Die Todeswelt des Kapitalismus

18. November 2023

Die Todeswelt des Kapitalismus

 

Internationalist Perspective/Redaktion Communaut

 

Zur jüngsten Eskalation im Nahen Osten dokumentieren wir hier eine Stellungnahme von Internationalist Perspective, die sich von der grassierenden linken Schrulle abhebt, im blutigen Konflikt zweier Nationalismen für einen der beiden Partei zu ergreifen.

Die erdrückende Mehrheit der Linken weltweit presst den Nahostkonflikt in ein antikoloniales Schema von bezaubernder Schlichtheit. Für sie ist die Geschichte Israels nichts weiter als imperiale Knechtung der angestammten Bevölkerung, die Geburt des jüdischen Staates aus antisemitischer Verfolgung und Massenvernichtung kommt in diesem Bild so wenig vor wie der gehörige Anteil, den die arabische Reaktion in all ihren Varianten – vom stramm autoritären Staatssozialismus bis zum Djihadismus – an der verfahrenen Lage hatte und hat. Dass etwa die massenhafte (und durch nichts zu rechtfertigende) Vertreibung von Palästinenser:innen im Jahr 1948 im Zuge eines Krieges erfolgte, der mit einem Überfall auf Israel durch seine arabischen Nachbarstaaten begann; dass diese Menschen aus einem perfiden Kalkül heraus kaum irgendwo integriert worden sind und ihre Kinder und Kindeskinder bis heute in Flüchtlingslagern ausharren müssen; dass das vehement eingeklagte Recht auf »Rückkehr« nach völkischer Logik auf diese Kinder und Kindeskinder ausgeweitet wird – das alles macht das Bild zu kompliziert fürs antikoloniale Gemüt und wird daher beschwiegen.

»Palästina«, ein Kollektivsubjekt, das weder Klassen noch politische Fraktionen kennt, handelt in dieser Optik durchweg mit der astreinen Legitimation des kolonial Unterdrückten. Im schlimmsten Fall gerät so selbst ein Blutbad, wie die Hamas es am 7. Oktober angerichtet hat, zum gerechtfertigten Akt des Widerstands, der Befreiung. Über den Bankrott solcher Linken, von geistig verlotterten Intellektuellen bis zu Hausbesetzer:innen in Berlin-Friedrichshain, braucht man nicht viele Worte zu verlieren. Eine etwas weniger drastische Variante besteht darin, den von der Hamas verübten Massenmord zwar nicht unbedingt gutzuheißen, ihn aber mit keiner Silbe zu erwähnen. Er taucht in den aktuellen Aufrufen zu propalästinensischen Demonstrationen praktisch nicht auf, so als würde das israelische Militär den Gazastreifen gerade aus lauter Jux und Dollerei unter Beschuss nehmen. Dabei müssten eigentlich gerade Leute, die sich mit der elenden Lage der palästinensischen Bevölkerung nicht abfinden wollen, der Hamas die Pest an den Hals wünschen. Sie übt eine Terrorherrschaft aus, und die massiven israelischen Militärschläge hat sie bei ihrem Massaker eiskalt einkalkuliert.

Diese schlichte Feststellung dient anderen Fraktionen der Linken dazu, Israels rücksichtslosem Vorgehen im Gazastreifen die höhere Weihe der antifaschistischen Notwendigkeit zu verleihen. Von der übergeschnappten Bahamas-Truppe, die zur Kollektivbestrafung der Bevölkerung in Gaza aufruft, weil die alliierten Flächenbombardements deutscher Städte im Zweiten Weltkrieg ja schließlich auch spitze gewesen seien, soll nicht weiter die Rede sein. Sie ist das Spiegelbild der Inhumanität der Hamas-Claqueure und fühlt sich schon seit Langem pudelwohl auf der anderen Seite der Barrikade. Aber weit darüber hinaus ist das, was in den späten 1980er Jahren als überfällige Selbstkritik einer rabiat »antizionistischen« Linken begonnen wurde, längst seinerseits zur Ideologie verkommen. Aus der Kritik des »Antisemitismus von links« wurde die Apologie des Staates Israel. Wenn die Jungle World kurz nach dem Hamas-Massaker mit der Schlagzeile »Israel oder Barbarei« aufwartet, spricht sie unbewusst die trostlose Wahrheit über ein Milieu aus, für das die Verteidigung des jüdischen Staates und darüber hinaus der westlich-demokratischen Welt by all means necessary den Platz des Sozialismus einnimmt.

