Von Lenin zu Lucke: Ein Buch und seine Welt(anschauung)

06. April 2022

Sahra Wagenknecht: Die Selbstgerechten. Eine Rezension.

Sahra Wagenknecht war einmal links. Zumindest erweckte sie den Eindruck. Als Sprecherin der „Kommunistischen Plattform“ in der damaligen PDS war sie ein richtiger Bürgerschreck. Und mit ihrem Beharren darauf, dass die DDR unter Walter Ulbricht eigentlich sehr gut funktioniert habe und erst durch Honeckers Saus-und-Braus-Politik bankrott gegangen sei, hat sie sich damals bei Leuten Sympathien erworben, die eine andere Gesellschaft woll(t)en.

Warum wir uns überhaupt mit diesem Buch beschäftigen: Mit dieser Kritik wollen wir in erster Linie diejenigen erreichen, die glauben, Wagenknecht habe da einen bedenkenswerten Beitrag zu einer Strategiedebatte für linke gesellschaftliche Veränderung geleistet. Denn das ist anzunehmen, und von Wagenknecht auch schon angekündigt: Nach ihrem desaströsen Abschneiden bei der Bundestagswahl 2021 wird die Linke sich genau die Frage vorlegen, die auch der Ausgangspunkt von Wagenknecht Buch ist: Warum hat die Linke keinen Erfolg? Sahra Wagenknecht hat da einen Vorschlag: Einfach nicht mehr (so) links sein. Damit steht sie nicht nur in einer langen schlechten linken Tradition. Sondern es ist häufig genug das „Erfolgsrezept“ linker Parteien nach Wahlniederlagen.

Zugleich ist uns das Buch auch ein Anlass, all diejenigen, die Wagenknecht jetzt empört-moralisch kritisieren, die innere ‚Logik‘ von Wagenknechts Argumentation aufzuzeigen. Denn wir meinen, dass viele dieser Leute sich in den theoretischen Grundlagen mit Wagenknecht eigentlich ganz einig sind und nur an einer bestimmten Stelle anders „abbiegen“ bzw. sich aus moralischen Gründen bestimmte Konsequenzen ihres eigenen Denkens verbieten.

Wir gehen dabei wie folgt vor: Im ersten Teil stellen wir allgemein das Buch und seine Argumentationsweise dar. Im zweiten Teil „Erfolg als Argument – die unschönen Konsequenzen eines linken Fehlers mit großer Tradition“ beschäftigen wir uns damit, wie Wagenknecht auf ihr Liebeswerben um Nationalist*innen und Rassist*innen kommt, und was das mit den Traditionen der alten sozialistischen Arbeiter*innenbewegung zu tun hat — und was nicht. Im dritten und letzten Teil „Deutschland, aber gefälligst ‚normal‘!“ geht es um Migration, Identitätspolitik und angebliche Protestwähler*innen; daran anschließend ziehen wir ein Fazit.1

Anstelle einer Stilkritik: Vorweg ein paar sachdienliche Hinweise zum Verhältnis von Polemik und Kritik

Das Buch von Wagenknecht ist sehr polemisch geschrieben. Daran ist nichts auszusetzen. Polemik kann klärend sein, wenn sie durch drastische und konsequente Verlängerung von Argumenten deren brutale oder idiotische Konsequenzen aufzeigt. Polemik kann auch ein Lesegenuss sein, wenn sie einigermaßen witzig ist. Polemik kann auch klarmachen, dass es um wichtige Angelegenheiten geht, und das übliche „Da-kann-sich-jede*r-eine-eigene-Meinung-zulegen“ wirklich nicht angemessen ist.

Das ist alles bei dem Buch von Wagenknecht nicht der Fall.

Ein Teil ihrer Polemik ist nichts weiter als hämisches Anknüpfen an die üblichen Ressentiments von Rechten: Die Linken, die tun immer so moralisch, aber in Wirklichkeit sind sie selbstgerechte, selbstverliebte, arrogante Arschlöcher. Was ja, selbst wenn es denn wahr wäre, auch noch keine Widerlegung auch nur eines Bruchteils eines Arguments wäre.

Ein anderer Teil ihrer Polemik beruht darauf, Gegner*innen und Sachverhalte so verzerrt darzustellen, dass es Mühe macht, sie wiederzuerkennen:

1. Wir sind keine großen Fans des Poststrukturalismus, der ja recht verbreitet ist, und von dem Wagenknecht behauptet, die neuen Linken würden ihm alle folgen. Und wir würden jederzeit mit Begeisterung Foucault, Derrida, Butler et tutti quanti kritisieren. Aber: Die These, „dass jenseits der Sprache gar keine reale Welt existiert, auf die wir uns beziehen2 (S. 100), mag ja von ein paar Leuten vertreten werden – die Theorie von Derrida und Foucault ist das nicht. Wer anderes behauptet, wie Wagenknecht, hat sich offensichtlich nicht mal die Mühe gemacht, die Wikipedia-Einträge zu beiden zu lesen, geschweige denn mal ein Buch.

2. Wagenknecht behauptet über die Entwicklung nach 1989: „aus der Gesellschaft als Gemeinschaftsprojekt war eine Assoziation von Egoisten geworden, denen alles erlaubt war, was das Gesetz nicht ausdrücklich untersagte.“ (S. 94). Wo war Wagenknecht bloß in den 1990er und 2000er Jahren? Wir erinnern uns sehr gut, dass jede neue miese Sparmaßnahme den schönen Vornamen „National“ bekam, dass überall Gemeinschaftswerte und neuer, „unverkrampfter“ Patriotismus gepredigt wurde, dass jede Flexibilisierung und Modernisierung immer damit begründet wurde, dass „unser aller Wohl“ nun mal vom Gedeihen des Standorts Deutschland abhänge. Und an die schönen Inszenierungen nationaler Gemeinschaft bei Oder-Hochwassern und Fußball-Weltmeisterschaften, ganz zu schweigen von den üblichen Debatten, wie „wir als Gesellschaft“ mit diesem oder jenem umgehen müssten oder sollten, oder von den alljährlichen Dankbarkeitsorgien über die Wiedervereinigung unseres teuren Vaterlandes.

