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Es braucht einen politischen Kampf

Es braucht einen politischen Kampf

12. März 2024

In welchem Verhältnis stehen politischer und ökonomischer Kampf? Brauchen wir eine Partei, um die alte Welt hinter uns zu lassen? Und wenn ja, wäre eine demokratische, verschiedenen Fraktionen Raum bietende Massenpartei wie die deutsche Vorkriegssozialdemokratie vielleicht ein Modell?

Das sind einige der Fragen, die in der nunmehr zweieinhalb Jahre andauernden Debatte über Strategie und Organisation auf Communaut verhandelt werden. Zuletzt hatte Robert Schlosser sich zu Wort gemeldet und unter anderem den britischen Marxisten Mike Macnair scharf kritisiert. Dessen Buch Revolutionary Strategy (2008) steht in gewisser Weise  am Ursprung der Debatte, denn das darin entfaltete Plädoyer für eine demokratische Massenpartei ist inzwischen zum Orientierungspunkt für Initiativen in verschiedenen Ländern geworden und prägt auch den Beitrag »Was tun in Zeiten der Schwäche?« (Katja Wagner/Lukas Egger/Marco Hamann), mit dem die Auseinandersetzung auf Communaut eröffnet wurde.

Macnair ist Mitglied der Communist Party of Great Britain, bei der es sich nicht um die historische britische KP (1920-1991) handelt. Weit entfernt von der angestrebten Massenpartei, pflegt die CPGB doch immerhin den von Macnair propagierten Geist der offenen Debatte, was ihre Wochenzeitung »Weekly Worker« ungleich lesenswerter macht als die üblichen Verlautbarungsorgane linker Sekten.

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In diesem Text befassen wir uns mit den Argumenten von Robert Schlosser in seinem Beitrag »Wider den Fetisch von Partei und politischer Macht«. Ich arbeite mit einer maschinellen Übersetzung des Artikels, da mein Verständnis des Deutschen zu langsam und ungenau ist, um ihn im Original zu lesen. Der punktuelle Abgleich mit dem deutschen Text lässt jedoch vermuten, dass die Übersetzung adäquat ist.

Gegen Ende meines Artikels von letzter Woche zitierte ich Michail Bakunins Kritik des Eisenacher Programms der deutschen Sozialdemokraten von 1869: »Alle deutschen Sozialisten glauben, dass die politische Revolution der sozialen Revolution vorausgehen muss. Das ist ein fataler Irrtum. Denn jede Revolution, die vor einer sozialen Revolution gemacht wird, ist zwangsläufig eine bürgerliche Revolution…«1

Die Einleitung zum Artikel von Schlosser (wobei mir nicht klar ist, ob sie von ihm selbst oder der Redaktion stammt) klingt sehr nach Bakunin: »Dabei geht es insbesondere um das Verhältnis von politischer und ökonomischer Befreiung: Die Überwindung der Lohnarbeit kann nicht stellvertretend von einer politischen Partei bewerkstelligt werden, sondern nur von den Lohnabhängigen selbst, die sich in den Betrieben zusammenschließen müssen.«

Es kann nun sein, dass Bakunin und seine Mitdenker recht hatten und Marx und Engels falschlagen. Oder vielleicht waren auch beide im Unrecht. Um die Frage jedoch ernsthaft zu adressieren, müssen wir uns vergegenwärtigen, dass sie nicht erst von der Massenstreik-Linken der Zweiten Internationale oder von den Rätekommunisten der 1920er Jahre aufgrund neuer Erfahrungen aufgeworfen wurde. Sie spielte vielmehr bereits in den politischen Auseinandersetzungen in der Ersten Internationale von 1868 bis 1872 eine entscheidende Rolle.

Debatte

Der Hintergrund des Artikels von Genosse Schlosser ist eine Debatte auf dem Communaut-Blog, die teilweise auf der Website der Angry Workers ins Englische übersetzt worden ist. Angestoßen wurde sie durch einen Artikel vom 16. Oktober 2021 von Katja Wagner, Lukas Egger und Marco Hamann, mit dem Titel »Was tun in Zeiten der Schwäche?«. Er ist beeinflusst von der Arbeit der Marxist Unity Group2, die für eine Parteigründung auf Basis eines Programms eintritt, und zitiert Donald Parkinson, Parker McQueeney sowie mich als Befürworter eines Minimal-Maximal-Programms.