Und wiederum spiegelbildlich zur Idiotie des antikolonialen Freund-Feind-Schemas sind auch hier gewaltige Verdrängungsleistungen nötig, um das windschiefe Weltbild aufrechtzuerhalten. Dass die extremistischen Siedler im Westjordanland allein in der Woche nach dem Hamas-Massaker 51 Menschen ermordet haben, wie üblich mit stillschweigender Billigung der israelischen »Sicherheitskräfte«, ist keiner Rede wert. So etwas nennt man normalerweise ein Pogrom, und ein Pogrom taugt schlecht als Gegenteil von Barbarei. Der massive Rechtsruck innerhalb der israelischen Politik und der weit fortgeschrittene autoritäre Staatsumbau, der selbst hartgesottenen Antideutschen kurzzeitig und hinter vorgehaltener Hand ein paar kritische Töne in Richtung der Regierung Netanyahu abgerungen hat, wird im Kriegstaumel genauso vergessen wie sämtliche anderen Ereignisse der letzten Jahre, die das eigene Narrativ konterkarieren könnten. Regierungspersonal, das freudig von einer »Gaza-Nakba« schwärmt, und IDF-Sprecher, die offen zugeben, dass die Gegenoffensive nicht auf Treffsicherheit, sondern maximale Zerstörung ausgelegt ist, kommen in der Erzählung der Israel-Fans ebenso wenig vor wie die Ereignisse, die der jetzigen Eskalation vorhergegangen sind: die Angriffe von Siedlermobs auf Huwara, die Tötung von 181 Palästinensern im Westjordanland (die höchste Zahl seit 18 Jahren), Netanjahus Präsentation seines Plans für einen neuen Nahen Osten (ohne Palästina) vor der UN, die Provokationen am Tempelberg etc. Aus der richtigen und ziemlich banalen Feststellung, dass der Terror der Hamas nicht einfach nur eine (womöglich noch legitime) Reaktion auf Israels Politik ist, wird von diesen Linken die groteske Konsequenz gezogen, von der tatsächlichen Politik der israelischen Rechtsregierung vollends zu abstrahieren.

Und so weiter und so fort: Anschauungsmaterial für die Ideologiekritik einer Linken, die sich offenbar zur arbeitsteiligen Sabotage der Weltrevolution verschworen hat, gibt es zurzeit noch mehr als üblich.  Internationalist Perspective hält dagegen fest, dass nur der antinationale Klassenkampf einen Ausweg aus der Katastrophe bietet. Das ist so richtig, wie es fürs Erste hilflos bleibt. Die Morde an israelischen Zivilist:innen werden eine Klassenverbrüderung über nationale Grenzen hinweg so wenig fördern wie das massenhafte Grauen im Gazastreifen, das das israelische Militär gerade verursacht. Insofern gilt für das Statement von IP, was für jede sozialrevolutionäre Regung gerade gilt. Wir stehen im Abseits der Geschichte, müssen uns von der eigenen Ohnmacht aber nicht dumm machen lassen. 

Manches im Text müsste noch diskutiert werden – trifft der Begriff des »Rassismus« wirklich das Handeln der Islamisten wie auch der israelischen Regierung? Wird »Apartheid« als eine bereits gegebene Realität konstatiert oder als dystopisches Szenario verstanden, das sich gerade abzeichnet? Hat »Israels Militärdoktrin schon immer auf Abschreckung durch Unverhältnismäßigkeit« beruht, was überhaupt wäre »verhältnismäßig« oder »unverhältnismäßig«? Aber das ändert nichts daran, dass der Beitrag von Internationalist Perspective in die richtige Richtung geht.