3. Wagenknecht behauptet: „Gemeinwohl und Gemeinsinn sind Worte, die aus der Alltagssprache nahezu verschwunden sind“ (S. 9). Wir haben es hier mit einer Kritik zu tun, die an Wirklichkeitsverlust grenzt, denn in unterschiedlichen Variationen sind diese Wörter Dauerbrenner deutscher Politik und öffentlicher Diskussion. Dauernd wird sich auf „Deutschland“ bezogen, darüber geredet, was „wir“ „als Gesellschaft“ mal tun, lassen, diskutieren usw. sollten, wird „soziale Verantwortung“ eingefordert. Lauter Synonyme für „Gemeinwohl“ und „Gemeinsinn“. Witzigerweise fließt die Partei der Grünen, die von Wagenknecht so angehasst wird, geradezu über von diesen beiden Verpflichtungswörtern für das große Ganze: Allein im Bundestagswahlprogramm gibt es 18 x das Gemeinwohl, in allen denkbaren Varianten, und gleich 27 x die gute alte Solidarität, die grüne Formulierung des Gemeinsinns.3

4. Wagenknecht wirft der heutigen Linken vor, „Gemeinschaft vor allem mit Zwang, Abschottung, Engstirnigkeit und Unterordnung in Verbindung“ zu bringen (S. 225). Die Linke wolle stattdessen nur „Autonomie“ (S. 26), „Freiheit“ (S. 224) und „bindungslose[n] Selbstverwirklichungs-Individualismus“ (S. 223). Die radikale oder auch nicht so radikale Linke, die wir kennen, verteidigt aber hingegen häufig „lokale Gemeinschaften“ und „gewachsene Strukturen“ gegen Modernisierung und Gentrifizierung; häufig mit der Illusion verbunden, in irgendeinem ihrer Projekte sei das Zusammenleben schon ganz schön „menschlich“ organisiert. Für ihre Behauptung „Wer menschlichere gesellschaftliche Verhältnisse erreichen will, kann auf den traditionellen Gemeinschaftswerten aufbauen und sollte sie wertschätzen, statt an ihrer Diskreditierung mitzuwirken“ (S. 225) könnte Wagenknecht bei ziemlich vielen Hausprojekten, Wagenplätzen und Landkommunen, aber auch SPD-Ortsvereinen und grünen Arbeitskreisen einiges an Zustimmung bekommen. Dazu später mehr.

5. Wagenknecht behauptet, im „linksliberalen Mainstream“ werde kaum noch die Frage gestellt, wie es eigentlich „um die Vielfalt anhand sozialer Kriterien“ stehe (S. 110). Sie meint also, dass zwar überall „Diversität“, also Vielfalt, hochgehalten werde, diese Vielfalt sich aber nur auf Geschlecht, sexuelle Orientierung, Herkunft, Hautfarbe usw. beziehe. Faktoren wie soziale Herkunft (Schicht/Klasse) würden hingegen im linksliberalen Mainstream überhaupt keine Rolle spielen. Das ist mindestens eine schwere Übertreibung. Es stimmt zwar, dass Rassismus und Sexismus häufig für wichtiger genommen werden, aber als „Klassismus“ bereichern „soziale Kriterien“ schon lange die Liste mit Diskriminierungsformen, und noch jede neue Maßnahme im Bildungswesen wird unter dem Stichwort „Chancengleichheit“ und „Bildungsgerechtigkeit“ geführt.

Der Rest von Wagenknechts Polemik beruht auf folgendem auch nicht ganz neuen Kniff: Den abgehobenen Ideen wohlbetuchter und weltfremder Theoretiker*innen werden die handfesten Probleme einer konstruierten Mehrheit aus ‚ganz normalen Leuten‘ gegenübergestellt. Diese angebliche ‚Mehrheit‘ besteht regelmäßig nur aus physisch und psychisch gesunden nicht-behinderten heterosexuellen weißen Cis-Menschen mit deutsch klingendem Namen, ohne Vorstrafen und mit solider Bildungsbiografie, die „dauerhaft an einem vertrauten Ort“ leben und eine „traditionelle Familie“ gründen wollen (S. 197). Was Wagenknecht hier im Kopf hat, verrät mehr über ihr Volks-Ideal, als über die realen Mehrheitsverhältnisse in der Gesellschaft. Unterstellt wird dabei immer: So wie es die — angebliche — Mehrheit macht, wie sie also lebt, liebt, arbeitet, spart, leidet und stirbt, ist es auch schon ganz richtig und gut. Alles andere hingegen ist nicht „normal“, und theoretisches Denken, das irgendwelche ‚Selbstverständlichkeiten‘ auch nur zur Diskussion zu stellen wagt, ist nichts als weltfremde Spinnerei Pseudo-Linker.

Insgesamt ist Wagenknechts Darstellung der Linken und ihres angeblichen neuen „Linksilliberalismus“ ein etwas krampfhafter Versuch, von SPD-Rechten bis zum autonomen Hausprojekt alle irgendwie über einen Kamm zu scheren. Es gehört schon einiges an Ideologie dazu, Berufsnationalisten wie Bill Clinton, Tony Blair oder Gerhard Schröder „universalistische Menschheitsliebe“ zu unterstellen (S. 43). Und an Ignoranz, nicht zu sehen, dass „die Kürzung von Renten oder die Legalisierung unsicherer, mies bezahlter Arbeitsverhältnisse“ (S. 43) doch immer mit dem Allgemeinwohl begründet wurden (und werden), also nationalistisch. Aber an Ideologien, die es zu bekämpfen lohnt, kennt Wagenknecht eben nur verschiedene Spielformen dieses Liberalismus. Zum einen den Wirtschaftsliberalismus, der eben finde, dass der Markt schon alles regeln würde. Dann den Linksliberalismus, der dem Wirtschaftsliberalismus wirtschaftspolitisch auf den Leim gegangen sei, und dies aber mit allerhand Forderungen in Bezug auf Minderheiten, offene Grenzen, Lifestyle und abstraktem Humanismus verbinde. Und dann noch den sozialen Linksliberalismus, der zwar in der Wirtschaft- und Sozialpolitik soziale Fragen bedenke, aber eben nicht von der Fixierung auf Minderheiten, Migration und Hypermoral lassen wolle, und so die unteren Schichten noch mehr verschrecke und in die Arme der Rechten treibe. Nationalsozialismus, Faschismus, Rassismus, Antisemitismus und was es noch alles so an unschönen Ideologien in der Gesellschaft gibt, kommen bei Wagenknecht alle nur historisch vor: Da war mal was. Allenfalls in den USA kann Wagenknecht noch Rassismus erkennen (und da auch nicht mehr so schlimm (S. 216/217))... Sonst vertritt sowas ja heute eigentlich niemand mehr, und die entsprechenden Bezeichnungen dienen darum ihres Erachtens nur zur polemischen Verleumdung von bodenständigen und vernünftigen Leuten, „biedere[n] Bürgerliche[n] wie de[m] Ökonom Bernd Lucke“ (S. 30) oder dem „wirtschaftsliberalen Professor einer Verwaltungshochschule Jörg Meuthen“ (S. 192). (Denn nur weil jemand eine rechtsradikale Partei gründet oder führt, muss mensch sich doch nicht gleich was Böses dabei denken!)

