Die zionistische Verirrung: der Fall Benny Morris

30. August 2025

Die Intellektuellen seien „die Blockflöten der Macht“, meinte Foucault mal, und besonders schrille Töne entfahren ihnen immer dann, wenn diese Macht außer Rand und Band gerät und doch gerechtfertigt sein will. Eindrucksvolles Anschauungsmaterial dafür bot vor einigen Wochen ein Gespräch über den Gaza-Krieg, das Tania Martini für die Frankfurter Allgemeine Zeitung mit dem israelischen Historiker Benny Morris führte. Morris gehört zu den „Neuen Historikern“, die ab den 1980er Jahren die offizielle Geschichtsschreibung in Israel demontierten, übernahm dann unter dem Eindruck der palästinensischen Terroranschläge während der Zweiten Intifada etliche Positionen der nationalistischen Rechten, wobei er sich dessen ungeachtet offenbar bis heute als ein Linker versteht.

Welchen Realitätsverlust sein Bemühen offenbart, die israelische Kriegsführung in Gaza als Terrorbekämpfung zu rechtfertigen, zeigt die folgende Polemik von Ivan Segré, nach eigenem Bekunden ein „Talmudist und Philosoph“, der in Frankreich und Israel lebt.

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In einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung äußerte sich kürzlich Benny Morris über die israelische Militäroperation im Iran (der Text erschien am Tag vor der US-Intervention), den Krieg in Gaza, einige Aspekte der Geschichte Palästinas von 1930 bis 1948 und über den Stand des israelisch-palästinensischen Konflikts. Nachdem ich kürzlich in Lundi Matin den antizionistischen Wahnsinn von Andreas Malm analysiert habe1, möchte ich hier den zionistischen Wahnsinn von Benny Morris analysieren. So wird der spiegelbildliche Irrwitz von Zionismus und Antizionismus zumindest grob skizziert, auch wenn dabei kein klinisches Gesamtbild entsteht.

Morris‘ Wahnsinn – verstanden als die „psychische Störung einer Person, die den Bezug zur Realität verloren hat, weil sie Dinge wahrnimmt und behauptet, die ungeachtet ihrer inneren Kohärenz nicht mit der Realität oder der Evidenz übereinstimmen“ – zeigt sich nicht während des gesamten Interviews. Gerade das macht das Gespräch aufschlussreich, insofern der Tonfall des Interviewten immer derselbe bleibt, ganz gleich, ob er vernünftige, teils sogar scharfsinnige, oder aber irrwitzige Aussagen trifft. Die wirklich wahnhaften Passagen beginnen erst nach einer Frage zu Gaza: „Begeht Israel in Gaza einen Genozid?“ Da gerät der israelische Historiker ins Schwanken:

Ich bin kein Genozidforscher, aber ich habe zusammen mit Dror Ze’evi ein Buch über den türkischen Völkermord an den Armeniern, Griechen und Syrern zwischen 1894 und 1924 geschrieben. Ich weiß, wie ein Genozid aussieht. Ein Genozid muss vom Staat organisiert, systematisch und zielgerichtet sein. Und es muss die Absicht geben, ein Volk tatsächlich zu vernichten. Beides gibt es in Bezug auf die Palästinenser nicht – außer bei ein paar israelischen Ministern. Die israelischen Luftangriffe zielen auf Hamas-Kämpfer ab. Man weiß, dass sie sich unter zivilen Einrichtungen verstecken, weshalb auch andere Menschen getötet werden – was nach internationalem Recht sogar erlaubt ist. Es stellt sich dann aber die Frage der Verhältnismäßigkeit.

Je nachdem, wie man den Begriff „Genozid“ definiert und mit welchen historischen Beispielen man ihn untermauert, kann man tatsächlich zu dem Urteil kommen, dass er mit Blick auf das, was der israelische Staat in Gaza „begeht“, missbräuchlich verwendet wird. Für Morris müssen zwei Bedingungen erfüllt sein, um von einem Genozid sprechen zu können: Erstens muss dabei ein „Staat organisiert, systematisch und zielgerichtet“ vorgehen, und es muss zweitens „die Absicht geben, ein Volk tatsächlich zu vernichten”. Beide Bedingungen seien in diesem Fall jedoch nicht erfüllt, „außer bei ein paar israelischen Ministern“. Morris räumt somit ein, dass „ein paar israelische Minister“ bereit sind, die Vernichtung der palästinensischen Bevölkerung in Gaza zu organisieren.