 

Redaktion Communaut

 

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Noch am Tag des brutalen Angriffs der Hamas verkündete die Israelische Regierung der Welt, dass Israel soeben seinen 11. September erlebt habe. Die Ähnlichkeiten sind in der Tat frappierend. Sowohl hinsichtlich der Ziele und der Vorgehensweise von Hamas und Al Qaida als auch was die Möglichkeiten angeht, die diese Anschläge für den Imperialismus der USA und Israel eröffneten.

Hamas sowie Al Quaida griffen wahllos Zivilist:innen an. Beide Gruppen folgen einer islamistischen Ideologie, die auf der Erzählung einer ruhmreichen Vergangenheit aufbaut und eine bessere Zukunft im Himmel verspricht. 1 Der Nährboden dieser Ideologie sind in beiden Fällen Wut und Ressentiment, produziert durch Armut, Repression und Diskriminierung. Ihre Praxis zielt darauf ab, ein riesiges Territorium unter ihre staatliche Kontrolle zu bringen, das nicht »vom Volk«, sondern von ihnen selbst beherrscht werden soll. Da sich ihre Herrschaft auf den Willen Gottes beruft, wird folglich kein Widerspruch gegen diesen Staat geduldet. Wer dies wagt, wie in Gaza, muss mit Gefängnis und Folter rechnen. Für menschliches Leben, oft auch das eigene, haben sie nichts als Verachtung übrig. Hierin sind sie ein eindeutiger Ausdruck des kapitalistischen Todeskults unserer Epoche.

Da sie Menschen aufgrund ihres Andersseins entmenschlichen, bezeichnen wir sie als Rassisten. Ihr Rassismus ist keiner im engeren Sinn und geht nicht von Unterschieden aufgrund der Hautfarbe aus, sondern von den unterschiedlichen Bedingungen unter denen Menschen geboren wurden, namentlich Ethnie und Kultur. Aber sie verachten nicht nur das Leben von Juden und Jüdinnen oder anderen Menschen, die nicht an ihren eifersüchtigen Gott glauben, auch für ihre eigenen Leute haben sie nicht viel übrig. Sowohl die Hamas als auch Al Quaida wussten sehr wohl, welche schrecklichen Folgen ihre Angriffe nach sich ziehen werden. Doch genau diese Reaktionen waren ihr Ziel. Sie spekulierten darauf, politisches Kapital aus dem daraus folgenden massiven Leiden der muslimischen Bevölkerung schlagen zu können. Die Grausamkeiten, die die Hamas während ihres Massakers beging, müssen daher möglicherweise nicht nur als reiner Sadismus begriffen werden, sondern waren wohl Teil einer Strategie, die darauf abzielte, eine möglichst brutale Invasion des Israelischen Militärs zu provozieren. Da Israels Militärdoktrin schon immer auf Abschreckung durch Unverhältnismäßigkeit fußt, war die momentane Situation vollständig vorhersehbar. Bereits vor der Staatsgründung Israels folgten die jüdischen Milizen im Mandatsgebiet Palästina dieser Strategie: Auf die Tötung von jüdischen Zivilist:innen folgten stets Vergeltungsmaßnahmen, die wesentlich mehr Tote auf der palästinensischen Seite forderten. Daher wusste die Hamas ganz genau, dass ihr Angriff mehrere Tausend tote Zivilist:innen in Gaza zur Folge haben wird. Ihre Hoffnung dabei ist, dass dies ihnen dabei hilft, sich im Kampf um die Kontrolle über einen palästinensischen Proto-Staat, gegen ihren direkten Konkurrenten die Fatah durchzusetzen.

Hölle

Doch auch für die angegriffenen Nationen eröffneten sich nach 9/11 und dem Massaker der Hamas große Möglichkeiten. Zweifellos wird es deshalb auch jetzt wieder Spekulationen darüber geben, inwieweit diese Angriffe durch die angegriffenen Staaten selbst zum eigenen politischen Vorteil forciert oder ermöglicht wurden. Ohne die Trauer, die Wut, die Rachegelüste, die patriotische Einheit und die mediale Raserei, die auf die Angriffe folgten, hätte eine militärische Aktion wie sie momentan in Gaza durchgeführt wird, niemals genug Zustimmung gefunden. Plötzlich sind die inneren Spaltungen, die Opposition gegen die Regierung Netanyahu, der man Korruption und Machtmissbrauch vorwirft, zweitrangig. Alles was nun zählt ist die Vernichtung des Gegners.

