen, die ihre Gleichgültigkeit gegenüber der Pandemie hinter der Mobilisierung gegen den autoritären Staat verstecken, müssen wir allgemeinen Zugang zu allen präventiven und therapeutischen Mitteln fordern. Wie es eine Gruppe streikender Ärzte im Mai 1968 formulierte: Eine „wirkliche Infragestellung der Krankheit würde eine beträchtliche Erweiterung des Begriffs der Vorbeugung voraussetzen und sehr schnell politisch und revolutionär werden: denn sie wäre die Infragestellung einer hemmenden und unterdrückenden Gesellschaft.“45

 

Die der kapitalistischen Gesellschaft innewohnenden Trennungen und Widersprüche spiegeln sich immer in ihrer politischen Form, d.h. im Staat. Greift er im Umgang mit diesen Widersprüchen zu repressiven Mitteln, dann treten anti-staatliche Einstellungen (die dieser Gesellschaft ebenfalls notwendig innewohnen) an die Oberfläche und verdichten sich zu unterschiedlichsten Formen von Opposition. Fetischisiert man diese Opposition und sieht über den tiefergehenden Inhalt der jeweiligen Strömungen hinweg, dann verliert Kritik die Fähigkeit, eine historische Wahrheit zu erkennen: Widerstand gegen eine tatsächlich gegebene Situation kann ohne weiteres auch reaktionär sein, womit wir nicht nur organisierte Faschisten meinen (auch wenn die meist nicht weit weg sind).

 

Der notwendige Widerstand gegen den Staat und seinen Umgang mit der Pandemie verliert jedes emanzipatorische Potenzial, wenn er sich gegenüber einer realen Bedrohung gleichgültig verhält und der Illusion hingibt, für bestimmte Individuen (üblicherweise junge, gesunde Menschen) bestünde keinerlei Gefahr. Die Ablehnung effektiver Schutzmaßnahmen gegen ein Virus, das durch die Luft übertragen wird, im Namen einer Freiheit, die besonders gefährdete (d.h. proletarische) Bevölkerungsteile von vornherein ausschließt, kann keine Grundlage für eine radikale Infragestellung der bestehenden Gesellschaft sein. Die durch Repression und Austerität bewirkte Auflösung kollektiven Lebens und Widerstands hat den Nährboden für die Bewegung der Corona-Leugner:innen bereitet. Sie lässt sich nicht dadurch rückgängig machen, dass man sich im Angesicht kollektiver Bedrohung auf eine vollkommen ausgehöhlte individuelle Autonomie beruft.

 

 

  • 1. Der gesamte Norden Evias, ein großer Teil des Forstes nördlich von Athen und viele andere Wälder und Siedlungen wurden im Sommer 2021 von Bränden heimgesucht. Sie vernichteten mehr als 1,2 Millionen Hektar Wald, was auf die chronische Vernachlässigung der Forstpflege und das Fehlen grundlegender Präventions- und Schutzmaßnahmen zurückzuführen ist. Während der Brände, die in Athen und vielen anderen Gebieten tagelang eine erstickende Atmosphäre schufen, reagierte der Staat so gut wie gar nicht. Er beschränkte sich auf die öffentlichkeitswirksame Maßnahme, alle betroffenen Gebiete zu evakuieren und Polizeikräfte dorthin zu schicken, wo eigentlich Feuerwehrleute gebraucht wurden. Dieses Vorgehen hatte, weil die Beteiligung der örtlichen Bevölkerung an der Brandbekämpfung unersetzlich ist, katastrophale Folgen.

     

    Nach den Bränden verabschiedete die Regierung ein Gesetz, das nicht etwa den Kahlschlag an der Forstbehörde wieder rückgängig machen sollte, sondern die Institution des „Aufforstungssponsors“ einführte, der die volle Kontrolle über die Projekte zur Wiederaufforstung übernimmt. Abgesehen davon, dass die künstliche Wiederaufforstung verbrannter Flächen nur dann erfolgen sollte, wenn die natürliche fehlschlägt, scheint diese großen Konzernen zu dienen, die Projekte verfolgen, bei denen die Rodung und Zerstörung von Waldflächen unabdinglich ist (Goldbergbau, Energieerzeugung usw.). Diese Konzerne sind gesetzlich verpflichtet, auf eigene Kosten eine gleich große Fläche wieder aufzuforsten, um das „ökologische Gleichgewicht“ wiederherzustellen. Wenn sie nun die Rolle des Aufforstungssponsors übernehmen, können sie die Umweltauflagen im Voraus erfüllen und sind dann befugt, große Flächen ohne weitere Verpflichtungen zu vernichten, da das Gesetz keine Bestimmung enthält, die eine derartige Kompensation ausschließt. Es ist bezeichnend, dass Unternehmen wie „Hellenic Petroleum“, „Independent Power Transmission Operator“, „Public Power Corporation“ und „Coca Cola 3E“ zu den ersten gehörten, denen diese Rolle übertragen wurde.

