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„Vital Signs“ – Magazin für revolutionäre Orientierung im Gesundheitssektor

„Vital Signs“ – Magazin für revolutionäre Orientierung im Gesundheitssektor

16. Juli 2024

Durch die Eskalationen ökonomischer, ökologischer und geopolitischer Widersprüche droht manchmal in Vergessenheit zu geraten, dass uns die gegenwärtige Situation auch mit einer „Sorge-Krise“ konfrontiert. Die Arbeitskämpfe und Streiks, die seit einigen Jahren an deutschen Groß-Krankenhäusern, insbesondere an Unikliniken, stattfinden, machen dieses Problem immer wieder sichtbar. Sie haben sich zu einer „Entlastungsbewegung“ formiert, in der es darum geht, Entlastungstarifverträge zu vereinbaren, in denen Personalschlüssel und Maßnahmen zum Ausgleich von Belastungen festgelegt werden. Sie zielen damit nicht auf höhere Löhne, vielmehr wird für bessere Arbeitsbedingungen gekämpft. Über die Betriebskämpfe soll zudem Druck auf die Politik ausgeübt werden, allgemeingültige Maßnahmen zur Entlastung zu ergreifen und diese mit einem Finanzierungssystem zu verbinden, in dem das bezahlt wird, was für eine gute Versorgung nötig ist.1

Zuletzt wurden solche Entlastungstarifverträge am jüdischen Krankenhaus in Berlin und an der Uniklinik Gießen-Marburg erstritten; im Sommer 2022 wurde an den Unikliniken in NRW ein erster Flächentarifvertrag für Entlastung vereinbart. Zu den Kämpfen an der Charité und den Vivantes-Kliniken 2021 in Berlin haben wir auf diesem Blog bereits berichtet.2

Was in der Berufsgruppe der Pflege begann, hat sich im Verlauf dieser Auseinandersetzungen auf weitere nicht-medizinische Krankenhausarbeiter:innen ausgeweitet, d.h. auch für diese Berufsgruppen (bspw. MTAs, Mitarbeiter:innen im Patiententransport, in der Küche oder im IT-Bereich) wird in den jüngsten Kämpfen Entlastung gefordert. Doch nicht nur wegen dieser expansiven Solidarisierungsdynamik können die Entlastungskämpfe als einer der progressivsten Klassenkämpfe in der gegenwärtigen BRD gelten (unabhängig davon, wie man die Tarifverträge im Einzelnen bewertet). Zentral ist auch die Art und Weise, wie die Kämpfe geführt werden. Unter Rückgriff auf Organizing-Methoden und Konzepte beteiligungsorientierter Gewerkschaftsarbeit werden demokratisierte Formen der Forderungsfindung und der tariflichen Kompromissbildung erprobt. Forderungen werden auf Grundlage von Eins-zu-Eins-Gesprächen entwickelt und es wird mit großen Tarifkommissionen gearbeitet, die sich während den Verhandlungen ständig mit sogenannten Teamdelegierten rückkoppeln, die wiederum eine Brücke zu den Arbeiter:innen in den einzelnen Teams bilden. Anja Voigt, die wir zum Arbeitskampf in Berlin interviewt haben, meinte damals: „Wenn die Teamdelegierten sagen, dass sie dem, was wir in der Tarifkommission verabredet haben, nicht zustimmen, dann machen wir das auch nicht. Wichtige Entscheidungen treffen wir gar nicht ohne diese Rückkopplung.“ (Anja Voigt)

Spricht man mit Beteiligten an diesen Kämpfen, merkt man schnell, dass – neben allen auch negativen Erfahrungen mit verdi-Hauptamtlichen und der Politik – in diesem Setting eine Reihe von Ermächtigungserfahrungen gemacht werden. Nicht nur wird das eigene Wissen der Arbeiter:innen über ihren Arbeitsplatz plötzlich relevant, um Forderungen aufzustellen und die eigenen Arbeitsbedingungen zu bestimmen (oder zumindest, es zu versuchen). Es werden auch Prozesse kollektiver Selbstbestimmung erprobt, sei es in der Diskussion von Verhandlungsständen oder auch in der Organisation der Notversorgung, die parallel zum Streik aufrechterhalten werden muss. Die Idee, dass es keine Chefs braucht, um die Versorgung zu gewährleisten, scheint da fast zum Greifen nah.