Nun ist es nicht so, dass es den von Wagenknecht skizzierten Liberalismus gar nicht gäbe. Manch Fan von Marktwirtschaft und Konkurrenz findet Diskriminierungen – also das Nicht-Zulassen zu Konkurrenzen um Wohnungen und Arbeitsplätze oder Verschlechterungen der Startbedingungen – falsch, ungerecht, irrational oder unmarktwirtschaftlich. Keineswegs ist das aber dominant in Politik und Öffentlichkeit. Und dass es wirklich der alleinige Standpunkt der deutschen Regierungspolitik wäre, lässt sich auch nicht sagen – vieles sind schöne Reden, Symbolhandlungen und Absichtserklärungen. Zudem halten auch viele Liberale, Konservative und auch genügend Sozialdemokrat*innen solche Sorgen für „Gedöns“ (Schröder) oder für den Versuch, sich Vorteile in der Konkurrenz zu sichern. Das alles sieht Wagenknecht nicht, denn in der Welt, in der sie augenscheinlich lebt, ist alles ganz anders.

Sahra im La-La-Land oder: Hätten Sie's gewusst? Überall Linksliberale!

Sahra Wagenknecht schimpft ausführlich über Parallelgesellschaften. Dabei ist es bei ihr noch etwas schlimmer: Sie lebt in einer Parallelwelt, und dort in einem interessanten Land. Nennen wir es La-la-land.

In diesem sieht es so aus: Die Bild-Zeitung druckt dauernd Plenumsprotokolle von vegan-queeren Kommunen ab, in RTL und SAT 1 folgt auf einen Critical-Whiteness-Workshop der nächste, die Schulbücher sind voll von Homo- und Transsexuellen. Kurz: „immer nur die Lebensentwürfe von Minderheiten“ (S. 196), „immer kleinere[n] und immer skurrilere[n] Minderheiten“ (S.102), stehen „im Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit“ (S. 196).

Dazu kommt: Kaum übertritt ein Flüchtling die weit offenen Grenzen von La-la-land, wird er sofort vom fürsorglichen Staat mit Wohnung und Arbeitsplätzen verwöhnt. Dies auf Kosten der Ureinwohner*innen, die aus Angst vor der Political-Correctness-Gesinnungspolizei still vor sich hin leiden, weil „jedes geäußerte Unbehagen über diese Situation moralisch geächtet“ (S. 199) wird. Die „Forderung nach Begrenzung der Zuwanderung“ wird in La-La-Land „allein von der politischen Rechten offensiv vertreten“ (S. 182). Darum sind dort die guten Ergebnisse von rechtsradikalen Parteien auch kein Ausdruck von Rassismus, sondern von einer falschen Strategie der Linken.

Zu guter Letzt wird überall der Klimawandel nicht nur diskutiert, sondern einhellig ein rücksichtsloser Umbau der Wirtschaft ohne Rücksicht auf Arbeitsplätze und Verbraucher*innen mit kleinen Portemonnaies gefordert; das Land wird anscheinend von einer Koalition von FDP und Extinction Rebellion regiert.

Nationalfahnen oder nationalistisches Gerede gibt es im La-la-land hingegen keins, der „hasserfüllte Nationalismus, der über zwei Jahrhunderte das Verhältnis zwischen den Nationen vergiftet hatte“, wurde durch ein supranationales Staatenbündnis „zum Verschwinden gebracht“ (S. 232). Der „Seitenstrang konservativen Denkens und konservativer Politik“, der früher mal sogar für Wagenknecht „erkennbar rassistische Züge“ aufwies, ist „verdientermaßen mit den Nazis untergegangen“ (S. 221). Überall werden also nur Weltoffenheit und globale Verantwortung propagiert: „Beim Abgesang auf den Nationalstaat herrscht große Einigkeit zwischen den politischen Lagern“ (S. 227).

Die wenigen, die es wagen, dagegen öffentlich aufzutreten, werden an den Pranger gestellt und können „nicht mit Gnade rechnen“ (S. 10).

Wagenknecht hat darum großes Verständnis dafür, dass ein anständiger, konservativer Mensch, der seine Heimat liebt, vom La-la-Land zu viel kriegt und rechts wählt (und denkt).

Nein. Stopp. Moment: Wagenknecht hat großes Verständnis dafür, dass eben jene Figuren die Schnauze voll haben im wirklichen Deutschland. Und da sieht's doch ziemlich anders aus, als sie herbeifantasiert.

Desinteresse an Fakten und logischen Widersprüchen

Was das Buch dann endgültig zu einem propagandistischen Machwerk macht, das nur noch als Anschauungsobjekt für Ideologiekritik interessant ist, ist das Desinteresse von Wagenknecht an Fakten und logischer Plausibilität:

1. Wer allen Ernstes behauptet, „eine Debatte darüber, ob beim fundamentalistischen Islamismus die Grenzen des Tolerierbaren überschritten sind“, sei „bis zum Herbst 2020 tabu“ (S. 199) gewesen, muss irgendwo anders gelebt haben als in der Bundesrepublik Deutschland (Planet Erde, das ist der dritte blaue Planet zwischen der bräunlich-gelben Venus und dem roten Mars) und kann in den letzten zehn Jahren auch keine Medien aus Deutschland konsumiert haben. Aber auch das ist ein allzu vertrauter Kniff der radikalen Rechten: Sie sind zwar immer nur das brutale und radikale Echo der herrschenden Politik4, behaupten aber immer, total widerständig zu sein und lauter unterdrückte Themen anzusprechen. Wagenknecht benennt dieses Muster in ihrem Buch sogar („Underdog als Erfolgsrezept“, S. 190), aber das heißt ja nicht, dass sie das nicht selber auch machen kann. Schließlich läuft ihr Buch darauf hinaus, die Linke zu einer sozialpolitisch aufgemotzten AfD-Kopie zu machen.