  • 2. Aus sämtlichen aktuellen Berichten geht unmissverständlich hervor, dass die neue Strategie zur „Bewältigung“ von Migrationswellen in erster Linie auf illegalen Pushbacks beruht, die regelmäßig zur Ermordung von Migrant:innen führen.
  • 3. Zusammenfassend dazu: Pavlos Roufos, „Governing the Ungovernable“, in: Brooklyn Rail, April 2021, https://brooklynrail.org/2021/04/field-notes/Governing-the-Ungovernable.
  • 4. Wir sind uns natürlich bewusst, dass der Begriff Public Health keinen historischen Bezug zu in einer Gesellschaft aufweist, die nicht unter der der Kontrolle eines kapitalistischen Staates steht. Es als Ausdruck von Widerstand gegen den Staat abzulehnen, ist jedoch ebenso albern (und libertär), als würde man aufgrund einer Kritik am Geld Löhne zurückweisen. Wir wollen mit dem Begriff hier nicht die staatliche Verwaltung der Gesundheitsversorgung bezeichnen, sondern verdeutlichen, dass Gesundheit eine gesellschaftliche, kollektive Dimension hat.
  • 5. Dass der Staat diese Maßnahmen auf autoritäre und irrationale Weise durchgesetzt hat, ist Ausdruck seiner Unfähigkeit, die Widersprüchlichkeit der Ziele, die gleichzeitig erreicht werden müssen, aufzulösen, und spiegelt die ideellen Fetischisierungen der Herrschenden wider. Dennoch ist es geradezu absurd, dass manche Menschen noch immer nicht begreifen, dass die Minimierung sozialer Kontakte eine vernünftige Maßnahme gegen eine übertragbare Krankheit ist – in einem modernen kapitalistischen Staat ebenso wie im Feudalismus oder auch Kommunismus – und nicht Ausdruck eines schleichenden Totalitarismus.
  • 6. Hier geht es darum, dass die Überwachung der Infektionsraten, der Wirksamkeit von Impfstoffen und der Durchführung von Tests nicht mehr einem halbwegs zentralisierten System unterliegt, sondern unter Androhung von Bußgeldern dem Ermessen von Privatunternehmen überantwortet wird.
  • 7. Während im Juni noch 93 000 Dosen am Tag verabreicht wurden, waren es im Juli 69 000 und im August nur noch 28 000. Anfang Oktober war ihre Zahl auf etwa 5 600 geschrumpft (Penny Bouloutza, „Vaccinations in free fall“, in: Kathimerini, 14. Oktober 2021, https://www.kathimerini.gr/society/561538141/emvoliasmoi-se-eleytheri-ptosi/). Seit November ist ein direkter Vergleich so gut wie nutzlos, da inzwischen die Auffrischungsimpfungen begonnen haben.
  • 8. Wer im Sommer in Griechenland unterwegs war, konnte sich selbst davon überzeugen, dass es keine ernstzunehmenden Kontrollen der Impf-, Test- und Genesungsnachweise gab, sondern nur Scheinkontrollen. Die daraus resultierende explosionsartige Zunahme der Infektionen in den Urlaubsgebieten kam daher wenig überraschend. Und wie so oft rief eine absurde Situation lächerliche Reaktionen hervor: Auf einigen Inseln bestanden die restriktiven Maßnahmen gegen den Anstieg der Infektionen beispielsweise darin, Musik in (ansonsten geöffneten) Bars und Clubs zu verbieten. Es war üblich, dass Saisonarbeiter:innen weiterarbeiteten, obwohl sie infiziert waren, da die Chefs keine Gewinneinbußen hinnehmen wollten. Tourist:innen, die auf den Inseln positiv getestet wurden, reisten überstürzt wieder ab, weil es keine Infrastruktur oder Vorkehrungen für ihre Unterbringung während der (vermeintlich) obligatorischen zehntägigen Quarantäne gab.