Die USA nutzten die Möglichkeiten, die der 11. September eröffnete. Sie marschierten in zwei Länder ein und bauten ihren Überwachungs- und Kontrollapparat massiv aus. Diese Kriege kosteten über 8 Billionen Dollar. War es das wert? Viele bürgerliche Politiker:innen und Expert:innen, einschließlich des Präsidenten, sehen dies mittlerweile anders, während sie wiederum neue Kriege unterstützen. Die mehr als 900.000 Toten dieser Kriege können wir nicht fragen, was sie dazu denken. 2

Israel verfolgt, das hat sich nicht geändert, nach wie vor das Ziel der Expansion. Das Regierungsprojekt der schrittweisen Annexion der Westbank wird durch die gegenwärtige Situation beschleunigt. An einer Übernahme von Gaza bestand ursprünglich jedoch wenig Interesse. Es gibt dort schließlich nichts zu holen. Es ist ein bloßer Behälter für überflüssige Menschen, ein Ghetto für Kinder und Enkel von den Menschen, die man einst aus Palästina verjagte. Seine Bewohner:innen sind traumatisierte, meist junge Menschen ohne Perspektive und Möglichkeit, dieses Freiluftgefängnis jemals zu verlassen. Pausenlos mit nationalistischer Propaganda bombardiert, verführt von der gewaltvollen Machokultur der Hamas und des Islamischen Dschihad, lassen sie sich rekrutieren wie jugendliche Gangmitglieder in den Innenstädten überall auf der Welt. Gaza ist ein Stachel im Fleisch des israelischen Staatskörpers.

Obwohl die Invasion noch nicht einmal richtig begonnen hat, hat Israel in der ersten Woche des Krieges bereits 6000 Bomben auf Gaza abgeworfen. Etwa so viel wie die USA in einem ganzen Jahr auf Afghanistan fallen ließen. Netanyahu hat Vergeltung prophezeit, die unter den Feinden Israels »noch Generationen nachhallen« wird. Der Israelische General Ghassan Aliyan verkündete: »Ihr wolltet die Hölle – ihr werdet die Hölle bekommen!« Und der Verteidigungsminister erklärte, dass »wir gegen menschliche Tiere kämpfen und dementsprechend handeln werden«. Niemand bemühte sich, zwischen Anhängern der Hamas und Palästinensischen Zivilisten zu unterscheiden. Die Verwendung des Begriffs der »menschlichen Tiere« ist bezeichnend. Tatsächlich behandelte man die Menschen in Gaza jahrzehntelang wie Tiere. Es ist daher vielleicht auch nicht überraschend, dass sich die Gangster, die dieses Gefängnis leiten, derart bestialisch verhalten haben als sie den Süden Israels angriffen. Nun wird Israel also die Entmenschlichung und kollektive Bestrafung dieser »menschlichen Tiere« nochmals stark verschärfen.

Es ist klar, dass Zivilisten nicht nur Kollateralschäden sind, sondern auch gezielt angegriffen werden. So wies Israel die Zivilist:innen in der nördlichen Hälfte des Gazastreifens an, sich in Richtung Süden zu bewegen und bombardierte die Flüchtenden. Israel griff, mit maßgeblicher Unterstützung durch US Militärtechnik, Krankenhäuser, Schulen, Moscheen, und Wohnhäuser an und blockierte die Wasser- und Stromversorgung sowie die Lieferung von Essen und medizinischen Gütern. Als Russland in der Ukraine ähnlich handelte, sprachen die Führer der westlichen Welt von »Kriegsverbrechen«, im Falle Gazas haben sie jedoch nichts zu vermelden. Darüber sollten wir uns nicht wundern: Die »Menschenrechte« sind nichts anderes als eine willkürlich einsetzbare Schachfigur im Machtspiel der Herrschenden. .