Die Intervention von Wagner, Egger und Hamann wurde von Fredo Corvo (2. November 2021) als »Rückfall in den Bolschewismus« attackiert. Eine ähnlich irritierte Reaktion kam von Felix Klopotek (»Ungenau und dogmatisch«, 20. November 2021); eine substanziellere Argumentation boten Aaron Eckstein, Ruth Jackson und Stefan Torak in »Keine Mystik in Zeiten der Schwäche« (10. Dezember 2021). Die »Anmerkungen zur Organisations- und Strategiedebatte« (16. Dezember 2021) von Genosse Schlosser verhielten sich dem Ausgangstext gegenüber sowohl ernsthafter als auch positiver.

Die Debatte scheint dort stehen geblieben zu sein, bis Egger und Hamann im Januar 2024 [Anmerkung der Redaktion: Das war im Februar/März 2022, vermutlich bezieht sich Macnair hier auf die Übersetzung der AW] eine lange Antwort auf ihre Kritiker verfassten, die in zwei Teilen auf Communaut veröffentlicht wurde: »Vorwärts und (nicht) vergessen« (Februar 2022) und »Dilemma ohne Ausweg?« (März 2022). Darin greifen sie stärker auf Revolutionary Strategy zurück. Zudem haben die Genossen das Buch ins Deutsche übersetzt; das scheint der Auslöser von Schlossers Kritik zu sein, die auch eine Verschiebung seiner Position vom Dezember 2021 zu einer stärkeren Ablehnung des Parteigedankens beinhaltet.

In gewisser Weise ist dies nicht überraschend. Communaut schreibt in »Über uns«: »Dieser Blog wird von verschiedenen Gruppen und Einzelpersonen betrieben, die sich als antiautoritär-kommunistisch verstehen und gemeinsam für eine klassen- und staatenlose Weltgesellschaft streiten.«3 Die CPGB-Genossen könnten 95 Prozent dessen, was auf diesen Satz folgt, zustimmen. Ich möchte das betonen: Wir haben im Großen und Ganzen die gleichen Ziele.

Aber »Antiautoritarismus« ist gemeinhin eine Chiffre für die Akzeptanz von Bakunins Kritik an Marx‘ Position in Fragen von Partei und politischer Aktion der Arbeiterklasse (oder deutet sogar auf einen Liberalismus hin, wie in manchen von der »Frankfurter Schule« ausgehenden Strömungen, nicht jedoch bei Communaut). Insofern ist es auch wenig überraschend, wenn Eckstein, Jackson und Torak schreiben:

»Eine Verständigung über das Für und Wider des strategischen Vorschlags wird aus zwei Gründen nicht eben einfach. Erstens: aufgrund des provokanten Duktus. Einer antiautoritären Bande von Communaut:innen die These vor den Latz zu knallen, proletarische Selbstbefreiung sei unweigerlich mit der Form der Partei verbunden, ist – einmal abgesehen davon, dass die Begründung nicht überzeugt – wenig diplomatisch.«4

Wenn die Communaut-Genossen sich nicht auf Argumente von Pro-Partei-Marxisten einlassen wollen oder sie für »wenig diplomatisch« halten, sollten sie in ihrer Selbstdarstellung ihre Ablehnung der Parteiform (oder auch nur von Wahlen) genauer ausführen, anstatt es bei dem bloßen Codewort »antiautoritär« zu belassen.

Tatsächlich zeigen die Reaktionen auf Wagner, Egger und Hamann, dass ihre Kritiker unterschiedliche Ansichten über die »Parteifrage« haben. Fredo Corvo bevorzugt den Ansatz der KAPD der 1920er Jahre, steht also für eine Partei, wenn auch eine der »fortgeschrittenen Minderheit«, die das Minimalprogramm zurückweist. Felix Klopotek dagegen lehnt alle Formen von Parteien ab. Eckstein, Jackson und Torak scheinen dieselbe Auffassung zu vertreten wie Klopotek, aber ihre Argumentation ist weniger klar. Schlosser wiederum argumentiert in seinen »Anmerkungen« vom Dezember 2021, dass der Aufbau einer Partei aufgrund des niedrigen Niveaus des Klassenkampfes gegenwärtig nicht auf der Tagesordnung stehe, teilt die Kritik von Wagner, Egger und Hamann am Spontaneismus jedoch zu großen Teilen und kritisiert dafür auch Klopotek.