  • 9. Dieser Text wurde Ende September 2021 veröffentlicht. Damals lag die Infektionsrate bei etwa 1 500 neuen Fällen pro Tag. Zum jetzigen Zeitpunkt (Anfang Dezember 2021) liegt die Infektionsrate bei mehr als 7 000 pro Tag, die Zahl der Krankenhausaufenthalte ist massiv gestiegen, die Intensivstationen sind voll belegt und die durchschnittliche Zahl der Todesfälle liegt bei etwa 90 pro Tag.
  • 10. Matthieu Amiech, Ceci n’est pas une crise sanitaire. Pourquoi s’opposer à l’installation du pass sanitaire et à l’obligation vaccinale, éditions La Lenteur, Saint-Michel-de-Vax 2021, S. 27.
  • 11. Auf der medizinischen Seite ging es einerseits um den irrwitzigen Versuch, den Bedarf des Gesundheitswesens zu decken, ohne substanzielle und langfristige Strukturinvestitionen zu tätigen, und andererseits um umfangreiche öffentliche Subventionen für die Impfstoffforschung.
  • 12. In einem Akt menschenverachtender Gleichgültigkeit oder beängstigender Dummheit versuchte der griechische Ministerpräsident Mitsotakis vor dem Parlament Bedenken hinsichtlich überfüllter öffentlicher Verkehrsmittel als Covid-Cluster zu entkräften, und berief sich dabei auf eine in Frankreich durchgeführte Untersuchung, wonach „nur 1,2 Prozent der Cluster mit öffentlichen Verkehrsmitteln zusammenhängen“. Hätten der Premierminister oder seine Berater mehr als den Titel der Studie gelesen, wäre ihnen wahrscheinlich aufgefallen, dass sie sich auf „Flughäfen, Schiffe und Züge“ bezieht und nicht auf öffentliche Busse, Straßenbahnen oder die U-Bahn. Die Studie wurde am 1. Oktober 2020 in der Zeitschrift Point Epidemiologique Hebdomadaire veröffentlicht, https://www.santepubliquefrance.fr/content/download/285453/2749950.
  • 13. Wie René Riesel und Jaime Semprun 2008 in einem Text über die ökologische Krise und den Umgang mit ihr feststellten: „Es gibt eigentümliche ‚Revolutionäre‘, die behaupten, die [ökologische] Krise, zu der wir mit einer Informationsflut überzogen werden, sei letztlich nur ein Spektakel, ein Trick, mit dem die Herrschaft den Ausnahmezustand, ihre eigene autoritäre Konsolidierung rechtfertigen wolle. [...] Der Trugschluss geht folgendermaßen: Da die Informationen der Medien offenkundig eine Form von Propaganda für die bestehende Gesellschaft sind und diese Informationen heute verschiedenen beängstigenden Aspekten der ‚[ökologischen] Krise‘ viel Raum geben, kann diese Krise nichts weiter als eine Fiktion sein, erfunden zu dem Zweck, die neuen Losungen der Unterwerfung zu unterbreiten. Andere Leugner wendeten dieselbe Logik auf die Vernichtung der europäischen Juden an: Da die demokratische Ideologie des Kapitalismus offenkundig ein Deckmantel der Klassenherrschaft ist und diese Ideologie in den Nachkriegsjahren die Gräueltaten der Nazis propagandistisch ausschlachtete, können die Vernichtungslager und die Gaskammern nur Erfindungen und Betrug sein.“ (Jaime Semprun/René Riesel, Catastrophism, disaster management and sustainable submission [2008], Roofdruk Edities, Amsterdam 2014, S. 16)
  • 14. Dieses Missverständnis beruht auf der Entstellung eines wahren Kern. Da das Immunsystem bei der Abwehr von Viren und ihren Folgen eine Rolle spielt, sind Menschen mit einem geschwächten Immunsystem (wie etwa ältere Menschen) per definitionem anfälliger. Aber Anfälligkeit ist keine Kategorie, die sich speziell oder ausschließlich auf ältere Menschen bezieht. Wie Dauvé schreibt: „Wie jede schwere Krankheit tötet Covid-19 mit höherer Wahrscheinlichkeit Menschen, die durch Alter, eine andere Krankheit oder ungesunde Lebensumstände geschwächt sind: schlechte Ernährung, Luftverschmutzung (die Schätzungen zufolge weltweit sieben bis neun Millionen Menschen im Jahr umbringt), chemische Verschmutzung, Bewegungsmangel, Isolation, altersbedingtes Ausscheiden aus dem Arbeitsleben und damit aus der Gesellschaft […] Verschiedene nicht messbare Faktoren erzeugen zusammen eine nicht quantifizierbare klassenbedingte Übersterblichkeit: Arbeitslosigkeit, ungesunde Wohnverhältnisse, Junk Food (Übergewicht ist unter Armen verbreiteter).“ Diese stärkere Gefährdung gehört zur proletarischen Lebenslage. Außerdem führt Covid nicht nur zu Todesfällen, sondern wirkt sich auch auf eine Vielzahl von Körperorganen und -funktionen aus, und neuere Forschungen über Long Covid (insbesondere in jüngeren Altersgruppen) geben Anlass zur Sorge (siehe z. B. das Interview mit Akilo Iwasaki, „What's causing long COVID?“, in: The Naked Scientists, 16. August 2021, https://www.thenakedscientists.com/articles/interviews/whats-causing-long-covid).