Aber eben auch nur fast - all dieser progressiven Momente zum Trotz verschaffen sich in der Bewegung kaum Stimmen Gehör, die offen und offensiv die Perspektive einer revolutionären Umwälzung der Krankenversorgung und der gesellschaftlichen Verhältnisse, die ständig mehr Kranke produzieren, propagieren. Dass es auch anders geht, zeigt nun eine Initiative von Krankenhausarbeiter:innen in Bristol. Hier erschien kürzlich die erste Ausgabe des neuen Magazins „Vital Signs“, das eine revolutionäre Orientierung im Gesundheitswesen verankern will. Wir hoffen durch den Hinweis auf dieses Magazin und die folgende Übersetzung einiger Rahmenüberlegungen, die von Mitgliedern der beteiligten Gruppe AngryWorkers veröffentlicht wurden, auch hierzulande revolutionäre Impulse und Bestrebungen darin zu bestärken, öffentlich über Möglichkeiten einer sozialrevolutionären Umgestaltung von Krankenversorgung und Gesellschaft nachzudenken.

 

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„Vital Signs ist ein neues Printmagazin, das in den beiden größten Krankenhäusern in Bristol verteilt wird und sich an 18.000 Kolleg:innen richtet. Mit dem Magazin wollen wir die unabhängige Organisation unseres täglichen Kampfes für bessere Bedingungen unterstützen und die Entwicklung der alltäglichen Arbeiter:innenkontrolle fördern. Wir wollen zu einer kritischen Analyse des Gesundheitssektors und der Hürden beitragen, die Konzerne und der Staat für die Entwicklung und Vergesellschaftung von medizinischer Technologie und Wissen aufbauen. Die Zeitschrift regt uns und unsere Kolleg:innen auch dazu an, die Beziehung zwischen den Beschäftigten im Gesundheitssektor und den Patient:innen der Arbeiter:innenklasse auf einer menschlichen und psychologisch-geistigen Ebene anders zu denken.

Wir wollen uns darauf konzentrieren, den inneren Zusammenhang zwischen dem täglichen Kampf, der Analyse der Funktionsweise des Care-Sektors in der Gesellschaft und der Kritik an der Organisation von Arbeit im allgemeinen zu verstehen. Wir sehen dies als Voraussetzung für die Entstehung einer pragmatischen revolutionären Perspektive des Übergangs zu einer neuen Gesellschaft. Dabei stellen die Beschäftigten im Gesundheitswesen nicht nur das „sorgende Element“ innerhalb eines umfassenderen Programms der Arbeiter:innenklasse dar. Im Gegenteil, der moderne Krankenhaus- und medizinisch-industrielle Sektor ist extrem fortschrittlich in Bezug auf globale Zusammenarbeit, komplexe Arbeit, angewandte Wissenschaft und Technologie. Daher werden die 1,4 Millionen Beschäftigten im vielschichtigen Netzwerk des NHS3 viel beizutragen haben, wenn es um die Frage geht, wie die Produktion und die Gesellschaft insgesamt von unten neu organisiert werden können.

Als Zeitschrift wird „Vital Signs“ versuchen, diese Debatten innerhalb des Gesundheitssektors mit breiteren programmatischen politischen Positionen zu verbinden, die wir als Kommunist:innen vorschlagen, z.B. gegen jeden Staat in jedem kapitalistischen Krieg, gegen parlamentarische Illusionen und für die Bildung unabhängiger politischer Organisationen der Arbeiter:innenklasse. Unser Ziel ist es, an den beiden Arbeitsplätzen einen Anziehungspunkt für eine revolutionäre Kritik nicht nur am Krankenhaus-/Gesundheitssektor, sondern an der gesamten Gesellschaft zu schaffen. Wir hoffen, dass sich im Laufe der Zeit und mit Hilfe von Diskussionsveranstaltungen eine Gruppe von Arbeitnehmer:innen um „Vital Signs“ versammeln wird und eine kollektive Praxis innerhalb und außerhalb der Krankenhausgrenzen entwickelt. Wir hoffen auch, dass wir uns mit gleichgesinnten unabhängigen Initiativen in anderen Sektoren wesentlicher Wirtschaftsbereiche [essential industries]4 vernetzen können, da wir glauben, dass jede revolutionäre Strategie und autonome Organisation der Arbeiter:innenklasse von einer sozialen und produktiven Massenbasis aus entwickelt werden muss. Wenn ihr Interesse an einer Zusammenarbeit habt und/oder ein Treffen mit uns in eurer Stadt organisieren wollt, kontaktiert uns. Da es sich bei „Vital Signs“ um eine unabhängige Initiative handelt, sind wir auch auf praktische und finanzielle Unterstützung von Kolleg:innen und Aktivist:innen angewiesen.