2. Wagenknecht behauptet, „die CDU Angela Merkels“ stehe für „hohe Zuwanderung“ (S. 221) und das „Regierungsnarrativ“ sei 2015 „Willkommenskultur“ gewesen; der „politische Mainstream“ habe seinerzeit „jeden, der Besorgnis äußerte oder auf die Probleme unkontrollierter Zuwanderung hinwies“, als „Rassisten“ geächtet (S. 10). Reden wir wirklich über die Bundeskanzlerin, deren Regierung eine Verschärfung des Asylrechts nach der andern durchgesetzt hat? Angela-„Hast-Du-gut-gemacht-es-werden-aber-auch-manche-zurückgehen-müssen“-Merkel5? Deren Innenminister stolz darauf ist, viele Menschen auch in Kriegsgebiete abzuschieben, am liebsten an seinem Geburtstag? Und der mittels einer verlogenen Schmier- und Hetzkampagne das Bundesamt für Flucht und Migration so auf Anti-Ausländer*innen-Kurs gebracht hat, dass mittlerweile sogar deutsche Gerichte ihre Köpfe schütteln über manche Bescheide? Hat Wagenknecht damals die Zeitungskommentare wirklich nicht gelesen, in denen es bereits im September 2015 hieß, nun müsse „man“ aber die Sorgen und Probleme der Leute mit dieser Zuwanderungs„welle“ sehr ernst nehmen? Dem deutschen Staat war die von einigen gezeigte Freundlichkeit gegenüber Flüchtlingen von Anfang an überhaupt nicht wirklich recht. Als Aushängeschild für das geläuterte Deutschland waren sie zwar ganz nützlich, und die praktische Unterstützung in Sachen Lebensmittel, Kleidung, Betreuung schön billig. Wirklich willkommen war die „Willkommenskultur“ der Politik dennoch nicht — zu groß war die Furcht vor einer „Einladung“ an Leute, die Flucht nötig haben.6 Alle, die das wissen wollen, könnten das wissen. Offene Grenzen gab und gibt es – unter Vorbehalt – immer nur für osteuropäische Erntehelfer*innen und Pflegekräfte, oder für (ausreichend billige) so genannte „Fachkräfte“, an denen Mangel herrscht. Kurzum: Die Behauptung, die „Forderung nach Begrenzung der Zuwanderung“ werde „meist allein von der politischen Rechten offensiv vertreten“ (S. 182), ist – bedauerlicherweise – abwegig und ideologisch.

3. Wagenknecht kritisiert linke Polizeikritik mit der Vermutung, dass „mancher Bürger, der sich wegen seiner dunklen Hautfarbe in bestimmten Regionen unseres Landes nicht mehr sicher fühlt, vielleicht über den einen oder anderen zusätzlichen Polizisten auf der Straße ganz froh wäre“ (S. 23). Tja, da würden wir ja mal gern hören, was Oury Jalloh, Achidi John, Tonou Mbobda, Rooble Warsame, Amad Ahmad, Matiullah Jabarkhil, Yaya Jabbi, Hussam Fadl, Ousman Sey, Mareame N’Deye Sarr, Laya-Alama Condé, Dominique Kouayamo, und Christy Schwundeck dazu zu sagen hätten. Leider sind sie alle tot, und zwar – um es Staatsanwaltskompatibel auszudrücken – seit der Jahrtausendwende unter Beteiligung deutscher Sicherheitsorgane zu Tode gekommen. Interessanterweise gibt Wagenknecht immerhin zu, dass sich Leute „wegen ihrer dunklen Hautfarbe in bestimmten Regionen unseres Landes nicht mehr sicher“ (S.23) fühlen, auch wenn offen bleibt, wann sie sich dort mal sicher fühlen konnten — und warum sie es jetzt nicht mehr tun können. Ansonsten weiß sie über Rassismus aber eigentlich nur in Bezug auf die USA zu berichten. Dort habe ein „rassistischer Cop“ (S. 22), also ein Polizist, der so undeutsch ist, dass er in diesem sonst sehr deutschsprachigen Buch „Cop“ heißt, „den Afroamerikaner George Floyd brutal ermordet“ (S.22). Das ist zwar auch in den Augen von Wagenknecht nicht schön, aber kein Grund zu größerer Beunruhigung: „Zwar gibt es auch in den heutigen Vereinigten Staaten Rassismus, allerdings längst nicht mehr in der Verbreitung und Aggressivität der damaligen Zeit“ (S.216). Angesichts dessen also, dass die deutsche Polizei eigentlich nur aus Freunden und Helfern für Menschen mit „dunkle[r] Hautfarbe“ (S. 23) besteht, und dass in den USA seit den 1960ern vieles besser geworden ist, findet sie es lächerlich, dass wegen der Black Lives Matter-Bewegung die „Tage der Mohren-Apotheken und Mohren-Hotels in Deutschland endgültig gezählt“ seien (S. 22). Die Liste der „Mohren-Apotheken“ bei Wikipedia ist immer noch recht ansehnlich7, und auch die Google-Recherche zu „Mohren-Hotels“ brachte auch eine ganze Reihe Treffer. Aber bestimmt sind das alles ganz veraltete Einträge…

4. Wagenknecht behauptet, es sei „die Art, wie die Rassismus-Debatte im Jahr 2020 geführt wurde“, die Trump „fast zu einer Wiederwahl verholfen“ (S. 114) hätte. Es sah vor Corona so aus, als ob in den relevanten Staaten genügend Wähler*innen Trump (wieder) wählen würden. Und zwar genau, weil er rassistisch argumentierte. Es ist eben die übliche Taktik von Wagenknecht, die Existenz von Rassismus einfach abzuleugnen, und jeden Rassismus als völlig nachvollziehbare Reaktion auf einen angeblich überzogenen Antirassismus darzustellen: „Es hätte keinen Donald Trump und auch keine AfD gegeben, wenn ihre Gegner ihnen nicht den Boden bereitet hätten“ (S. 10).