Einwände

Schlosser beginnt seinen aktuellen Text mit dem Einwand, dass die Form der SPD vor 1914 und der Bolschewiki, wenn auch auf unterschiedliche Weisen, zu einem »entscheidenden Hemmschuh für die ökonomische Befreiung« geworden seien. Weiter schreibt er: »Diese Praxis resultierte aus einem theoretischen Verständnis des Verhältnisses von ökonomischem und politischem Kampf, das die Bedeutung des politischen Kampfes, der politischen Parteiorganisation und der Machteroberung durch diese Partei überbetonte.«

Dem setzt er entgegen, dass die Arbeiterklasse einem »materialistischen Verständnis« zufolge zuerst für die materielle Verbesserung ihres Lebens kämpfe und sich eine unabhängige Bewegung der Klasse nur auf dieser Grundlage entwickeln könne. Dies ist nun wiederum eine allgemein verbreitete Auffassung in der radikalen Linken, einschließlich der »offiziellen Kommunisten« und Maoisten (der »ML-Bewegung«, der Schlosser in seiner Jugend angehörte) sowie der Anhänger Cliffs und Mandels etc.

Schlosser kritisiert ein Interview mit Alexander Gallus, in dem dieser für Einheit auf Basis eines Minimal-Maximal-Programms eintritt, mit dem Argument, dass die theoretischen Unterschiede innerhalb der Linken zu groß seien, um eine solche Einheit zu erlauben. Die Einheit der SPD vor 1914 habe nicht auf deren Programm, sondern auf der theoretischen Vorherrschaft der orthodoxen Marxisten beruht. Die Spaltung von 1914 war die »notwendige Konsequenz aus einem Reformismus, der im Krieg zu unverhohlenem Nationalismus und nach dem Krieg, in der Revolution, zur Konterrevolution wurde«. Und: »Dies alles geschah auf dem Boden des vielgerühmten Erfurter Programms.«

Im Gegensatz zur heutigen Linken sieht er in der SPD eine wirkliche Klassenbewegung in Verbindung mit der damals modernen Theorie von Marx‘ Kapital am Werk. Die heutige Linke jedoch habe keine Basis in der Klasse. Was folgt, sind Kritiken der Argumente im Kapital nach Vorbild Bernsteins und der Eurokommunisten.

Der zweite Abschnitt ist überschrieben mit »Die ökonomische Befreiung als Zweck einer klassenkämpferischen Arbeiterbewegung und programmatisch fixiertes Ziel«. Er setzt ein mit den Bestimmungen des Bürgerlichen Gesetzbuches und der Gewerbeordnung über die Weisungsbefugnis des Arbeitgebers. Er argumentiert, dass diese Frage – »die spezifische Art der weisungsgebundenen, fremdbestimmten Arbeit in persönlicher Abhängigkeit« – im Erfurter Programm nicht angesprochen wird. Marx und Engels hätten sich sehr positiv über Arbeitergenossenschaften geäußert; anders Kautsky, der sich in Der Klassenkampf (der Einleitung zum Erfurter Programm von 1892) nicht zu diesem Thema äußerte und in Die soziale Revolution (1902) argumentierte, dass Genossenschaften keine revolutionäre Rolle spielen könnten.5 Damit stellt Schlosser sich implizit auf den Standpunkt der Arbeiterkontrolle, wie er in der »Neuen Linken« üblich war und auch Teile der radikalen Linken in den 1960er Jahren infizierte.

Er sagt zu Recht: »Wie die Geschichte lehrt, scheitert die ökonomische Befreiung auf Basis genossenschaftlicher Produktion, wenn diese nicht verallgemeinert ist und nicht die Gesamtheit der Genossenschaften sich zu einem Ganzen organisiert, um die gesellschaftliche Produktion nach einem gemeinsamen Plan zu regeln.« Aber er thematisiert in diesem Zusammenhang nicht das Problem des Übergangs und der Fortexistenz –  sowohl in der Gegenwart, als auch bei jeglichem Übergang, in dem das Kapital seine Macht verliert – der Klasse der Kleineigentümer (Kleinunternehmer, Bauern, Besitzer geistigem Eigentums an bestimmten Fähigkeiten und Informationen). Zudem argumentiert er, ohne dafür irgendeinen Beleg jenseits des Schicksals der bolschewistischen Revolution zu liefern: »Nichts befähigt eine politische Partei oder staatliche Organe zu einer alternativen, von Herrschaft befreiten Organisation von Produktion.«