  • 15. John P.A. Ioannidis, „A fiasco in the making? As the coronavirus pandemic takes hold, we are making decisions without reliable data“, in: STATNews.com, 17. März 2020, https://www.statnews.com/2020/03/17/a-fiasco-in-the-making-as-the-coronavirus-pandemic-takes-hold-we-are-making-decisions-without-reliable-data/.
  • 16. Als 2009 ein Ausbruch der Schweinegrippe in Mexiko die Frage nach der Umsetzung genau dieser Richtlinien aufwarf, entschied sich die neu gewählte Obama-Regierung, die zu diesem Zeitpunkt mit der globalen Finanzkrise beschäftigt war, gegen eine Umsetzung. Dass der Ausbruch sich nicht zu einer Pandemie ausweitete, bestätigte diese Entscheidung im Nachhinein ebenso wie die Vorstellung (die Ioannidis' Position zugrunde liegt), dass die Umgehung der Richtlinien generell die klügere Wahl ist. Als Sars-Cov-2 in den westlichen Ländern offiziell als Pandemie eingestuft wurde, war es bereits zu spät.
  • 17. Eine kritische Haltung gegenüber offiziellen Daten mag vernünftig erscheinen, ist aber nicht dasselbe wie eine kritische Haltung gegenüber der Welt, die sie produziert. Ohne ein klares Verständnis der möglichen Gründe, warum Daten irreführend sein können, wird nur allzu leicht weiterer Konfusion und Verschwörungsdenken Vorschub geleistet. So ist es beispielsweise offensichtlich, dass die selektive Verwendung von Daten durch die Leugner:innen die Zahl der Krankheits- oder Todesfälle herunterspielen soll, weil ihr Ziel eben darin besteht, das Bild von einem gefährlichen Virus in Zweifel zu ziehen. Dabei wird die Möglichkeit ausgeklammert, dass auch das Gegenteil der Fall sein könnte, die offiziellen Angaben der Behörden also selbst die tatsächliche Zahl der Krankheits- und Todesfälle zu niedrig ansetzen, und zwar nicht in verschwörerischer Absicht, sondern weil schlichtweg nicht genügend Tests durchgeführt wurden und die Erfassung von Todesfällen infolge von Covid außerhalb von Krankenhäusern schwierig ist.
  • 18. Obwohl Ioannidis systematisch zahlreiche Fehler, Fehlinterpretationen oder sogar Falschdarstellungen von Daten nachgewiesen werden konnten und er von seinen Kolleg:innen heftig kritisiert wurde, hat er bislang keinen einzigen Fehler zugegeben. Er versteckt sich hinter einer formalen, oft doppeldeutigen akademischen Sprache und tut jede Kritik als ein Missverständnis seiner Aussagen ab. Das hinderte ihn freilich nicht daran, sich im April 2020 mit einer Gruppe von Berater:innen an die US-Regierung zu wenden, um Trump davon zu überzeugen, keine Lockdown-Maßnahmen zu ergreifen – ein Ratschlag, den der US-Präsident befolgte (mit den erwartbaren tragischen Konsequenzen). Auch andere Staatschefs wie Bolsonaro und Johnson ließen sich von ihm beeinflussen. In jüngster Zeit wendet sich Ioannidis gegen die Impfung junger Menschen. Er begründet dies mit dem Argument, Geimpfte seien weniger vorsichtig und würden daher das Virus häufiger übertragen (vgl. John P.A. Ioannidis, „COVID-19 Vaccination in Children and University Students“, in: European Journal of Clinical Investigation, Jg. 51, Heft 11). Seltsamerweise scheint ihn die Tatsache, dass Ungeimpfte das Virus in noch größerem Maße übertragen, nicht zu interessieren. Bereits 2007 wurde auf die Fragwürdigkeit vieler von Ioannidis' Erkenntnissen und die Art und Weise, wie sie von verschiedenen HIV/AIDS- und Klimaleugner:innen genutzt werden, hingewiesen. Vgl. „The cranks pile on John Ioannidis' work on the reliability of science“, in: Respectful Insolence, 24. September 2007, https://respectfulinsolence.com/2007/09/24/the-cranks-pile-on-john-ioannidis-work-o/.