5. Wagenknecht leugnet, dass politische Überzeugungen zur Wahl der AfD führen. Als Argument dafür führt sie an, dass „die vermeintlichen Menschenfeinde erst in den letzten Jahren darauf verfallen sind, ihre Stimme einer rechten Partei zu geben, obwohl es immerhin seit Langem mit NPD, DVU und Republikanern passende Adressaten gegeben hätte“ (S. 174). Dazu lässt sich folgendes sagen: In den 1990er Jahren waren Republikaner8 und DVU9 recht erfolgreich, in den 00-Jahren die NPD10 und zwischenzeitlich in Hamburg auch die Schill-Partei11 (PRO). Das kann jede*r wissen oder googeln. Im Regelfall sind die Hochburgen der genannten rechtsradikalen Parteien auch durchaus Hochburgen der AfD (mit Ausnahme von Hamburg). Der Rückschluss, nur diese Wähler*innen der rechtsradikalen Parteien seien damals Nationalist*innen, Rassist*innen usw. gewesen, während der Großteil der ex-linken AfD-Wähler*innen all dies nicht gewesen sei, und nur heute aus Protest oder Verzweiflung die AfD wähle, ist sowieso albern. Schon der Erfolg eines Buchs wie Deutschland schafft sich ab 2010 und die anschließende Debatte zeigen: Die Behauptung, Nationalismus oder Rassismus sei einzig bei Rechtsradikalen anzutreffen und müsse sich in entsprechender Stimmabgabe äußern, ist Quark. Auch in den demokratischen Volksparteien ist die Haltung „Deutschland zuerst! Unnütze Ausländer raus!“ weit verbreitet. Dass heute Leute eine Partei wählen, deren wichtigstes Thema dies ist, sehen auch die Soziolog*innen – deren Ergebnisse Wagenknecht anzweifelt – vor allem als einen Hinweis darauf, dass entsprechende Positionen „salonfähig(er)“ geworden sind. Diese Ignoranz gegenüber der Wirklichkeit hat Methode bei Wagenknecht. Sie will nicht, dass es nennenswert Rechtsradikale in der deutschen Bevölkerung gibt. Darum leugnet sie es selbst da, wo es wirklich offensichtlich ist.

6. Wagenknecht weist darauf hin, dass in Großbritannien – anders übrigens als in größeren Teilen Kontinentaleuropas – der Arbeitsmarkt frühzeitig auch für Osteuropäer*innen geöffnet wurde. Die sind dann auch nach Großbritannien gekommen, und das war von den New Labour- und Tory-Regierungen so auch gewollt. Das stellt sie in ihrem Buch richtig dar. Etwas vergisst sie freilich: dass 1. seit den 1990er Jahren der rechte Flügel der Konservativen Partei in Zusammenarbeit mit den Boulevardmedien und genügend Knalltüten aus der Labour Party regelmäßig heftige Hetzkampagnen gegen andere Einwanderer*innengruppen durchführten, vor allem gegen „Illegale“, 2. darum in den letzten 15 Jahren das britische Einwanderungsrecht nicht etwa liberalisiert, sondern regelmäßig verschärft und 3. UKIP und größere Teile der Tories diese Hetze dann aufgriffen, um nunmehr Stimmung gegen die EU zu machen: Die EU zwinge das Vereinigte Königreich legale und illegale Immigration zu dulden, darum könne nur der Brexit den Brit*innen die Kontrolle über ihr Land zurück geben („take back control“). Das alles liest man in dem Buch von Wagenknecht nicht, dort scheint es so, als ob eine viel zu liberale Einwanderungspolitik „die Migrationsfrage“ zur „Schlüsselfrage der Brexit-Debatte“ (S. 160) gemacht hätte. Denn jeder Hinweis darauf, dass in Wirklichkeit die herrschende Politik in allen relevanten westlichen Ländern rassistische Stimmungsmache gegen Geflüchtete und Einwanderer*innen beinhaltet, würde das schöne Narrativ kaputtmachen, nach dem selbstgerechte Linksliberale und skrupellose Neoliberale überall die Grenzen offen halten und damit die Arbeiter*innenklasse spalten und die Gesellschaften in den Abgrund treiben. Zudem würden frühere Wahlerfolge von faschistischen und ähnlichen Parteien auch die schöne Legende kaputtmachen, dass früher, als die Linke noch so richtig schön „auf Grundlage eines traditionellen Verständnisses von links“ (S. 24) gegründet war, sie massenhaft gewählt wurde, und nur aufgrund des Verrats der Linken an ihrer eigentlichen sozialen Basis heute so etwas wie Rechtsradikalismus entstanden ist.

Das sollen nur die wichtigsten Punkte sein, es gibt noch eine Reihe weiterer Ungereimtheiten und Behauptungen, die wirklich die Frage aufkommen lassen, auf welchem Planeten Wagenknecht die letzten 30 bis 35 Jahre eigentlich verbracht hat.

Sowohl der Titel als auch die Argumentationsweise des Buchs laden dazu ein, entsprechend zurückzukeilen, und den Widerspruch zwischen den formulierten Ansprüchen („ohne Aggression und mit einem Mindestmaß an Anstand und Respekt“ zu diskutieren, S. 10) und Wagenknechts eigener Person, eigenem Verhalten und eigenem Schreiben zu thematisieren. Dazu muss mensch diese Ansprüche freilich teilen. Die Frage, ob Sahra Wagenknecht selber „selbstgerecht“ und „scheinheilig“ ist, überlassen wir gerne den Leuten, die Gerechtigkeit und Heiligkeit offensichtlich für etwas Gutes halten. Wir gehören nicht dazu, im Gegenteil, und bleiben weiter dabei, dass wer „Glaubwürdigkeit“ einfordert, offensichtlich lieber glauben als denken will. Für die Würdigkeits-Prüfung von Führer*innen, Heiligen, Gurus und ähnlichen gefährlichen Leuten stehen wir nicht zur Verfügung. Aber Argumente gegen Wagenknecht und Ähnliche hätten wir ein paar.

Meisterin der Beschwichtigungsformel, Königin der Hundepfeife

Immanuel Kant hat es vorgemacht. Als er in einem Europa voller Monarchien sein Werk vom ewigen Frieden schrieb, war er sich schon klar: harter Tobak von einem preußischen Philosophieprofessor, der mal eben das ganze übliche Verhalten der Staatsmächte als unmoralisch geißelte, wenn auch in abstrakter Form. Also packte er in sein Vorwort eine schöne Beschwichtigungsformel („clausula salvatoria“), mit der er sich „wider alle bösliche Auslegung“12 absichern wollte; unter dem Motto: Ich mach hier nur Theorie, die nehmt ihr sonst ja auch nicht ernst, also macht mich bitte nicht wegen etwaiger praktischer Konsequenzen an.