Der dritte Abschnitt befasst sich mit meiner Argumentation in Revolutionary Strategy über die Frage der demokratischen Republik. Es handelt sich um eine weitgehend negative Kritik, die dem Buch vorwirft, dass es keine strategische Linie vorschlägt, die sich auf die Fragen der Arbeiterkontrolle konzentriert: »Für die Lohnarbeiter:innen bleibt das Recht zu wählen, abzuwählen und, man höre und staune, das Recht, Waffen zu tragen!« Schlosser kritisiert, dass »Abstimmungen in Vollversammlungen an den verschiedenen Standorten der gesellschaftlichen Produktion, Plebiszite auf gesellschaftlicher Ebene usw. in dieser demokratischen Republik keine Rolle spielen«.

Wie bei den diversen trotzkistischen Kritikern des Buches werden auch hier die expliziten Verweise auf den Programmentwurf der CPGB ignoriert. Insbesondere die Abschnitte 3.9 (zu den Schranken der Gewerkschaften und  Notwendigkeit, sich in den Betrieben über sie hinaus zu organisieren), 3.10 (über Aktionsräte) und 4.3 (über die ökonomischen Maßnahmen unter der Herrschaft der Arbeiter) bleiben unbeachtet.6

Das zweite Argument in diesem Abschnitt ist der bekannte trotzkistische Einwand gegen eine »Stufentheorie«, die durch den gesellschaftlichen Charakter der russischen und deutschen Revolutionen widerlegt worden sei. Dieses Argument habe ich in meinem vorigen Artikel bereits behandelt.7 Schließlich schreibt Genosse Schlosser: »Die demokratische Republik ist heute die in entwickelten kapitalistischen Gesellschaften dominierende Form der politischen Herrschaft der besitzenden Klassen. Es handelt sich dabei sicher nicht um Republiken, in der die demokratischen Prinzipien der Pariser Kommune verwirklicht wären. Die Demokratie aber ist so gestaltet, dass sich die Klassenkämpfe ziemlich frei entfalten könnten«.

Diese Behauptung kann er nur treffen, da er die intensive, eingehende Regulation des Klassenkampfes durch den kapitalistischen Staat als »Normalität« verinnerlicht hat: gerichtliche Kontrolle von Streiks, Vorschriften für die Registrierung politischer Parteien und andere antidemokratische Instrumente, polizeiliche Genehmigungspflichten für öffentliche Versammlungen usw. Der Klassenkampf wird zwar nicht mit brutaler Gewalt unterdrückt, aber seine freie Entfaltung wird sehr wohl verhindert. Wenn die Linke sich nicht gegen diese Verfassung stellt, fällt die Oppositionsrolle gegen das staatliche Kontrollregime der extremen Rechten in die Hände. Dass selbst die politischen Nachfahren der KAPD das Regime der staatlichen Kontrolle so weit verinnerlicht haben, dass sie sich einbilden, die herrschende Plutokratie sei »demokratisch« und die „Demokratie (…) so gestaltet, dass sich die Klassenkämpfe ziemlich frei entfalten könnten«, ist bemerkenswert.

Schlosser zitiert Revolutionary Strategy mit dem Aufruf für eine Strategie der Geduld: »Die Linke muss (…) die endlose Reihe fehlgeschlagener schneller Lösungen abbrechen, die das 20. Jahrhundert ausmachte. Sie benötigt eine Strategie der Geduld, ähnlich der Kautskys: aber eine, die internationalistisch und radikaldemokratisch ist, nicht eine, die die bestehende Ordnung der Nationalstaaten akzeptiert.«

Programmentwurf

Auch hier lautet sein unmittelbarer Einwand, dass Forderungen nach sozialen und wirtschaftlichen Reformen in meiner Argumentation keine Rolle spielen würden; und auch hier muss ich ihn auf den Programmentwurf der CPGB verweisen, der reichlich Material zu diesem Thema enthält. Weiter sagt er, dass Kautskys politische Version von Hans Delbrücks Ermattungsstrategie scheiterte und in Deutschland und Russland die Monarchien in einer von Delbrück sogenannten Niederwerfung oder, wie Schlosser es ausdrückt, einer »schnellen Lösung« gestürzt worden seien.