Hier zeigt sich das erste Symptom des Wahns, allerdings nicht deshalb, weil eine solche Behauptung wahnsinnig wäre – in der Tat befürworten einige „Minister“ mehr oder weniger unverhohlen einen Genozid –, sondern weil nach einer solchen Feststellung der Tenor des Interviews nicht mehr stimmt: Ganz ungerührt hat der Historiker bestätigt, dass Völkermörder „Minister“ des Staates Israel sein können. Das hätte ihn zumindest dazu veranlassen müssen, Stellung zu beziehen. Aber weit gefehlt: Er erwähnt es nur beiläufig und hält sich nicht länger damit auf. Welche Pathologie in der scheinbaren Gelassenheit der Aussage steckt, wird im nächsten Satz deutlich: „Die israelischen Luftangriffe zielen auf Hamas-Kämpfer ab. Man weiß, dass sie sich unter zivilen Einrichtungen verstecken, weshalb auch andere Menschen getötet werden – was nach internationalem Recht sogar erlaubt ist.“ Seit Oktober 2023 führt die israelische Armee einen massiven Vernichtungsfeldzug gegen den gesamten Gazastreifen durch und reduziert damit die Existenz von mehr als zwei Millionen Menschen auf einen tagtäglichen Kampf ums Überleben. Morris beeindruckt das nicht weiter; er versichert, dies sei „nach internationalem Recht sogar erlaubt“. Man könnte meinen, dem Sprecher der israelischen Armee zu lauschen. Hier spricht nicht länger ein Historiker, sondern ein Beamter im Dienste des Militärs. Morris ist nicht mehr Herr seiner Worte, und insofern befindet er sich im Zustand des Wahns. Offenkundig verblüfft von seiner Auslegung des internationalen Rechts bemerkt die Journalistin: „Es ist fast nichts übrig von Gaza.“ Morris muss geglaubt haben, er spreche mit einem israelischen Journalisten, der genauso kooptiert worden ist wie er selbst. Zwar unterstützt Deutschland alles, was der israelische Staat zur Sicherung seiner Existenz für notwendig hält, doch eine deutsche Journalistin ist trotzdem halbwegs informiert darüber, was in Gaza geschieht. Morris muss also wieder zur Besinnung kommen, so weit ihm das möglich ist. Und so erwidert er auf ihren Einwand:

Es gibt 2,3 Millionen Palästinenser in Gaza, zwei Drittel der Gebäude sind entweder ganz oder teilweise zerstört, aber die Menschen leben in Zeltstädten und inmitten der Ruinen – sie zu töten, ist nicht der Sinn der israelischen Angriffe. Die Bilder zeigen nie Hamas-Kämpfer, sondern fast immer nur Frauen und Kinder, was ein bisschen seltsam ist, weil Israel etwa 20.000 Hamas-Kämpfer getötet hat. Man sieht auch nie Hamas-Kämpfer mit Waffen, die israelische Soldaten töten. Man sieht sie einfach nie. Und kaum noch erwähnt wird, dass die Hamas am 7. Oktober 2023 Israel angegriffen hat, 1200 Israelis, die meisten von ihnen Zivilisten, getötet und weitere 250 entführt hat.

Von welchen „Bildern“, die „nie Hamas-Kämpfer“ zeigen, spricht der Historiker hier? Wenn es „2,3 Millionen Palästinenser in Gaza“ gibt, die „inmitten der Ruinen“ überleben, ist es nur logisch, dass die „Bilder“ aus Gaza überwiegend Zivilist:innen zeigen und nicht „Hamas-Kämpfer“, die sich verstecken und zumindest im Verhältnis zu diesen 2,3 Millionen zahlenmäßig nicht besonders ins Gewicht fallen dürften. Dennoch versichert Morris – und das ist für ihn der entscheidende Punkt –, dass die Tötung von Zivilist:innen „nicht der Sinn der israelischen Angriffe“ sei. Und eben deshalb handele es sich nicht um einen „Genozid“.