E-Mail: vitalsignsmag@proton.me

Online-Version der Zeitschrift: www.vitalsignsmag.org

Twitter: @healthworkersU1

Facebook: https://www.facebook.com/BristolSolidarity

Instagram: @vitalsignsmag

Es ist klar, dass in der gegenwärtigen Zeit der globalen Krise, der sich verschärfenden militärischen Konflikte und der Klimakatastrophe die Haltung vieler wohlmeinender Linker gegenüber der Arbeiter:innenklasse fatal ist. Zu oft wird die Arbeiter:innenklasse auf eine Opferrolle reduziert, auf die Rolle als Leidtragende von Inflation, Unternehmensgier und Unterdrückung. Als Revolutionäre in den wesentlichen Wirtschaftsbereichen wollen wir den Spieß umdrehen und die soziale Macht und Verantwortung der Arbeiter:innenklasse betonen. Nur aus den weitverzweigten sozialen Beziehungen und dem ökotechnologischen Wissen der Klasse heraus können wir eine Strategie des Bruchs mit - und der materiellen Umwandlung von - der gegenwärtigen Art und Weise, wie wir unser Leben produzieren, entwickeln. Das ist keineswegs allzu weit hergeholten. Eine Minderheit von Aktivist:innen unserer Klasse, zum Beispiel das Fabrikkollektiv des besetzten GKN-Werks  in Florenz, hat wichtige Schritte zur Ausarbeitung einer solchen Strategie unternommen.

Die weltweite Pandemie hat deutlich gezeigt, dass das derzeitige System nicht in der Lage ist, die Krise zu bewältigen, und dass die Arbeiter:innenklasse daher eine soziale Verantwortung trägt. Die herrschenden Kräfte konnten die Pandemie nicht im besten Interesse aller bewältigen, weil die Interessen der Unternehmen und der Staaten auseinandergingen und weil sie nicht in der Lage waren, eine wirksame Koordinierung im segmentierten medizinischen Sektor zu schaffen, der in Hunderte von separaten und unterfinanzierten Laboren, Krankenstationen und kommunalen Kliniken zersplittert ist. Es wäre die Aufgabe der Gesundheitsarbeiter:innen auf internationaler Ebene gewesen, die durch das derzeitige System erzwungene interne Spaltung zu überwinden, eine alternative Strategie zu entwickeln und diese gegen die Interessen von Unternehmen und Staat durchzusetzen. Dies kann weder durch Planung auf dem Papier noch durch Zoom-Treffen geschehen. Einzelne Arbeitnehmer:innen haben nicht die Zeit oder das nötige Wissen, um einen alternativen Plan zu entwickeln, z. B. für den Umgang mit einer Pandemie. Sowohl Zeit als auch Wissen müssen sich neu angeeignet und kollektiv vergesellschaftet werden, als Teil einer Klassenbewegung, die die interne Trennung zwischen intellektuell-wissenschaftlicher, komplex-medizinischer und handwerklich-pflegerischer Arbeit überwindet. Auch dies ist keine weit hergeholte Hoffnung, wie wir an der Entwicklung eines internationalen Zyklus von Kämpfen im Gesundheitssektor in den letzten Jahren sehen können, ausgelöst durch die Pandemie, dem letzten Tropfen, der das Fass zum überlaufen brachte. Einige dieser Kämpfe  brachten Beschäftigte aus verschiedenen Abteilungen und Krankenhäusern zusammen. Das Problem besteht darin, dass diese Kämpfe aufgrund der durch das Arbeitsrecht und divergierende Gewerkschaftsinteressen auferlegten Beschränkungen weder ein ausreichendes Maß an Selbsttätigkeit entwickelten noch die beruflichen Trennungen in Frage stellen konnten. Hier zeigt sich der enge innere Zusammenhang zwischen der Art und Weise, wie wir unsere Kämpfe organisieren, und unserer Fähigkeit, eine politische Vision für eine gesellschaftliche Alternative zu entwickeln. Dennoch bietet uns der internationale Zyklus der Kämpfe die Chance für einen gemeinsamen Lernprozess.