Er fährt fort: »Dass jemand, der sich als Revolutionär versteht, aber überhaupt aus der Geduld einen solchen Fetisch baut, dass er darauf gleich eine ganze Strategie gründen will, ist schon erstaunlich. Schließlich hätte es ohne die Ungeduld von Lohnabhängigen überhaupt keine Arbeiterbewegung gegeben.« Beim ersten Lesen habe ich mich gefragt, ob es sich hier um ein Übersetzungsproblem handelt, so wie bei Daniel Bensaïds Titel Une lente impatience, der mit An impatient life ins Englische übersetzt wurde (das Problem besteht darin, dass impatience im Französischen und im Englischen unterschiedliche Bedeutungen hat).8 Aber das deutsche Wort »Geduld« hat dieselbe Bandbreite an Bedeutungen wie das englische »patience«, es bezeichnet also auch Ausdauer bei einer langwierigen Aufgabe und nicht nur ein Hinnehmen der Dinge, wie sie nun einmal sind. Es ist dieser Sinn der Beharrlichkeit bei einer längeren Aufgabe trotz fehlender unmittelbarer Erfolge, den ich mit einer »Strategie der Geduld« meine.9

Auf den ersten Blick erschien es mir also, dass Genosse Schlosser hier lediglich Wortklauberei betreibt. Aber das ist nicht der Fall. Vielmehr schreibt er, dass »der geduldige Weg über Wahlen, Tarifverhandlungen von Gewerkschaften, über die Gerichte usw., der ungeduldige immer über Sozialpartnerschaft verweigernde Widerstandsaktionen bis hin zum Massenstreik« führe.

Als meine ehemalige Lebensgefährtin in den 1970er und 1980er Jahren gewerkschaftlich aktiv war, erlebte sie, wie die von Tony Cliff geprägte Socialist Workers Party sowohl in den Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes wie auch später in der Lehrergewerkschaft gegen offizielle gewerkschaftliche Aktionen wetterte, mit der Begründung, Aktionen von unten seien notwendig, um die Mobilisierung der Basis zu fördern. Das ist der Kern der Argumentation von Genosse Schlosser. Dieser Ansatz ist gelegentlich nützlich – etwa, wenn die Leute etwas tun wollen, die Funktionäre sich jedoch dagegen stellen –, meistens aber nur demoralisierend und demobilisierend.

Autorität

Danach geht Schlosser auf das Problem der Autorität ein. Ich vertrete die Auffassung, dass manche Entscheidungen auf nationaler (oder auch kontinentaler oder globaler) Ebene getroffen werden müssen. Ich habe ausdrücklich gegen Paul Cockshott argumentiert, dass die Methode der Plebiszite (die Genosse Schlosser unterstützt – siehe oben) abzulehnen ist. Dies mit der Begründung, dass die derzeitige Anwendung von Plebisziten offensichtlich antidemokratisch ist (Louis Bonaparte, Hitler, Khomeini, Brexit usw.) und eine nicht antidemokratische Variante dazu führen würde, dass jeder Einzelne in den Millionen von Plebisziten, die tagtäglich anstünden, ersticken würde.10 Daher sind gewählte oder geloste Gremien unerlässlich, um die Bandbreite möglicher Entscheidungen zu filtern.11 In diesem Zusammenhang ist meine Argumentation zu sehen, dass eine Regierung zwar notwendig ist, die sowjetische Verfassung aber keine wirksame Kontrolle des Rats der Volkskommissare ermöglichte, weil der oberste Sowjet kein ständig tagendes Organ war.