In Wagenknecht hat Kant seine Meisterin gefunden. Zwar will sie, im Gegensatz zu Kant, ihre Überlegungen nicht vorsichtshalber als harmlose Gedankenspielereien relativieren. Andererseits will sie ihr Buch aber gegen die Kritik absichern, es sei das ignorante, rassistische, nationalistische, anti-emanzipatorische Machwerk, das es nunmal ist. Mit einer Beschwichtigungsformel ist es darum nicht getan, immer wieder betont sie: Selbstverständlich sei sie gegen Rassismus. Natürlich sei ihr das Elend der Leute im globalen Süden nicht egal. Keine*r sei dagegen, wirkliche Opfer von Kriegen und Bürgerkriegen aufzunehmen. Logisch müsse etwas gegen den Klimawandel gemacht werden. Niemand wolle zurück in die Zeiten, wo Frauen oder Homosexuelle diskriminiert worden seien. Und so weiter, und so fort.

Diese Lippenbekenntnisse formuliert sie immer in einem Tonfall, der deutlich macht: dass mensch so etwas heute klarstellen muss! Wo das doch alles eigentlich selbstverständlich ist, und sich doch alle eigentlich längst einig seien. Was – natürlich, logisch und selbstverständlich – überhaupt nicht stimmt, aber genau die Leute anspricht, die es soll. Die sich nämlich selbst nicht für Rassist*innen, Sexist*innen usw. halten (wollen), nur weil sie finden, traditionelle Familien seien für Kinder nun mal die besten, Deutschland solle den Deutschen gehören, die meisten Flüchtlinge seien Wirtschaftsflüchtlinge und die Leute in Afrika sollten mal mehr arbeiten. Genau die will Wagenknecht gerne erreichen.

Deswegen ist Wagenknecht auch die Königin der Hundepfeife, selbst Donald Trump könnte bei ihr noch in die Lehre gehen. Hundepfeifen sind ja bekanntlich Instrumente, die so hohe Töne von sich geben, dass Menschen sie nicht hören können, Hunde aber schon. Sie hat sich als Metapher durchgesetzt für den rechten Trick, Argumente so zu formulieren, dass sie gerade noch nicht wirklich anstößig sind, so dass mensch bei Angriffen, dies sei doch rassistisch, sexistisch usw., nur verwundert und betroffen große Kugelaugen machen kann, wie böswillig die eigenen, völlig harmlosen Formulierungen wieder ausgelegt werden. Andererseits ist dabei durch bestimmte Schlüsselworte, Deckformulierungen und die Konsequenz der Argumentation sichergestellt, dass alle möglichen Rechtsradikalen verstehen: Hier spricht ein Gesinnungsgenosse. Oder eben eine Gesinnungsgenossin. Und da lässt Wagenknecht, die ein recht breites Zielpublikum hat, keine Wünsche aufkommen. Rassismus gibt es eigentlich kaum noch (= also spinnen alle Leute, die Alltagsrassismus beklagen oder gegen Rassismus kämpfen), die Emanzipation der Frau hat ihr vor allem Doppelbelastung eingebracht (= dann ist die traditionelle Familie und die traditionelle Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern doch wohl das bessere), der globale Süden braucht vor allem Fachkräfte (= die deswegen nicht nach Europa auswandern sollten), und Hilfe von der internationalen Staatengemeinschaft (= also nicht von „uns“) sollte vor allem vor Ort geleistet werden (= damit ja keine*r von denen hierherkommt). Das verstehen die ganzen bisherigen oder potenziellen AfD-Wähler*innen schon so, wie sie sollen.

Und ihre linken Anhänger*innen überlesen und ignorieren das, und verweisen auf die scharfe Kritik am Sozialabbau, die Wagenknecht im Angebot habe.

In diesem Buch gibt es Richtiges und Neues: Was neu ist, ist nicht richtig; was richtig ist, ist nicht neu.

Selbstverständlich steht in dem Buch von Wagenknecht nicht nur Blödsinn. Das ist per se noch keine sehr große Leistung. Bevor wir dieses Buch weiter auseinandernehmen als das ideologische Machwerk, das es ist, seien ein paar wichtige Punkte erwähnt, wo sie tatsächlich recht hat:

Es stimmt,

1. dass sozialdemokratische und linke Parteien nicht zu den Krisengewinnern gehören, sondern ihnen viele Wähler*innen aus der Arbeiter*innenklasse abhanden gekommen sind. Wagenknechts Erklärung dafür ist aber falsch; wir kommen noch darauf zurück.

2. dass „die linksliberale Rhetorik“, und manchmal auch die Linke, oft „in eine Verteidigungshaltung kippt“ und dass das „Bestehende plötzlich eine gute Sache“ wird und es nunmehr nur noch der Kampf gegen „Unholde von rechts“ (S. 36) ist – und nicht gegen die Zustände, die solche rechten Positionen immer wieder hervorbringt (das fänden zumindest wir lohnenswert).

Allerdings verklärt Wagenknecht nicht nur rechte Positionen gegen Migration und queere Vielfalt als völlig nachvollziehbare Abwehrreaktionen gegen eine arrogante, abgehobene Mittelschicht, die ihre eigenen Interessen verteidige. Sondern sie leugnet auch, dass das übliche nationalistische Durchschnittsbewusstsein überhaupt rechts, rassistisch, sexistisch usw. ist. Dass es genau die von ihr idealisierten Zustände nationalstaatlich organisierter Marktwirtschaft sind, die dauernd rechte Positionen hervorbringen, begünstigen, unterstützen, plausibel erscheinen lassen usw. – das sieht sie sowieso nicht.

3. dass Globalisierung und Kapitalexport nicht einfach Sachzwänge sind, die vom Himmel regnen, sondern zielstrebige Politik gewesen waren und sind. Sie hat ja recht, wenn sie schreibt: „Die Mär vom schwachen Nationalstaat in unserer globalisierten Welt ist also vor allem eins: eine Zwecklüge der Regierungen, um die Verantwortung […] auf Sachzwänge abzuwälzen und eine wirtschaftsliberale Politik zu rechtfertigen“ (S. 231).