Aber auf welche Quellen stützt sich seine Behauptung, dass „Israel etwa 20.000 Hamas-Kämpfer getötet hat“? Da das Gesundheitsministerium in Gaza in seinen Angaben über die Opferzahlen nichts über die Zugehörigkeit zur Hamas sagt und es außer Schätzungen der israelischen Regierung keine Quelle für die Zahl von „20.000 Hamas-Kämpfern“ gibt, verbreitet der Historiker auch hier bloß staatliche Propaganda. Sie ist offenkundig irrwitzig, denn sie beruht auf einer Methodik, die selbst ein Schulkind nicht akzeptieren würde, sofern es nicht ideologisch zugerichtet wäre: Da sich die Zahl der Opfer der „israelischen Angriffe“ auf über 55.000 Tote (und rund 120.000 Verwundete) beläuft, entsprechen die „20.000 Hamas-Kämpfer“ grob den getöteten Männern im Alter von 13 bis 65 Jahren. Im Juni 2025 bezifferte UN Women die Zahl der Frauen und Mädchen unter den Todesopfern auf 28.000 und Haaretz (Online-Ausgabe vom 26. Juni 2025) die der palästinensischen Minderjährigen auf 17.000 (darunter 12.000 Kinder unter 13 Jahren). Mit anderen Worten: Teilt man 55.000 durch 2, erhält man eine Schätzung der Zahl der getöteten Männer, und zieht man davon dann die Personen unter 15 und über 65 Jahren ab, kommt man auf etwa „20.000 Hamas-Kämpfer“.

Anstatt jedoch die Berechnungsmethode zu hinterfragen, mit der man zu solchen Zahlen gelangt, wundert sich Morris darüber, dass er keine „Bilder von Hamas-Kämpfern“ sieht, „die israelische Soldaten töten“. Nun sind im Kampf gegen die Hamas rund 400 israelische Soldat:innen ums Leben gekommen, während die Zahl der palästinensischen Opfer bei über 55.000 liegt. Es gibt also 138 Mal mehr palästinensische Opfer, weshalb es gerechtfertigt ist, wenn es 138 Mal mehr „Bilder“ von ihnen gibt. Dennoch irritiert es Morris, dass er „nie“ israelische Soldaten sieht, die von Hamas-Kämpfern getötet werden. Gestehen wir ihm einmal zu, dass journalistische Objektivität ein Verhältnis von 1 zu 138 verlangen würde. Nähme das Morris sein Gefühl, „nie“ andere „Bilder“ als solche von palästinensischen Opfern zu sehen? Dass die „israelischen“ Opfer der Hamas-Angriffe vom 7. Oktober „kaum noch erwähnt“ würden, kann ich nicht bestätigen; tatsächlich selten erwähnt wird dagegen die Tatsache, dass zu diesen „israelischen“ Opfern auch arabische Menschen und Arbeitsmigrant:innen aus Thailand und Nepal gehören. Und während Morris schließlich zu Recht daran erinnert, dass die Hamas „weitere 250“ Menschen entführt hat – die wie die Todesopfer unterschiedlichen Gruppen angehören –, erwähnt er nicht, dass die israelische Armee in ihren Gefängnissen Tausende von Palästinenser:innen in „Verwaltungshaft“ hält, die sie der Willkür der Militärgerichte aussetzt. Laut Le Monde waren dies im Februar 2025 rund 3.300 Personen. Angesichts der Berichte über ihre Haftbedingungen, die man hier und da lesen kann, könnte ich mir vorstellen, dass Morris selbst eher die Tunnel von Gaza vorziehen würde. Selbstverständlich wünsche ich ihm weder das eine noch das andere.