Genosse Schlosser behauptet das Gegenteil: Die Sowjetmacht habe keine Zeit gehabt, sich zu entwickeln, denn: »Ihr Schicksal wurde besiegelt in blutiger Unterdrückung oder der Dominanz und der Regierungsübernahme durch eine einzelne politische Partei, die Bolschewiki, die sich daran machte, einen Staatssozialismus in einem Land aufzubauen. Der Kronstädter Aufstand als ein Versuch, die Räte als alternatives Zentrum der Autorität gegenüber der bolschewistischen Partei zu verteidigen, wurde ebenfalls blutig niedergeschlagen.«

Das ist schlicht die Kalte-Kriegs-Erzählung (wie die historischen Aspekte seiner Argumentation im Allgemeinen): Für das Scheitern der Revolution werden die bösen Absichten der Bolschewiki verantwortlich gemacht. Diese Erzählung unterschätzt fundamental die Schwierigkeiten, mit denen die Revolutionäre (nicht nur die Bolschewiki) im ehemaligen Zarenreich von 1918 bis 1922 konfrontiert waren. Dabei wird unterschlagen, dass Hindenburg und Ludendorff einen Friedensschluss mit dem Sowjetregime verhinderten und die Entente-Mächte ab August 1917 einen Krieg gegen die Sowjets führten.

Und gerade aufgrund dieses Einschlags verwischt diese Erzählung dann wiederum die Verantwortung der Bolschewiki und der Komintern nicht etwa für die Entscheidungen, die sie unter unglaublich schwierigen Umständen getroffen haben, sondern dafür, dass sie sie in der Theorie zu allgemeinen Prinzipien erklärten – ein Vorgehen, das auf lange Sicht für die internationale Arbeiterbewegung eine Katastrophe war.12

Abschließend thematisiert Schlosser in diesem Abschnitt den Niedergang der Massenparteien im 20. und frühen 21. Jahrhundert (ein Argument, das wohlgemerkt auch von akademischen Politikwissenschaftlern in den 1950er und 1960er Jahren vorgebracht wurde) und führt Marx‘ Bürgerkrieg in Frankreich als ein vermeintliches Plädoyer für die sofortige Abschaffung des Staates (im Gegensatz zu seinem »Absterben«) und der Klassen ins Feld: »Die Räte waren jeweils Organisationen einer spontanen revolutionären Massenbewegung« (was die Rolle der Menschewiki bei ihrer Förderung, sowohl im Frühjahr 1905 als auch im Frühjahr 1917, ignoriert). Weiter heißt es:

»Die betriebliche und gesellschaftliche Autorität der Räte war weniger Ausdruck der  Herrschaft der Arbeiterklasse‚ als Ausdruck der Bestrebung nach Beseitigung jeder Klassenherrschaft. Speziell die betrieblichen Räte zielen auf Produktionsverhältnisse ohne Kommando über und Aneignung von fremder Arbeit, ohne Ausbeutung. Sind diese Produktionsverhältnisse verallgemeinert, so wie heute Warenproduktion und Lohnarbeit, dann existiert auch keine Arbeiterklasse mehr! Es ist dann auch unsinnig von Führung ›der Gesellschaft als Ganzes‹ durch die Arbeiterklasse zu sprechen, wie Macnair das im Rahmen seiner Vision einer demokratischen Republik tut.«

Auch wenn Schlosser Der Bürgerkrieg in Frankreich anführt, handelt es sich hier eindeutig um eine Kritik im Geiste Bakunins. Und es sollte vollkommen klar sein, dass sie logisch die Ablehnung jeglicher Übergangsperiode enthält und letztlich auf eine Zwangskollektivierung des kleinen Eigentums hinausläuft. Wäre eine solche Politik mehrheitsfähig, würde sie direkt in das Chaos des »Kriegskommunismus« (1918–1921) oder des »Jahr Null« in Kambodscha führen.

In der Realität hat eine solche Politik jedoch keinerlei Aussicht darauf, auch nur ansatzweise eine massenhafte Unterstützung zu gewinnen. Die Argumente des Genossen Schlosser gründen eins zu eins auf den links- und rätekommunistischen Einschätzungen der Ereignisse von 1914 bis 1923. Im letzten Jahrhundert hat es zahllose Versuche gegeben, diese Politik in die Tat umzusetzen; keiner von ihnen mehr hervorgebracht als ein gelegentliches Spektakel à la Occupy und kleine Zirkel. Zugegeben: Es hat überhaupt keine politische Linie der Linken »gewonnen«. Einige sind dem Erfolg aber nähergekommen als andere.