  • 19. Die Great Barrington Declaration (GBD) ist eine von „Tausenden von Wissenschaftlern“ unterzeichnete Anti-Lockdown-Petition, die die Idee der „Herdenimmunität“ sowie die Vorstellung propagiert, wonach der Fokus auf „Maßnahmen zum Schutz der Schwachen“ der einzig vertretbare Ansatz wäre. Die menschlichen Kosten dieser Laissez-faire-Strategie in Bezug auf Todesfälle, Krankenhausaufenthalte und langwierige Krankheiten sind offenkundig nicht Teil ihrer „wissenschaftlichen“ Bedenken. Mit Berufung auf die „Autorität der Wissenschaftler:innen“ und mit PR-Floskeln von einer „skeptischen“ und „größer gewordenen Minderheit“ wird der Zuspruch zu den abweichenden Auffassungen der Petition stark übertrieben. Entsprechen steht im Zentrum der Petition auch die angebliche „Verfolgung“ der Unterzeichner:innen durch den Mainstream statt deren (pseudo-)wissenschaftliche Kompetenz. Darin folgt die GBD der Argumentationslinie ähnlicher Petitionen gegen die Evolutionstheorie, zur HIV/AIDS-Leugnung, zu 9/11-Verschwörungstheorien und schließlich zur Leugnung des Klimawandels. Kritisch dazu: David Gorski, „The Great Barrington Declaration: COVID-19 deniers follow the path laid down by creationists, HIV/AIDS denialists, and clime science deniers“, in: Science-Based Medicine, 12. Oktober, https://sciencebasedmedicine.org/great-barrington-declaration/.
  • 20. Die Disziplinierung der Proletarisierten ist und war nie Selbstzweck. Sie findet im Rahmen der Reproduktion der Arbeiter:innenklasse statt und wird schnell sinnlos, wenn die arbeitende Bevölkerung massenhaft krank wird und stirbt. Von missverstandenen Schriften Foucaults verdummt, sind nicht wenige Linken dazu übergegangen, Disziplinierung losgelöst von der Wertschöpfung als ein Ziel zu betrachten, das an sich und ohne außer ihm liegende Zweckbestimmung verfolgt würde. Mit anderen Worten: Ein krankes Proletariat, das, wie „diszipliniert“ auch immer, vor stillgelegten Betrieben Schlange steht, ist natürlich kein geeignetes Modell für die Kapitalakkumulation. Wer die Stilllegung der Weltwirtschaft für ein Instrument zur „Disziplinierung“ der Proletarisierten deutet, müsste zudem den Nachweis über eine weltweit undisziplinierte Arbeiterklasse erbringen. Ähnlich verhält es sich mit der immer wieder beschworenen Behauptung, die Gesellschaft würde gezielt in „Panik und zwanghafte Angst“ versetzt, um ein „Regieren durch Angst“ zu etablieren (Amiech, Ceci n'est pas une crise sanitaire). Es ist uns schleierhaft, wie genau die kapitalistischen Verhältnisse davon profitieren sollen, dass sich Angst vor Zusammenkünften in geschlossenen Räumen breit macht.
  • 21. Chuang, „Social Contagion: Microbiological Class War in China“ (2020), https://chuangcn.org/2020/02/social-contagion/. An dieser Stelle sei auf die Obsession hingewiesen, mit der manche den Ursprung des SARS-CoV-2-Virus zu irgendeinem geheimen Labor zurückverfolgen. Mutationen sind wesentlicher Bestandteil der Entwicklung von Viren. Die Zeit, in der sie zufällig entstehen, bestimmt, wie ihr Management (oder Nicht-Management) ausfällt. Das bedeutet aber keineswegs, dass sie absichtlich in geheimen Laboren hergestellt (und versehentlich oder absichtlich freigesetzt) wurden. Ernsthafte Auseinandersetzungen mit dieser Frage (z.B. in den Arbeiten von Mike Davis, Chuang, Andreas Malm and Rob Wallace) haben gezeigt, dass Zoonosen (d.h. Krankheitserreger, die von Tieren auf Menschen übertragbar sind) aufgrund von Entwaldung, die die Schutzzonen zwischen tropischer Umwelt und menschlicher Bevölkerung zusammenschrumpfen lässt, alles andere als neu sind. Sie hängen unmittelbar zusammen mit der Entwicklung der kapitalistischen Produktion, Zirkulation und Unterwerfung. In der wissenschaftlichen Literatur wird schon seit Jahrzehnten davor gewarnt, dass „Infektionskrankheiten global mit einer beispiellosen Geschwindigkeit entstehen“, wobei Zoonosen zwei Drittel dieser Krankheiten ausmachen.