Abgesehen von der angegebenen Zahl der „Hamas-Kämpfer“ unter den Opfern, den „Bildern“, die Morris nicht sieht, und den Worten, die er nicht hört, wird sein fragiler Geisteszustand auch deutlich, wenn man die vermeintliche Kohärenz einiger seiner Aussagen auf den Prüfstand stellt. So versichert er zunächst: „Die israelischen Luftangriffe zielen auf Hamas-Kämpfer ab. Man weiß, dass sie sich unter zivilen Einrichtungen verstecken.“ Nach einem vorsichtigen Einwand der FAZ-Journalistin räumt er dann ein: „Es gibt 2,3 Millionen Palästinenser in Gaza, zwei Drittel der Gebäude sind entweder ganz oder teilweise zerstört, aber die Menschen leben in Zeltstädten und inmitten der Ruinen.“ Wenn aber die israelischen Luftangriffe auf Hamas-Kämpfer abzielen, was für Morris offenbar außer Frage steht, wie lässt sich dann erklären, dass „zwei Drittel der Gebäude ganz oder teilweise zerstört“ sind? Haben sich die „Hamas-Kämpfer“ zu irgendeinem Zeitpunkt in den zwei Dritteln der Gebäude im Gazastreifen verschanzt, was dann nach internationalem Recht ihre Bombardierung oder Sprengung rechtfertigen soll? Morris kann unmöglich glauben, was er hier erzählt. So sehr er es sich einreden mag und so sehr er wie ein Intellektueller auftritt, der weiß, was er sagt, weil sein Denken fest in objektiven Kenntnissen der Realität verankert ist – er kann es unmöglich glauben, sofern er nicht in Wahnvorstellungen verfallen ist. Vermutlich beunruhigt durch die Ausführungen des Historikers, versucht die Journalistin, seinen kritischen Geist zu wecken, indem sie eine öffentliche Äußerung von ihm anspricht: Gegenüber der Haaretz haben Sie gesagt, die Herzen der Israelis würden auf einen Genozid vorbereitet. Daraufhin scheint Morris wieder einen Anflug von Klarheit zu gewinnen:

Das hat mit dem Geist des Landes zu tun, und mit dem, was hier in den letzten Jahrzehnten passiert ist, seit die Rechten an die Macht gekommen sind und das Bildungssystem auf verschiedene Weise dominieren, insbesondere seit dem 7. Oktober. Die Menschen werden darauf konditioniert, die Palästinenser als Untermenschen zu betrachten, und diese Entmenschlichung ist eine notwendige Voraussetzung für einen eventuellen Völkermord. Die Nazis haben die Juden entmenschlicht und sie dann getötet. Die Türken entmenschlichten die Armenier und Griechen und haben sie dann getötet. Gleichzeitig spiegelt das die Konditionierung der Palästinenser gegenüber den Israelis. Die Palästinenser betrachten die Israelis inzwischen als Untermenschen oder Dämonen, eine Mischung aus Allmächtigen und Schwächlingen. Sie tun dies seit Beginn des zionistischen Projekts in den 1880er-Jahren, verstärkt nach 1948 und nach 1967. Es gibt also einen parallelen Prozess der Entmenschlichung auf beiden Seiten. Die Israelis sind mächtiger, aber die Hamas ist eine genozidale Organisation.

Ist die „Hamas eine genozidale Organisation“, so sind einige „Minister“ der aktuellen israelischen Regierung, wie Morris bereits festgestellt hatte, nicht weniger genozidal; stehen die Palästinenser:innen unter starkem Einfluss einer rassistischen und potenziell genozidalen Ideologie, so nicht weniger die Israelis, wenn wir Morris folgen: „Es gibt also einen parallelen Prozess der Entmenschlichung auf beiden Seiten.“ Die Lage in Israel-Palästina ist also ausgesprochen pathologisch, was auch Morris' eigenen Zustand erklären könnte. Als die Journalistin das Gespräch auf seine Arbeit als Historiker lenkt, insbesondere über die Phase von 1930 bis 1948, kommt er wieder zu sich – bis sie ihn am Ende des Interviews nach der politischen Zukunft des israelisch-palästinensischen Konflikts fragt und er erneut in Wahn verfällt. Ihre Frage lautet: „Erlebt Israel gerade das endgültige Ende einer möglichen Zweistaatenlösung?“ Morris antwortet:

Sie wäre die einzige Lösung, die beiden Seiten ein gewisses Maß an Gerechtigkeit böte. Doch es wird sie nie geben, weil sich die palästinensisch-arabische Nationalbewegung immer gegen eine Zweistaatenlösung ausgesprochen hat. Sie wollen ganz Palästina. Die Juden verdienen keinen Teil Palästinas, und auch auf israelischer Seite wollen die meisten Menschen zunehmend keine Zweistaatenlösung mehr. Sie befürchten, dass ein palästinensischer Staat ein von der Hamas geführter Staat sein würde.