Spontaneität

In Revolutionary Strategy habe ich geschrieben, dass es im Kapitalismus »eine objektive Dynamik der Arbeiterklasse gibt, sich selbst permanente Organisationen zur Verteidigung ihres unmittelbaren Interesses zu schaffen – Gewerkschaften und so weiter«. Schlosser kritisiert dies: »Sofern Lohnarbeiter:innen sich permanente Organisationen zur Verteidigung ihres unmittelbaren Interesses schaffen (Gewerkschaften und so weiter), ist das bereits eine subjektive Reaktion auf die objektive Dynamik. Und diese subjektive Reaktion hängt neben bereits vorhandenem Klassenbewusstsein wesentlich ab von spontan wachsender Empörung über Arbeits- und Lebensumstände.«

Wahrscheinlich handelt es sich hier um ein philosophisches Problem, was als »objektiv« und »subjektiv« gelten kann, und ich will das hier nicht weiterverfolgen.13 Es geht aber auch um grundlegende Fragen der Geschichte.

Schlosser argumentiert, dass es einen radikalen Rückgang des gewerkschaftlichen Organisationsgrades in Europa gebe, was gegen die von mir behauptete objektive Dynamik spreche. Auch hierbei handelt es sich um eine der eurokommunistischen Floskeln, die ihren Ursprung in der Auflösung des amerikanisch geförderten Nachkriegskorporatismus in den Frontstaaten Europas hat, der den »Westen« als attraktivere Alternative zum Sowjetregime erscheinen lassen sollte. Blickt man jedoch auf die Zeit davor, trifft die Bestimmung aus dem Übergangsprogramm Trotzkis von 1938 vollkommen zu:

»Die Gewerkschaften, selbst die mächtigsten, umfassen nicht mehr als 20 bis 25 Prozent der Arbeiterklasse und im Übrigen nur ihre qualifiziertesten, bestbezahlten Schichten. Die am meisten unterdrückte Mehrheit der Arbeiterklasse wird nur episodisch in den Kampf hineingezogen, in den Perioden eines außergewöhnlichen Aufschwungs der Arbeiterbewegung. Denn muß man darangehen, ad hoc – der Notwendigkeit des Augenblicks entsprechende – Organisationen zu schaffen, die die gesamte Masse im Kampf umfassen: die Streikausschüsse, die Fabrikkomitees und schließlich die Sowjets14

Genosse Schlosser führt nun Die Lage der arbeitenden Klasse in England von 1845 an, um die Häufigkeit von Streiks zu erklären: »Diese spontanen Kämpfe waren Grundlage für die Entstehung von Trade Unions und der Chartistenbewegung in England«. Der Chartismus war jedoch im Kern eine politische Bewegung. Die sechs Forderungen der Charta von 1838 waren das allgemeine Wahlrecht für Männer, die geheime Abstimmung, jährliche Parlamentswahlen, gleich große Wahlkreise, die Entlohnung der Abgeordneten und die Abschaffung der Eigentumsanforderung für Abgeordnete. Diese politische Bewegung übernahm Ideen aus dem Radikalismus des frühen 19. Jahrhunderts. Sie bildete die Grundlage für den Gedanken der politischen Forderungen der »Partei Marx-Engels«, die von den Proudhonisten und später von den Bakuninisten attackiert wurden. Sie entstand nach der Niederlage einer Welle von Streiks, aber als sie in den frühen 1840er Jahren zu einer Massenbewegung wurde, stimulierte sie auch Streiks und die gewerkschaftliche Organisierung.

Die Gewerkschaften sind viel älter. Sie wurden in England bereits durch den Confederacies of Masons Act 1425 für Bauarbeiter kriminalisiert, oder nach »Gewohnheitsrecht« durch die Verfolgung von Schneidergesellen in Cambridge im Jahr 1721 wegen »Verschwörung zur Lohnerhöhung«.

Die real existierenden, dauerhaften Massenorganisationen der Arbeiterklasse wurden von der Kapitalistenklasse vereinnahmt, in erster Linie durch umfangreiche staatliche Intervention – mit Zuckerbrot und Peitsche. So bedauerlich das ist, ändert es nichts an der Tatsache, dass die Klassenbewegung ein Wechselspiel zwischen den ständigen Organisationen einerseits und den spontanen Massenbewegungen andererseits ist. Die Massenbewegungen brauchen nicht nur Wut, sondern auch Hoffnung, und diese Hoffnung wird durch den Glauben an die Möglichkeit einer besseren Welt genährt. Dieser Glaube wiederum hängt von der Fähigkeit ab, sich über den momentanen Streikkampf hinaus zu organisieren – und sei es nur, um eine Gegenöffentlichkeit zu den bestechlichen (werbefinanzierten) kapitalistischen Medien zu produzieren.