  • 22. Gemeint sind hiermit Vereinbarungen (Memorandum of Understanding), die zwischen Griechenland und der Europäischen Kommission im Auftrag von EZB, IWF und Eurogruppe getroffen wurden. Im Austausch für finanzielle Hilfen verpflichtet sich der griechische Staat damit zu einer strikten Kürzungs- und Privatisierungspolitik. (Anm. d. Übers.)
  • 23. „Ein Teil der Linken (das ‚antikapitalistische‘ Milieu eingeschlossen) unterstützt inzwischen mehr oder weniger aktiv die Technokraten an der Macht.“ (Amiech‚ Ceci n’est pas une crise sanitaire, S. 16)
  • 24. Man sollte sich vergegenwärtigen, dass der eigentliche Inhalt dieser „Wahl“ in der heutigen Situation das Recht ist, die notwendigen Maßnahmen zur Eindämmung der Ansteckung nicht zu ergreifen oder persönlich zu entscheiden, welche Maßnahmen zu ergreifen sind. Die Methodik, mit der solche persönlichen Entscheidungen getroffen werden, wird nie infrage gestellt.
  • 25. Die Darstellung der „Bewegung der Leugner:innen“ als eine insgesamt gesunde Reaktion, der sich die extreme Rechte und religiöse Ideologen parasitär anschlössen, ist ein Hinweis auf diese Verwirrung.
  • 26. In Griechenland, wie auch anderswo in der EU, waren die Beschäftigten des Gesundheitswesens auch schon davorverpflichtet, sich gegen ansteckende Krankheiten wie Masern, Mumps, Röteln, Hepatitis A und B, Windpocken (für diejenigen, die mit Hochrisikopatienten zu tun haben), bestimmte Arten von konjugierten Meningokokkeninfektionen (für Mikrobiologen) oder Tetanus, Diphtherie und Keuchhusten impfen zu lassen (oder eine nachgewiesene Immunität zu haben). Diese Anforderung ist seit langem Teil der EU-Verpflichtungen und -Leitlinien in Bezug auf den Schutz von Arbeitnehmer:innen und Patient:innen vor dem Kontakt mit Biopartikeln. Soweit uns bekannt ist, wurde keine dieser Bestimmungen und Verpflichtungen jemals als „Hygiene-Apartheid“ bezeichnet.
  • 27. Gilles Dauvé, „Pour un monde sans morale“ [1983], Troploin, 2010, https://www.troploin.fr/node/37.
  • 28. Es wäre verfehlt, nicht anzuerkennen, dass die fast fanatische Unterstützung aller staatlichen Maßnahmen und ihrer Verlängerung in die Medizin auch aus einer ähnlichen Position der Angst heraus erfolgt. Aber es ging nie darum, die„Angst“ zu kritisieren. Wie Théorie Communiste treffend formuliert, „muss man ein bestimmtes Verhältnis zur Existenz haben, um zu behaupten, die Angst sei ein Hindernis, so als wäre sie eine Wahl“. Théorie Communiste, „Conspiricism in General and the Pandemic in Particular“, in: Cured Quail, 2021, https://curedquailjournal.wordpress.com/2021/02/14/conspiricism-in-general-and-the-pandemic-in-particular/.
  • 29. G.M. Tamás, „What is Post-fascism?“, in: Open Democracy, 13. September 2001, https://www.opendemocracy.net/en/article_306jsp/.
  • 30. Die Regierung der Nea Dimokratia hat drei bekannte Politiker der extremen Rechten in Ministerämter gehievt, zugleich verfechten zahlreiche ihrer Vertreter:innen Positionen der Alt-Right-Bewegung.
  • 31. „They are hiding something from us“, in: Tyflopontikas, Juli 2021, auf Griechisch https://yfanet.espivblogs.net/.