Sie versteht aber nicht wirklich, wer das warum ins Werk gesetzt hat: Es waren und sind eben die bürgerlich-kapitalistischen Nationalstaaten, die damit ihren eigenen Interessen dienen wollen. Niemand anders nämlich hätte die Nationalstaaten „in ein Korsett von Sachzwängen und Verträgen“ (S. 228) einbinden können als sie selbst. Bei Wagenknecht wird Politik nur von multinationalen Konzernen und kleinen bösen „Interessengruppen [...], denen es nur um den eigenen Profit geht“ (S. 17), gemacht; der Staat ist ein neutrales Instrument, das entweder in der einen oder in der anderen Hand liegt. Was der bürgerliche Staat wirklich ist13, und wie und worin er den Interessen des Kapitals dient, das hat sie nie verstanden. Weil sie blind ist für die Konkurrenz der Nationen um den Reichtum der Welt, weil sie den Zweck von bürgerlichen Staaten nicht versteht, kann sie überall nur Feigheit, Dummheit oder Korruption als Ursache entdecken – nicht aber die Mehrung des nationalen Reichtums, für die der Staat die Bedingungen schafft.

4. dass „eine wirtschaftsliberale, globalisierungsfreundliche Agenda in den europäischen Verträgen seit Maastricht verankert ist“ (S. 187).

Aber warum das so ist – das erklärt Wagenknecht falsch, nämlich mit Lobbyismus (S. 249), Korruption (S. 241) und Dummheit (S. 328). Deutschland hat sich die Eurozone zurechtorganisiert, so dass alle europäischen Länder ihre Unternehmen weltmarkt-wettbewerbsfähig züchten wollen müssen und sie darum der wechselseitigen Konkurrenz innerhalb von Europa aussetzen. Die EU, auch der Rest der Welt, sind ein Geschäftsfeld für das deutsche Kapital, betreut und flankiert von der deutschen Politik. Wagenknecht weiß darüber nichts, oder wenn sie was darüber weiß, dann hält sie es nicht für erwähnenswert in ihrem Buch. Denn Imperialismus ist für sie irgendetwas, was böse kleine Finanzeliten machen, oder Staaten, die wegen „Rohstoffen und Absatzmärkten“ (S. 231/ 232) Kriege führen. Und darum findet die Befassung mit dem deutschen Imperialismus nur außerhalb ihres Buches statt.

5. dass Menschen keineswegs jene rationalen Nutzenoptimierer*innen sind („homo oeconomicus“), wie das die Wirtschaftswissenschaften behaupten.

Wagenknecht verpasst aber, wozu ein solches „Modell“ eigentlich taugt: nämlich die ideologische Verwandlung der allgegenwärtigen Konkurrenz, die im Kapitalismus nun installiert ist, in eine Eigenschaft der Menschen, die sich in dieser Konkurrenz bewähren müssen. Das vertauscht Ursache und Folge sehr zweckdienlich: Weil Menschen nun mal so bornierte Egoist*innen sind, muss es Konkurrenz geben. Dabei ist es genau umgekehrt: Weil es Konkurrenz gibt, verhalten sich Menschen häufig so, als hätten sie statt eines Gehirns ein Portemonnaie im Kopf. Was Wagenknecht dieser Ideologie dann entgegensetzt, macht die Sache fast noch schlimmer: statt dem zweckrationalen Konkurrenzgeier den anerkennungssüchtigen Gemeinschaftsdeppen.

6. dass Islamismus, Salafismus, Dschihadismus usw. rechtskonservative bis protofaschistische Ideologien sind, und dass die Übergänge zwischen ihnen – wie das bei Konservatismus und Faschismus halt so ist – durchaus fließend sind. Es stimmt sicher auch, dass die konservative Lesart des Islam, die sich bei vielen Migrant*innen, die sich irgendwie dem Islam zurechnen, durchgesetzt hat und durchgesetzt wurde, einen fruchtbaren Boden dafür bietet.

Es ist allerdings bezeichnend, dass ihr das nur und ausschließlich beim Islam auffällt, und nicht zum Beispiel beim christlichen Fundamentalismus, der in Deutschland mit AfD und CDU/CSU immerhin parlamentarische Ansprechpartner hat. Ihre Erklärung für den Erfolg des Islamismus kommt dann auch noch ganz ohne den Rassismus in dieser Gesellschaft aus. Den leugnet sie nämlich komplett und lobt stattdessen den hiesigen Traditionalismus und die Gemeinschaftswerte, die ihr beim Islam hingegen so sauer aufstoßen.

7. dass die Modernisierungen der letzten 30 Jahre für größere Teile der Arbeiter*innenklasse eine Verschlechterung ihrer Lebensumstände und ihrer Lebensperspektiven waren. Sie schildert in ihrem Buch detailreich, wie mies der Arbeitsalltag, die Wohnverhältnisse und die Bezahlung für viele geworden sind.

Sie benutzt das aber, um für Verständnis dafür zu werben, wie diese Menschen sich ihre miese Lage und Prekarisierung erklären, und als moralische Anklage gegen jene Teile der Arbeiter*innenklasse, die bei ihr beharrlich „Mittelschichten“ heißen und einige dieser Modernisierungen für ihre Konkurrenzerfolge nutzen konnten. Und gegen Leute, die aus anderen Ländern kommen, um hier ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Eine Erklärung, warum diese Verschlechterungen passiert sind und passieren konnten, hat Wagenknecht auch. Sie ist aber falsch (siehe Punkt 2).

8. dass es nicht darum gehen kann, „anders [zu] konsumieren, sondern vor allem anders [zu] produzieren“ (S. 290). Hier hat Wagenknecht recht, sogar gegen vermutlich den größeren Teil ihrer Kritiker*innen: „Wer den Menschen einreden will, die Veränderung ihres Lebensstils sei der Schlüssel zur Rettung unseres Planeten, macht sich und anderen etwas vor.“ (S. 284). Das sagen wir seit Jahren, und das kann mensch an anderer Stelle, besser formuliert und besser begründet, ausführlich nachlesen.14 Es dürfte auch stimmen, dass viele vegane und Bioprodukte keineswegs eine gute CO2-Bilanz haben, und auch, dass der CO2-Fußabdruck vieler Aldi- und Lidl-Konsument*innen kleiner ist als der manch' engagierten Grünen-Mitglieds. Dass alle Appelle, die Konsument*innen möchten doch mit ihrer gigantischen Marktmacht die Unternehmen zwingen, ökologischer und sozialverträglicher zu produzieren, sich an der relativen Armut vieler Menschen in diesem Land (und anderswo) blamieren, kritisiert Wagenknecht völlig zu Recht.