Die Grenzen der aktuellen Kämpfe spiegeln sich auch in der politischen Debatte wider. Die meisten Diskussionen über revolutionäre Strategien innerhalb des breiteren revolutionären Milieus verharren auf einer Ebene der Trennung und Desintegration. Die am meisten verbreitete Trennung wird reproduziert, wenn wir eine rank-and-file-Strategie, die sich immer noch weitgehend auf die gewerkschaftliche Organisation konzentriert, von der politischen Sphäre der Parteipolitik trennen. Hier wird die Sphäre der Produktion auf „wirtschaftliche Fragen“ reduziert, während sich die „Politik“ oft auf die Debatte über globale Momente oder allgemeine Parteiprogramme beschränkt. Mit „Vital Signs“ wollen wir die Repolitisierung der Arbeitssphäre fördern. Warum ist die Arbeit so organisiert, wie sie es ist, und wer oder welche strukturellen Kräfte bestimmen dies? Wie werden Spaltungen zwischen den Arbeitnehmer:innen am Arbeitsplatz und außerhalb der Arbeit reproduziert? Welche sind die strukturellen Kräfte, die die Entwicklung von Wissen und Technologie bestimmen? Wie ist unser Kampf für die Verteidigung unserer Arbeitsbedingungen mit der Frage verbunden, wie wir die Art und Weise, wie wir unser Leben produzieren, verändern können?

Wir sehen „Vital Signs“ als Teil einer Neugründung der Strategie und Organisation der Arbeiter:innenklasse. Der Prozess des Wiederaufbaus einer revolutionären Organisation muss Entwicklungsstufen vorsehen. Es wird in der kommenden Zeit Wellen von Unruhen und Aufständen geben, keine Frage. Diese werden Schulen für unsere Klasse sein, aber ohne die Vergesellschaftung von Produktionswissen und eine Klassenstrategie für die Übernahme von Produktionskapazitäten wird jeder Aufstand auf die Mauer der Militarisierung stoßen. Der Aufbau der Fähigkeit der Arbeiter:innenklasse, den Produktionsapparat zu übernehmen und umzugestalten, ist ein längerer Prozess, der von den Erfahrungen mit genossenschaftlicher Arbeit, Aufständen, Streiks, der Selbstbildung der Arbeiter:innenklasse und der Konfrontation mit der bürgerlichen Legalität geprägt ist. Hier haben die Arbeiter:innen in den wesentlichen Wirtschaftsbereichen eine wichtige Position, sowohl mit Blick auf die Aufstände als auch mit Blick auf die Produktion: Ihre kollektive Reaktion kann die militärischen Möglichkeiten des Staates untergraben und der gesellschaftliche Übergang hängt von ihrem Wissen darüber ab, wie man produziert und die Produktion umwandelt. Für uns ist es wichtig zu wiederholen, dass Krankenhausarbeiter:nnen als Teil der globalen Pharma- und Medizingeräteindustrie, als Teil der Rückkopplungsschleife zwischen medizinischer Wissenschaft und konkreter Anwendung, nicht nur das „soziale Gewissen“, die „pflegenden Hände“ oder die „roten Sanitäter:nnen“ der Arbeiter:nnenklasse sind, sondern komplexe Formen der Arbeit und Koordination repräsentieren, die einer revolutionären Debatte darüber, wie die Gesellschaft insgesamt neu organisiert werden kann, zugute kommen werden. Um die Entwicklung einer pragmatischen Vision der revolutionären Transformation zu erleichtern, müssen wir geduldig sein, bei Null anfangen und unsere geringen Kapazitäten strategisch einsetzen.