  • 32. Ein typisches Beispiel ist das ständige Gejammer darüber, dass man zum Schweigen gebracht, geshamed, ausgeschlossen werde usw. Und diese wahnhafte Selbst-Viktimisierung wird auch nicht dadurch erschüttert, dass die von ihnen vertretenen Ansichten über die Pandemie (wenigstens bis zur zweiten Welle) die Corona-Politik u.a. in USA, Brasilien und Großbritannien geprägt haben und dass die sozialen Medien ihren ‚alternativen‘ Meinungen nicht nur eine Plattform bieten, sondern sie auch noch massiv verstärken. Natürlich gibt es Medien, deren Zweck die Verbreitung von Regierungspropaganda ist, doch es ist ehrlich merkwürdig, wenn sich Menschen aus dem antagonistischen Milieu über den Ausschluss aus offiziellen Medien beschweren. Die Institutionen der Presse und der Medien sind weder rein der Information der Öffentlichkeit verpflichtet noch dienen sie bloßer Propaganda. Ihre Rolle besteht vor allem darin, Konsens zu erzeugen. Unter den gegenwärtigen Bedingungen einer fest verwurzelten Demokratie des Spektakels, in der es von Ideologien der „öffentlichen Debatte“ und freiem Meinungsaustausch nur so wimmelt, ist das Anpreisen „oppositioneller“ Meinungen nicht reiner Clickbait, sondern Teil der Konsensproduktion.
  • 33. Amiech, Ceci n’est pas une crise sanitaire, S. 23.
  • 34. „Der Green Pass ist ein reines Propagandainstrument“. Interview von Federica Matteoni mit Wu Ming, in: Jungle World, 11. November 2021, https://jungle.world/artikel/2021/45/der-green-pass-ist-ein-reines-propagandainstrument.
  • 35. Dass sich Facebook-Nutzer:innen in Postings beschweren, die Corona-Pandemie diene als Vorwand dafür, persönliche Daten abzugreifen, ist mehr als absurd.
  • 36. Wir sollten uns daran erinnern, dass der wiederholte und inflationäre Vergleich mit vergangenen Gräueltaten genau das begünstigt, was er eigentlich bekämpfen soll: Er relativiert die historische Realität und trägt zur Normalisierung des Grauens bei.
  • 37. Wenn man etwa Amiech liest, erfährt man, dass man der „Wissenschaft“ auf keinen Fall vertrauen kann, weil sie in der Vergangenheit schreckliche Fehler begangen hat. Die Tatsache, dass solche Fehler manchmal durch wissenschaftliche Verfahren aufgedeckt wurden, ist für solche großspurigen Erklärungen offenbar nicht von Belang.
  • 38. Amiech, Ceci n’est pas une crise sanitaire, S. 16.
  • 39. Die von einigen Corona-Leugner:innen vertretene „Kritik der wissenschaftlichen Vernunft“ ist so offensichtlich widersprüchlich, dass man sich wundert, warum sie noch nicht als völlig diskreditiert gilt. So behauptet dieser unausgegorene Ansatz, medizinisches Wissen wäre ausschließlich durch die kapitalistischen Verhältnisse bestimmt. Dass es sich dabei unter anderem um akkumuliertes Wissen handelt, wird ignoriert. Folgte man dieser Logik, so müssten wir jede wissenschaftliche Entwicklung ablehnen, nur weil sie während der Vorherrschaft der kapitalistischen Produktionsweise stattgefunden hat. Wir müssten nicht nur gegen Impfstoffe, sondern gegen alle Medikamente und Therapien für jegliche Krankheiten rebellieren.
  • 40. Vor Corona zielten die Investitionen im medizinischen Bereich (Forschung und Entwicklung) vor allem auf die Verbesserung von Produkten wie Antidepressiva und Viagra, da diese höhere Gewinne versprachen. Im Gegensatz dazu war die mRNA-Forschung marginalisiert und unterfinanziert, obwohl sie als vielversprechender Ansatz im Kampf gegen Krebs oder HIV galt.
  • 41. Teilweise wird behauptet, dass das Krisenmanagement während der Pandemie lediglich ein Vorwand war, um den Pharmariesen trotz wirksamer Impfstoffe zu Profiten zu verhelfen. Dieses schwache Argument ignoriert jedoch die Tatsache, dass einige ebenso große Pharmaunternehmen nicht in der Lage waren, wirksame Impfstoffe zu produzieren, und nach gescheiterten klinischen Tests massive Verluste hinnehmen mussten. Auf die zehn wirksamen Impfstoffe kommen mindestens sieben oder acht gescheiterte Versuche. Wer das Kapital zum Subjekt macht, muss das unter den Tisch fallen lassen.