Aber, und das macht ihre Kritik komplett wertlos, sie hält daran fest, dass Kapitalismus gleichzeitig die Lösung ist für alle Probleme, die er schafft. Sie weiß schon, dass das zentrale Ziel kapitalistischen Wirtschaftens“ darin besteht, „aus Geld mehr Geld zu machen“. Aber sie hält daran fest, dass Unternehmen dies „durchaus auf Wegen erreichen, die mit dem Allgemeinwohl und auch mit den Interessen ihrer Arbeiter nicht kollidieren“ (alles S. 60). Denn sie glaubt: „Märkte sind eine überaus nützliche wirtschaftliche Institution, wenn sie funktionieren und in einen angemessenen gesetzlichen Rahmen eingebettet sind“ (S. 310). Das ist eine alte Idee, dem Kapitalismus ein gutes Leben abgewinnen zu können: durch Gesetze, Kämpfe und starke Gewerkschaften (Linke); durch viel Moral, Gemeinschaftssinn und starke Führer (Rechte) oder eben durch ganz viel Freiheit und unternehmerische Eigeninitiative von allen (Liberale). Wagenknecht glaubt nun, die Lösung gefunden zu haben – in der Kombination von links und rechts: durch Gesetze, Kämpfe, starke Gewerkschaften, viel Moral, mehr Gemeinschaftssinn und unbestechliche FührerInnen. Das macht ihr Buch nicht nur unoriginell, sondern ist auch ein Rückfall hinter eine zentrale Erkenntnis von Marx: „Die kapitalistische Produktion entwickelt daher nur die Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, indem sie zugleich die Springquellen alles Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter.“15

Goldene 50er/ 60er/ 70er: „So schön – schön war die Zeit!“ (Freddy Quinn16)

Das ganze Buch von Wagenknecht ist durchzogen von einer Sehnsucht nach der guten alten Zeit, als diese nationalen Gemeinsamkeiten noch völlig selbstverständlich waren und es allen irgendwie gut ging: „Gemeinsinn, Solidarität, Mitverantwortung für das Gemeinwesen waren zu dieser Zeit in großen Teilen der Gesellschaft anerkannte Werte, gegen die sich zu wenden als unmoralisch galt“ (S. 215).

Das war laut Wagenknecht so, weil damals der „Zusammenhalt in den Belegschaften“ groß und „die Industriearbeiterschaft als gesellschaftliche Gruppe entsprechend einflussreich“ war (S. 61). Und da die Gemeinschaftswerte „von der Arbeiterschaft wie von den traditionellen bürgerlichen und kleinbürgerlichen Schichten geteilt wurden“, sorgte das für ein gutes Miteinander: „Die Gesellschaft wurde als eine gemeinsame Angelegenheit betrachtet, in der sozialer Zusammenhalt, Gemeinsinn und Verantwortung nicht nur für sich selbst, sondern auch für andere zählen“ (alles S. 63).

Dazu hatten die Arbeiter*innen nach Wagenknecht auch allen Grund: Ein „umfassendes Bündel von Leistungen aus der Sozialversicherung“ sorgte zusammen mit „gesetzliche[m] Kündigungsschutz, festgelegte[n] Aufstiegsmöglichkeiten im Betrieb und feststehende[n] Lohnerhöhungen im Zuge einer längeren Betriebszugehörigkeit“ (S. 63) für eine „Epoche, in der es tatsächlich für nahezu alle, und insbesondere für die Arbeiterschaft, aufwärtsging“ (S. 65).

Als Vati noch Arbeit hatte, war die Welt noch in Ordnung! Damals ging es allen gut, und bis auf die „Bigotterie der Sechzigerjahre-Gesellschaft, in der außerehelicher Sex noch immer als Sünde galt, während zahllose Altnazis in Einflusspositionen des Bildungssystems, der Justiz und in den politischen Parteien überdauert hatten“ (S. 96), fällt ihr an der guten (?) alten (!) Bundesrepublik mit ihrem „rheinischen Kapitalismus“ nichts Negatives auf.

Das kleine ABC der kapitalistischen Produktion – A wie Asbestose, B wie Betriebsunfall, C wie Contergan – kennt Wagenknecht nicht. Die Monotonie des kapitalistischen Arbeitsalltags, der tägliche körperliche und geistige Verschleiß, Hierarchie und Hektik, die Gefährdung durch Produktion und Produkte: Das alles klagt sie für die heutige Zeit an. Aber in der Vergangenheit kann sie das alles gar nicht entdecken. Dass es auch damals Armut gab, dass der Sozialstaat Leute, die nicht spurten, auch schon mal in Arbeitshäuser17 steckte, und die „Gastarbeiter“ kasernierte, nein, davon hat Wagenknecht offensichtlich noch nie etwas gehört.

Sie hat den gesunden, gewerkschaftlich organisierten männlichen deutschen Facharbeiter im Großbetrieb vor Augen, und dem ging es fraglos früher besser (sofern er sein Arbeitsleben überlebte, sich keine schmerzhafte Berufskrankheit einfing, als Kind nicht mit irgendwelchen staatlichen oder kirchlichen Heimen in Kontakt geraten und nicht schwul oder trans war). Und selbstverständlich war die sozialstaatliche Absicherung in den 1970er Jahren besser, als sie das heute ist. Zu glauben, das läge daran, dass „der Kapitalismus“ damals „nicht annähernd so kapitalistisch war wie heute“, weil er „nationalstaatlich eingehegt und stark reguliert wurde“ und „weil die wirtschaftlichen Entscheidungen noch nicht im heutigen Ausmaß rein finanziellen Renditekalkülen folgten“ (S. 282), offenbart nur eins: Eine andere Welt ist für Wagenknecht nicht nötig. Ein anderer Kapitalismus schon. Einer, der ‚nicht ganz so kapitalistisch‘ ist – was auch nur zeigt, dass Wagenknecht überhaupt keine Ahnung davon hat, was Kapitalismus eigentlich ist. Sondern, dass sie hartnäckig an dem Glauben festhält, privates Bereicherungsinteresse von Geldeigentümer*innen ließe sich schon dahingehend funktionalisieren, dass das ein Zugewinngeschäft für alle werde. Für die eigentumslosen Verkäufer*innen der eigenen Arbeitskraft hat sie sozialstaatliche Regulierung und Finanzierung der Armut im Angebot. Das eben ist Wagenknecht: Eine furchtlose Anwältin der Unterdrückten und Ausgebeuteten und ihres Rechts auf verantwortungsvolle Unterdrückung und maßvolle Ausbeutung und Armut.