Der Historiker erweckt den Eindruck, Herr seiner Worte zu sein – sein Ausblick ist düster, aber objektiv: Auf der einen Seite steht eine „palästinensische Nationalbewegung“, die sich „immer gegen eine Zweistaatenlösung“ gestellt hat, „auf israelischer Seite“ dagegen „wollen die meisten Menschen zunehmend keine Zweistaatenlösung mehr“. Bei genauerem Hinsehen fällt jedoch ein Detail auf, das struktureller Natur und darum keineswegs unbedeutend ist: Auf palästinensischer Seite ist von der Position einer „Nationalbewegung“ die Rede, auf israelischer Seite von „Menschen“. Was würde jedoch passieren, wenn man dies umkehrt? Könnte man daraus schließen, dass auf palästinensischer Seite „die meisten Menschen zunehmend keine Zweistaatenlösung mehr“ wollen, weil sie befürchten, dass der israelische Staat von Völkermördern geführt wird, während auf israelischer Seite die „Nationalbewegung“, die derzeit an der Macht ist, schon „immer gegen eine Zweistaatenlösung war“? Ich weiß nicht, ob die meisten Palästinenser:innen die Zweistaatenlösung zunehmend ablehnen – ich glaube das eigentlich nicht –, aber ich bin überzeugt, dass sie befürchten, dass der Staat Israel von Völkermördern regiert wird. Und ich weiß, dass die nationalistische Rechte in Israel immer gegen eine Zweistaatenlösung war und dass ein israelischer Ministerpräsident dafür sogar mit seinem Leben bezahlt hat. Insofern gewinnt man den Eindruck, dass Morris einer Konfrontation mit der israelischen Rechten ausweicht, die seit Jahrzehnten in der israelischen Bevölkerung Hass gegen die Palästinenser:innen schürt und gleichzeitig die Macht der „genozidalen Organisation” Hamas zu konsolidieren sucht. Warum weicht er dieser Konfrontation aus? Weil er geistig geschwächt ist? Oder ist umgekehrt dieses Ausweichen der Ursprung seines Leidens? Die Journalistin bringt das Gespräch dann wieder mit einer Bemerkung in Schwung, zu der sie offenbar die Diagnose des Historikers veranlasst, dass sie die Zweistaatenlösung in einer Sackgasse befinde: „Einige träumen von einem binationalen Staat“. Daraufhin versinkt Morris endgültig in geistiger Umnachtung:

Der binationale Staat mag in den Köpfen der Menschen in den Cafés in Paris existieren, aber Multikulturalismus funktioniert hier nicht. Auch die Araber wollen keine Juden hier haben und schon gar nicht mit Juden zusammenleben, die reicher, besser ausgebildet und mächtiger sind. Diese Idee wurde nur von einigen hundert Intellektuellen unterstützt. Von Martin Buber oder Gershom Scholem. Einige wenige suchten nach Arabern, die bereit waren, sich ihnen anzuschließen – sie haben sie nie gefunden.

Denjenigen, die gemütlich auf der Terrasse eines Pariser Cafés vor sich hin „träumen“, hält Morris entgegen, dass er sich nicht in Illusionen wiegen will, in den Ammenmärchen für Pariser „Bobos“: „Multikulturalismus funktioniert hier nicht.“ Ach wirklich? In welcher Realität lebt der Historiker eigentlich? Ich hatte es bislang für unbestreitbar gehalten, dass die israelische Gesellschaft ausgesprochen multikulturell ist, nämlich zusammengesetzt aus Jüdinnen und Juden unterschiedlichster Herkunft – Jemen und Äthiopien, Russland und Frankreich, Argentinien und die Vereinigten Staaten –, einer starken „ultraorthodoxen“ Gemeinschaft, deren Lebens- und Denkweise einzigartig ist, sowie aus 20 Prozent palästinensischen Araber:innen, die Bürger:innen Israels sind. Tatsächlich besteht die israelische Gesellschaft aus drei Gruppen: einer arabischen Minderheit, die sich nicht als Teil des Staates fühlt, einer jüdischen Mehrheit, die sich als Teil des Staates fühlt, aber nicht mit der ultraorthodoxen Minderheit identifiziert, und schließlich einer arabisch-palästinensischen Minderheit, die sich als Teil des Staates fühlt, aber nicht mit der jüdischen Mehrheit identifiziert. Der binationale Staat ist keineswegs nur ein Traum irgendwelcher Pariser „Bobos“, sondern existiert in Israel bereits genau so wie der Multikulturalismus. Was Morris und so viele andere offenbar nicht verstehen, ist, dass dies kein Fluch, sondern ein Segen ist und der Erfolg des Zionismus genau darin besteht: Er hat de facto die Grundlagen für einen zukünftigen binationalen und multikulturellen Staat geschaffen, der auf dem Prinzip der Gleichheit und der entschiedenen Ablehnung jeder Art von Völkermord beruht.