  • 42. Anders als von vielen fälschlicherweise angenommen, sind die gegenwärtigen Impfstoffe keine Experimente, sondern die wohl am umfangreichsten erprobten Impfstoffe in der Geschichte der Menschheit. Mit 7,5 Milliarden bereits verabreichten Dosen und einem starken Interesse an der Vermeidung möglicher Nebenwirkungen sind sie besser erprobt und sicherer als die meiste Medikamente, die wir tagtäglich einnehmen. Den Einwand, die Impfstoffe seien weiterhinexperimentell, da sie ja nur eine Notfallgenehmigung (Emergency Use Authorization) besitzen (und normale Protokolle außer Kraft gesetzt seien), könnte man ernster nehmen, wenn dieselben Kritiker:innen denn bereit wären, die spätere Genehmigung nach üblichen Protokollen zu akzeptieren oder besser noch, wenn diejenigen, die solche Ideen verbreiten, nicht gleichzeitig alternative Medikamente gegen Covid (wie Remdesivir, Hydroxychlorin und monoklonales Bamlanivimab) anpreisen würden, die ebenfalls nur eine Notfallgenehmigung haben.
  • 43. Mit dem durchsichtigen Vorwand, die Masse an Ungeimpften versorgen zu müssen, hat die Regierung bereits wichtige Bereiche des Gesundheitswesen (wie etwa Reinigungsdienste) an Privatunternehmen ausgelagert. Der im November verabschiedete Haushalt für 2022 sieht Kürzungen im Gesundheitssystem von 820 Millionen Euro vor: 200 Millionen bei den regulären Zuschüssen für Krankenhäuser und 600 Millionen bei der Bekämpfung der Pandemie – ausgehend von der bereits widerlegten Annahme, sie werde dann vorüber sein (https://www.news247.gr/oikonomia/proypologismos-oi-dapanes-ygeias-vazoyn-fotia-stin-kontra-kyvernisis-antipoliteysis.9431519.html [griechisch]). Diese 600 Millionen legt die Regierung als Notfallreserve für die zeitlich befristete Einstellung von Personal und die vorübergehende Übernahme von Privatkliniken zurück. Es ist klar, dass sie eine langfristige Stärkung des öffentlichen Gesundheitswesens um jeden Preis vermeiden will, da dies im Widerspruch zu ihrem Vorhaben einer Teilprivatisierung stünde, und dass sie bei der Pandemiebekämpfung ausschließlich auf kurzfristige Maßnahmen setzt. Die Äußerung von Minister Akis Skertzos, dass „die Regierung kein luxuriöses Gesundheitssystem schaffen will, das mit dem Ende der Pandemie dann überflüssig sein würde“, bringt diese Orientierung klar auf den Punkt (https://www.naftemporiki.gr/story/1796568/a-skertsos-den-uparxei-logos-na-dimiourgisoume-ena-poluteles-sustima-ugeias [griechisch]).
  • 44. „Letztlich hat die Ideologie von Hooliganismus [teppismo] und Kriminalität, sollte sie tatsächlich mehr sein als überholtes Stilelement militanter Politik, eine Rekuperation revolutionärer Subjektivität zur Folge: Sie überzeugt davon, dass ‚Kriminelles‘ und allgemein illegales Verhalten sich auf der Ebene individueller Entscheidungen ausdrückt und unmittelbar jegliche positive Spannung entlädt. Sobald man sich als ‚Krimineller‘ mit dem ständigen Übertreten allerNorm zufrieden gibt, ertränkt man sein eigenes Existenzmodell in einem schlichten und karikaturhaften Ungehorsam gegenüber der Norm an sich und macht es damit nur zur Norm mit negativem Vorzeichen: Haben statt Sein. Der Wiederholungszwang ist der erbärmlich manische Charakterzug, durch den die aufständische Kreativität des wirklichen Umsturzes zur Routine und nostalgischen Wiederholung degradiert.” Giorgio Ceserano, „Excerpts from ‚Apocalypse and Revolution‘ [1973]“, in: Endnotes 5 (2020), S. 300, Hervorhebung hinzugefügt)
  • 45. Nationales Zentrum junger Ärzte, „Medizin und Repression“, in: René Vienét, Wütende und Situationisten in der Bewegung der Besetzungen, Hamburg 1977 [Nachdruck Berlin 2006], S. 185.