Der Ausgangspunkt ist die Tatsache, dass wir als Arbeiter:innen „ökonomisch“ gezwungen sind, unsere unmittelbaren Bedingungen zu verteidigen, aber wir können diese Selbstverteidigung nicht den vorgefertigten „Wirtschaftsorganisationen“ überlassen, die uns das Rechtssystem zur Verfügung stellt. Stattdessen bestehen wir darauf, dass es bereits im Kampf um die unmittelbaren Arbeitsbedingungen ein politisches Element gibt. Wenn wir wollen, dass unsere Kämpfe effektiv sind, müssen wir als Arbeiter:innen lernen, unsere eigenen Stärken und Schwächen zu analysieren. Wir müssen die Arbeitsorganisation und die Art und Weise verstehen, wie sie die Organisation des Kampfes prägt, z.B. wie die verborgene tägliche Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Abteilungen und Berufsgruppen als Verbindungen des Kampfes entdeckt werden können. Wir müssen die rechtlichen und zyklischen Bedingungen des Systems der Bosse und historische Beispiele früherer Kämpfe analysieren, um die Form des Kampfes zu entwickeln, die uns am besten stärken und verbinden. Dieser Prozess der kollektiven Analyse in den Momenten der Auseinandersetzung hat einen politischen Charakter, er ist ein früher Schritt der Entwicklung des Klassenbewusstseins. In enger Verbindung mit diesem Prozess können wir eine umfassendere Kritik an der Gesellschaft, wie sie ist, und eine Vision des Kommunismus von unten aufbauen. Wir können sehen, dass in historischen Situationen, die das Entstehen einer breiteren Klassenbewegung ermöglichen, diese starken und bewussten Zusammenschlüsse von Arbeiter:innen im unmittelbaren Bereich der Ausbeutung zu einer materiellen Kraft werden können, um die Interessen der Arbeiter:innenklasse in der breiteren gesellschaftlichen Sphäre durchzusetzen.

Historisch gesehen sind unsere engsten Vorbilder die politischen Betriebskomitees in Italien in den 1970er Jahren, die versuchten, eine unabhängige Klassenorganisation auf der Grundlage der kollektiven Macht der Arbeiter:innen wieder aufzubauen. Als organisierte Gruppen von Fabrik-, Krankenhaus-, Energie- oder Transport-Arbeiter:innen gelang es ihnen, niedrigere Transportpreise in der Region durchzusetzen, Häuser zu besetzen und Mietobergrenzen zu erkämpfen. Sie drängten die Krankenhausleitung dazu, der lokalen Arbeiter:innenklasse kostenlose Gesundheitsdienste zur Verfügung zu stellen, und eskortierten entlassene kämpferische Kolleg:innen Tag für Tag mit einer Prozession von Hunderten von Kolleg:innen zurück in die Fabrik. Sie griffen die medizinische Elite wegen der Vertuschung von Industrieunfällen wie in Seveso an, organisierten sichere Abtreibungskliniken, stellten Atomkraftprogramme von innen heraus auf den Prüfstand und durchsuchten Unternehmensarchive und faschistische Gruppen, um gegen „blacklisting“ vorzugehen. Als Kommunist:innenen bezeichneten sie diese Aktionen als „Arbeiter-Verfügungen“, als Schöpfung eines proletarischen Rechts im Gegensatz zum bürgerlichen Recht. Sie sahen diese Phase der „Arbeiter-Verfügungen“ als Zwischenschritt zwischen dem alltäglichen Kampf und einer Situation der Doppelherrschaft, in der die Konfrontation mit staatlicher Repression unvermeidlich wird. Im Laufe der Bewegung erkannten die Beteiligten, dass eine Organisation der Klasse ihre Strategien in dieser Zwischenphase zentralisieren musste. Mitte der 70er Jahre erlebten die Genoss:innenen zwei schmerzhafte Niederlagen, die die großen linken Organisationen um sie herum neutralisierten. Erstens die Integration der Italienischen Kommunistischen Partei PCI in die Staatsmacht und die verheerenden Auswirkungen des „historischen Kompromisses“ auf die Militanz der Arbeiter:innenklasse. Die „Partei der Arbeiter:innenklasse“ wurde Teil der kapitalistischen Umstrukturierung. Zweitens der Putsch in Chile 1973, der durch das Zögern und die Entwaffnung militanter Arbeiter:innen durch die Allende-Regierung begünstigt wurde. Beide Ereignisse haben bewiesen, dass für eine Klassenbewegung eine internationalistische und revolutionäre Perspektive eine praktische Notwendigkeit ist, da die kapitalistische Aufstandsbekämpfung entweder versucht, die Organisationen der Arbeiter:innenklasse zu integrieren oder sie auf nationaler Ebene zu isolieren, um sie zu zerschlagen.