Durch die Entmenschlichung und kollektive Bestrafung aller Palästinenser:innen zeigt der israelische Staat, dass er dem Rassismus der Hamas um nichts nachsteht. Wäre es möglich, würde die israelische Regierung möglicherweise dem Ratschlag des US Senators Lindsey Graham folgen und Gaza dem  »Erdboden gleich machen«. Aber man kann weder alle Einwohner:innen des Gazastreifens töten noch kann man sie alle einfach nach Ägypten verschieben. Gaza wird es folglich auch nach diesem Krieg noch geben. Möglicherweise zielt der israelische Militäreinsatz darauf ab, die Bevölkerung derart einzuschüchtern, dass Gruppen wie die Hamas in Zukunft keine Unterstützung mehr finden. Es darf jedoch bezweifelt werden, dass diese Strategie Erfolg hat. Angst hält Menschen vor allem dann vor bestimmten Taten zurück, wenn es noch Gründe gibt am Leben festzuhalten. Wenn sie das Gefühl haben, sie hätten nichts mehr zu verlieren, wird die Angst von Wut übertrumpft.

Warum jetzt?

Die aktuelle Gewalt ist nichts Neues, aber eine Eskalation, die die Welt nicht erwartet hatte. So wie auch die Spannungen zwischen Russland und dem Westen nichts Neues waren, der Krieg um die Ukraine aber weithin eine Überraschung darstellte. Die Spannungen im Kaukasus bestanden schon lange, die ethnische Säuberung in Bergkarabach dagegen ist neu. Auch in Afrika eskalieren Kriege und Staatsstreiche. Rund um den Globus wachsen die Spannungen, überall steigen die Rüstungsausgaben. 3 Warum gerade jetzt?

Der globale Hintergrund dieser Tendenz ist eine Krise der kapitalistischen Weltwirtschaft, die die im System angelegten unversöhnlichen Gegensätze verstärkt. Gegensätze nicht nur zwischen Arm und Reich, zwischen Kapitalisten- und Arbeiterklasse, sondern auch zwischen Hegemonialmächten und ihren aufstrebenden Widersachern. Wenn die Arbeiterklasse sich nicht als eine Klasse mit gemeinsamen Interessen gegen das Kapital erkennt, werden die zwischenstaatlichen Konflikte das Weltgeschehen bestimmen und der Antagonismus von Arm und Reich lediglich den ideologischen Kriegsdiskurs nähren.

Je mehr sich die Krise vertieft und von den Folgen des immer schnelleren Klimawandels befeuert wird, umso mehr besteht für rivalisierende Staaten ein Anreiz, die USA als die heute dominierende Macht herauszufordern. Die USA reagieren darauf, indem sie starke Allianzen in der Umgebung ihrer Rivalen aufbauen, um sie zu isolieren und zu bezwingen. Sie haben Russland durch die Integration ehemaliger Sowjetrepubliken in die eigene Einflusssphäre isoliert, was im Kampf um die Ukraine gipfelte; sie haben sich mit Japan, Südkorea und Vietnam zu einem Militärbündnis zusammengeschlossen, das als asiatische NATO gilt; und im Nahen Osten haben sie die »Abraham-Abkommen« zwischen Israel und mehreren arabischen Staaten eingefädelt. Der krönende Abschluss sollte die diplomatische Normalisierung zwischen Israel und Saudi-Arabien sein. Für den Iran, den wichtigsten Unterstützer der Hamas, wäre ein solches Abkommen ein schwerer strategischer Rückschlag. Sollten Israel, der stärkste militärische Partner der USA in der Region, und Saudi-Arabien, ihr finanzkräftigster und religiös einflussreichster Verbündeter, ihre Beziehungen normalisieren und eine Kooperation entwickeln, stünde Teheran ein integriertes proamerikanisches Lager gegenüber. De facto würden sie mit weiteren US-Verbündeten wie den Vereinigten Arabischen Emiraten, Bahrain, Ägypten und Jordanien die arabische Halbinsel umringen  und durch drei Meerengen – den Suezkanal, die Straße von Bab el-Mandab und die Straße von Hormuz – die Kontrolle über das Rote Meer, das Arabische Meer und den Persischen Golf besitzen. Die imperialistischen Bestrebungen des Iran in der Region wären damit vorerst weitgehend blockiert. Zumindest das wurde von der iranischen Regierung fürs Erste erreicht: Das Abkommen ist vom Tisch, denn ein Deal mit Israel ist für einen arabischen Staat auf absehbare Zeit zu heikel.