Im letzten Abschnitt erklärt Schlosser, dass er kein »grundsätzlicher Gegner der politischen Organisation von Kommunist:innen« ist, in Ermangelung spontaner Massenbewegungen aber derzeit nur theoretische Arbeit möglich sei. Tatsächlich fasst er dann »einige Kernpunkte eines kommunistischen Programms heute« zusammen. Diese Punkte wären für die Konzeption des Übergangs zum Kommunismus von gewissem Interesse – wenn zuvor die kapitalistische Staatsmacht zerstört worden wäre. Ohne diese Bedingung sind die Punkte des Genossen Schlosser jedoch nicht mehr als eine Wiederholung der Deklaration der Kommune von Lyon von 1870, wonach »der Verwaltungs- und Regierungsapparat des Staates, der machtlos geworden ist, abgeschafft ist« (der französische Staat schaffte diese Kommune dann binnen weniger Tage ab).

Fetisch

Der Beitrag von Schlosser trägt den Titel »Wider den Fetisch von Partei und politischer Macht«. In Wirklichkeit ist das Gegenteil der Fall. Die CPGB und ich als Einzelperson unterstützen spontane Streikbewegungen. Wir befürworten die Selbstorganisation an der Basis und lehnen bürokratisch-zentralistische Kontrolle ab. In unserem Programmentwurf argumentieren wir:

»Bei jedem entscheidenden Zusammenstoß von Klasse gegen Klasse entstehen neue Organisationsformen, die höher, allgemeiner und flexibler sind als die Gewerkschaften. In Russland wurden sie Sowjets genannt, in Deutschland Räte, in Großbritannien Councils of Action. Solche Organisationen, die alle Kämpfenden umfassen und koordinieren, haben das Potenzial, zu Institutionen im zukünftigen Arbeiterstaat zu werden. Kommunisten unterstützen jede derartige Entwicklung.«

Wir fetischisieren weder die Partei noch die politische Macht. Wir erkennen lediglich an, dass die Parteiarbeit (die etwas anderes ist als theoretische Zirkel) sowie die Beschäftigung mit Fragen der Verfassungsordnung und der großen Politik ein Element der Arbeiterbewegung ist – neben Gewerkschaften, Genossenschaften usw. –, das in der heutigen Praxis der Linken fehlt und entwickelt werden muss.

Genosse Schlosser hingegen fetischisiert tatsächlich: Er fetischisiert die Nichteinmischung der Kommunisten in die große Politik und den rein wirtschaftlichen Aspekt des Klassenkampfes. Dieser Fetischismus zeigt sich in seinem Unvermögen, die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass es andere Erklärungen für das Scheitern der Revolutionen von 1917 bis 1920 geben könnte als den schädlichen Einfluss des Parteigedankens, oder irgendeine Erklärung für das anhaltende Scheitern der »antiparlamentarischen linken« Politik anzubieten – nicht nur in der heutigen Zeit, sondern auch unter Bedingungen einer starken Vorwärtsbewegung der Massen, wie in den späten 1960er und 1970er Jahren. Er zeigt sich auch darin, dass seine Argumente für die ausschließliche Bedeutung von spontanen Bewegungen ganz offensichtlich konstruiert sind, wie oben gezeigt.

Genossenschaften – wenn sie nicht einfach Formen der »formellen Subsumtion der Arbeit unter das Kapital« sein sollen, die von ihren Materiallieferanten und Produktionsabnehmern kontrolliert werden – brauchen die politische Unterstützung einer Partei, die die kapitalistische Ordnung als Ganzes angreift und die Idee der kommunistischen Alternative fördert. Das Gleiche gilt für Streiks und Fabrikbesetzungen, die durch gerichtliche Maßnahmen niedergeschlagen oder durch Medienoperationen isoliert werden können, wenn es keine illoyalen – also kommunistischen – alternativen Medien gibt.

Es geht nicht darum, dass die Partei die Gesamtheit der Bewegung ist. Es geht darum, dass wir eine Partei brauchen, die wir derzeit nicht haben. Und dass durch theoretische Übereinstimmung definierte Grüppchen (wofür Genosse Schlosser eintritt) diese Aufgabe nicht erfüllen können.