Die Hamas hat sich übrigens nicht getäuscht: Indem sie unterschiedslos jüdische und arabische Menschen, Thailänder:innen und Nepales:innen usw. ermordet, hat sie den einzigen „Zionismus“ angegriffen, der es wert ist, verteidigt zu werden, nämlich den egalitär-multikulturellen. Daraus folgt, dass die einzige Möglichkeit, sich radikal gegen die Hamas zu stellen, darin besteht, eine ganz andere multikulturelle und multiethnische Gleichheit zu schaffen als die, die im unterschiedslosen Kugelhagel genozidaler Fanatiker herrscht.

Leider ist dieses politische und gesellschaftliche Projekt in Morris' Augen substanzlos, eine Illusion: „Das funktioniert hier nicht.“ Anstatt zu träumen, pocht der Historiker auf der Realität: „Die Menschen sind darauf konditioniert, die Palästinenser als Untermenschen zu betrachten“; „die Palästinenser betrachten die Israelis inzwischen als Untermenschen“; „es gibt also einen parallelen Prozess der Entmenschlichung auf beiden Seiten“. Das ist die Welt, in der Benny Morris lebt, das ist sein Horizont. Was in „den Köpfen der Menschen in den Cafés in Paris“ vor sich geht, zeichnet sich gewiss nicht immer durch ein hohes Niveau aus. Aber wenn die Alternative dazu ein allgemeines Klima des Völkermords ist, wer, außer völlig Verrückten, würde dann nicht lieber an der Theke eines Pariser Bistros sitzen? Offenbar am Ende ihrer Kräfte angelangt, wagt die Journalistin eine letzte Frage: „Was ist der Plan für Gaza?“ Ich für meinen Teil hätte an dieser Stelle auch gern nach einem „Plan“ für Morris gefragt. Aber bleiben wir bei Gaza. Der Historiker antwortet:

Die israelische Regierung möchte, dass die Araber jetzt freiwillig gehen. Aber es wäre keine freiwillige Ausreise. Sie leben unter so schrecklichen Bedingungen, dass sie nicht freiwillig wäre. Die Hamas ist dagegen, dass die Menschen gehen. Und niemand will sie. Nicht die Ägypter, die ihnen einen Teil des Sinai hätten geben können, nicht die Jordanier, nicht die Libanesen und niemand sonst. Leider werden sie in Gaza festsitzen. Es wird Jahre dauern, den Schutt wegzuräumen, und es wird noch länger dauern, alles wieder aufzubauen.

Dem Historiker zufolge gibt es also keinen „Plan“: Die Menschen „werden in Gaza festsitzen“. Und wenn sie dort „festsitzen“, dann deshalb, weil einerseits die Hamas sie nicht gehen lässt und andererseits „niemand sie haben will“. Woher der Wunsch rührt, zu gehen (und nur deshalb kann man von einem „Festsitzen“ sprechen), benennt Morris aber selbst: „Sie leben unter schrecklichen Bedingungen.“ In diesem Licht betrachtet wäre der Wunsch der israelischen Regierung, ihnen die Möglichkeit zu einem „freiwilligen“ Exil zu geben, letztlich humanitär. Was kann man der israelischen Regierung seit dem 7. Oktober 2023 also schon vorwerfen, wo sie doch das „Völkerrecht“ respektiert und sich darüber hinaus bemüht, den Menschen in Gaza zu helfen, anderswo bessere Lebensbedingungen zu finden?

Das Problem besteht darin, dass Morris‘ Argumentation ungeachtet seiner geradezu übermenschlichen Anstrengungen, die israelische Staatspropaganda zu verbreiten, überall Lücken aufweist. Denn wenn zwei Drittel der Häuser in Gaza zerstört sind und damit auch die Lebensbedingungen der Menschen – Ernährung, Gesundheit, städtische Infrastruktur, Landwirtschaft usw. –, dann liegt das natürlich nicht daran, dass sich Hamas-Kämpfer „unter zivilen Einrichtungen verstecken“, sondern handelt es sich um eine bewusst gewählte und umgesetzte Politik. Sie ist „staatlich organisiert, systematisch und zielgerichtet“, und sie folgt einer realen Absicht: die Palästinenser:innen in Gaza durch die Zerstörung ihrer materiellen Lebensgrundlagen ins Exil zu zwingen. Wenn sie aber in Gaza „festsitzen“, muss sich Morris an dieser Stelle irgendeinen Ausweg aus seinem Wahn suchen, denn logisch betrachtet bleiben nur zwei Möglichkeiten: Entweder der israelische Staat überdenkt seine Politik grundlegend oder der „Genozid“, wie Morris ihn definiert hat, ist das vorhersehbare und unvermeidliche Ergebnis.