Wir wissen, dass wir in einer Zeit von Kampagnen wie „Genug ist genug“ oder Don't Pay weit entfernt von „Arbeiter-Verfügungen“ oder der „Doppelherrschaft“ zu sein scheinen, aber wir glauben, dass, während die objektiven Bedingungen überreif sind – angesichts des Klimawandels, verschiedener drohender Finanz- und Wirtschaftskrisen und einer eindeutigen Tendenz zu immer mehr Kriegen – auch die subjektiven Kräfte der Klasse entstehen. Sie zeigen sich in verstreuten Formen, von der Zunahme der Streikerfahrung im Allgemeinen über Nischendebatten über den revolutionären Übergang und die Arbeitszeitrechnung bis hin zum Wiederauftauchen der „Organisationsdebatte“. Wir denken, dass wir in diesem Moment neue politische Experimente innerhalb der wesentlichen Wirtschaftsbereiche brauchen, die in der Lage sind, diese Debatten zu erden, sie mit der Klassenrealität zu konfrontieren und sie in tatsächliche Kämpfe und neue organisatorische Initiativen einfließen zu lassen. Man kann die Partei des Aufstands nicht aus dem Nichts aufbauen.

Mittelfristig müssen wir eine Situation schaffen, in der wir “Bullshit-Jobs“ in unseren Wirtschaftsbereichen verweigern können - Jobs, die nur Zeit und Ressourcen verschwenden. Selbst in einem Krankenhaus des öffentlichen Sektors schaffen die Aufrechterhaltung der „Marktbeziehungen“, die Reproduktion der bürgerlichen Legalität und der Berufshierarchien eine enorme Menge an gesellschaftlich nutzloser Arbeit - und das, bevor wir überhaupt anfangen, uns mit der Frage zu beschäftigen, warum Menschen überhaupt im Krankenhaus landen. In größerem Umfang müssen wir die bestehenden Belegschaften, vor allem in der Automobilindustrie, gegen Massenentlassungen verteidigen und, wie die GKN-Arbeiter:innen, versuchen, eine ökologische Konversion unter Arbeiter:innenkontrolle durchzusetzen. Ein Programm dieses Kampfes könnte in dem Slogan zusammengefasst werden: Wir alle arbeiten, wir alle arbeiten weniger, wir alle lernen mehr und wir entscheiden, welche Arbeit gerade gesellschaftlich nützlich ist oder nicht. Das sind die Linien für die „Arbeiter-Verfügungen“ des 21. Jahrhunderts.

„Vital Signs“ ist in diesem Sinne ein bescheidenes Experiment, ein Neubeginn. Als kleine Gruppe haben wir aus den Erfahrungen verschiedener Arbeitsbedingungen und aus einer gescheiterten Phase der politischen Expansion gelernt. Ausgehend von verschiedenen kleinen kollektiven Widerstandserfahrungen und Kontakten, die sich in den letzten Jahren in den beiden örtlichen Krankenhäusern entwickelt haben, wollen wir die Zeitschrift und die damit verbundenen Veranstaltungen als ein Forum für die Reflexion über aktuelle Bedingungen, Kämpfe und gesellschaftliche Alternativen anbieten. Die Artikel in der ersten Ausgabe spiegeln den Umfang des Projekts und seine drei Hauptsäulen wider: a) die konkrete Analyse der Arbeitsbedingungen als Bedingungen für den Kampf, die kleine Beispiele des Widerstands und internationale Auseinandersetzungen von Gesundheitsarbeiter:innen einschließt; b) die Untersuchung der Art und Weise, wie medizinisches Wissen geschaffen und gleichzeitig abgesondert wird - als erster Schritt zur Entwicklung einer Gegenwissenschaft der Arbeiter:innenklasse; hier werden wir uns vor allem mit der globalen Pharma- und Implantat-/Geräteindustrie befassen; c) die Debatte über den umfassenderen menschlichen Aspekt und Inhalt der Arbeit, in unserem Fall die Beziehung zu proletarischen Patient:innen und die Krise ihrer community und ihrer geistigen Verfassung. Wir werden versuchen, unsere allgemeinen „kommunistischen Positionen“ zu Krise, Krieg, parlamentarischen Wahnvorstellungen usw. mit dieser Ebene der konkreten Erfahrung zu vermitteln.

Wir hoffen, dass wir aus dem „Vital Signs“-Experiment eine Zusammenarbeit mit anderen Revolutionär:innen in und aus dem Umkreis der wesentlichen Wirtschaftsbereiche entwickeln und eine politische Debatte über Strategien des Bruchs und des Übergangs intensivieren können. Wenn ihr Interesse an einem Austausch oder an der Gründung einer ähnlichen Initiative habt, meldet euch. Wir sind immer dankbar für Berichte und Reportagen über die Kämpfe der Beschäftigten im Gesundheitswesen hier und überall.

Für Solidarität und Kommunismus

Einige AngryWorkers