Bleibt die Frage, wo der Ursprung von Morris‘ Leiden liegt. Ich vermute, es entspringt Angst – nicht vor den Kämpfern der Hamas, sondern vor der aktuellen israelischen Regierung und ihrer Polizei, die von einem „Minister“ geleitet wird, den Morris sicherlich selbst schon als genozidal bezeichnet hat. Tatsächlich ist die Angst begründet, denn heute braucht man nur ein T-Shirt mit der Aufschrift „Stoppt den Krieg zu tragen, um nach Dafürhalten der israelischen Polizei in die „Illegalität” abgedriftet zu sein.2 Darin besteht übrigens vom alten Rom bis zum europäischen Kolonialismus ein weit verbreitetes Phänomen in der Geschichte. So bemerkt Historiker Clifford Ando mit Blick auf Rom: „Wie in einer metaphorischen Umkehrung wurden Formen der imperialen Herrschaft, die die Römer einst über andere Völker ausübten, nun in die Funktionsweise der römischen Justiz integriert und von den Römern über sich selbst ausgeübt.“3 Das Unsichtbare Komitee stellt dasselbe Phänomen für den modernen Kolonialstaat fest: „Was an entfernten Völkern erprobt wird, blüht als Schicksal früher oder später dem eigenen Volk. Die Truppen, die im Juni 1848 das Pariser Proletariat abschlachteten, hatten sich zuerst in den ‚Straßenkriegen‘, den Razzien und Ausräucherungen Algeriens im Zuge der Kolonisierung geübt.“4 Morris hat also vermutlich Angst. Und das ist der Grund für seinen Wahnsinn: So fühlt er sich frei.

Der talmudische Begriff des „hamar-gamal, des „Esel-Kamels“, regt mich zu folgendem Schluss an: Einem gewissen Zionismus zufolge ließen sich die Jüdinnen und Juden Europas im Holocaust wie „Schafe“ zur Schlachtbank führen und nun gehe es darum, unter der Herrschaft des Staates Israel einen „neuen jüdischen Menschen“ zu schaffen. Wir haben jetzt eine Vorstellung davon, was im speziellen Fall von Benny Morris dabei herausgekommen ist: Der jüdische Intellektuelle, der er einst war, ist zu einem „Schaf-Papagei“ mutiert, wie ich es nennen möchte – zu einer Art Herdentier, das die menschliche Sprache nachäfft.

Zuerst auf Französisch erschienen bei Lundi Matin. Von Ivan Segré erscheint im Herbst der umfangreiche Band „Der Westen, die Indigenen und wir. In einem Beitrag, der im vergangenen Jahr in der Jungle World zu lesen war, geht er mit der Hamas und der israelischen Regierung gleichermaßen ins Gericht. Zu seinen zahlreichen französischen Veröffentlichungen zählt auch der Band „Misère de l‘antisionisme“, der auf der Website des Verlags kostenlos heruntergeladen werden kann.

  • 1. In einer Kritik von Malms Buch Pour la Palestine comme pour la Terre. Les ravages de l’impérialisme fossile kommt Segré zu dem Befund, das sich der international berühmte Linke in antisemitischen Denkmustern verheddert.
  • 2. Haaretz, englische Ausgabe vom 16. Juni 2025: „Filmaufnahmen des Protests zeigen einen Polizisten, der den Protestierenden erklärt, dass das Tragen von T-Shirts mit der Aufschrift ‚Stoppt den Krieg‘ illegal sei.“
  • 3. Clifford Ando, L’Empire et le droit. Inventions juridiques et réalités historiques à Rome, Paris 2013, S. 15.
  • 4. Unsichtbares Komitee, An unsere Freunde, Hamburg 2012, S. 120.