Es gibt keine »nationale Befreiung«

Bei Kriegen in unserer Epoche geht es darum, dass verschiedene kapitalistische Akteure Anspruch auf dasselbe Stück Land erheben. Die Alternative, vor die die Bevölkerung in Palästina/Israel gestellt wird, heißt zionistischer oder islamistischer Apartheidstaat. Der Gedanke, dass die Menschen dort ohne das eine oder das andere leben könnten, ist für diejenigen, die diese Alternative vorgeben, unvorstellbar. Auch die meisten Menschen, die gegen Israel oder gegen die Hamas demonstrieren und die entsprechenden Nationalflaggen schwenken, können es sich nicht vorstellen. Ihr Antrieb mag die Abscheu vor Ungerechtigkeiten sein, aber im Ergebnis sind sie Kriegspropagandist:innen. Krieg für Israel, Krieg für Palästina: Den Blutzoll für die Machtkämpfe zwischen Staaten und Proto-Staaten zahlen einfache Palästinenser:innen und Israelis. Solche Demonstrationen ignorieren die Gräueltaten, die von der jeweils bevorzugten Seite begangen werden, und rechtfertigen den Mord an Unschuldigen. Für die SJP (Students for Justice in Palestine), die an amerikanischen Universitäten stark vertreten ist, gibt es keine unschuldigen Israelis: Sie sind samt und sonders Besatzer:innen, und niemand darf die Hamas kritisieren, denn sie hat »das Recht, gegen die Besatzung ihres Landes mit allen Mitteln Widerstand zu leisten, die sie für notwendig hält«, wie es in einer kürzlich veröffentlichten SJP-Resolution heißt. Zu diesen Mitteln gehören das Töten von Babys, die Vergewaltigung von Frauen, das Verbrennen von Leichen, die Folterung von Gefangenen, die Entführung von Kindern.

Machen wir uns keine Illusionen: In unserer Epoche gibt es keine nationale Befreiung. Die Menschheit ist mit dem Kapital als einer Totalität, einer globalen Maschine konfrontiert; Nationen können nichts anderes sein als ein Bestandteil dieser Maschine. »Nationale Befreiung« kann allenfalls das Recht der lokalen Bourgeoisie durchsetzen, selbst zu entscheiden, für welche der stärkeren Mächte sie ein Vasall sein will. Immer und ausnahmslos aber bedeutet sie, dass die Ausgebeuteten die Ausbeuter:innen einer Nation gegen den äußeren Feind zusammenhalten muss. Es gibt keine Befreiung der Arbeiter:innenklasse durch nationale Befreiungsbewegungen. Im Gegenteil: Für jede Bewegung, die zu wirklicher Befreiung führen könnte, stellen sie ein gewaltiges Hindernis dar. Eine Bewegung, die für die wirklichen Interessen der in Israel/Palästina lebenden Proletarier:innen eintritt und die Spaltungen unter ihnen bekämpft, müsste die wirkliche Ursache ihrer Misere angreifen: den Kapitalismus und seine Staaten, die ihnen nichts anzubieten haben außer Ausbeutung, Verarmung und Krieg. Ein solcher Kampf dreht sich nicht um die Frage, wer was besitzt, sondern zielt auf die Abschaffung von Besitz, auf eine Gesellschaft, die auf der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse beruht und nicht auf der Akkumulation von Besitz und Profit.

Wie die Zunahme von großen Streiks in den letzten zwei Jahren zeigt, ist die globale Arbeiter:innenklasse – die einzige gesellschaftliche Kraft, die eine solche Bewegung hervorbringen kann – nicht bezwungen. Aber sie ist auch nicht voll und ganz bei Bewusstsein, sondern betäubt durch eine permanente nationalistische Indoktrination, die uns zwar selten ausdrücklich, unterschwellig aber immer zu verstehen gibt, dass »die anderen«, die nicht zu »unserem« Stamm gehören, weniger zählen, weniger menschlich sind. In Israel und Palästina gilt dies ganz besonders.

Im gesamten Nahen Osten ist die Armut in den letzten Jahren drastisch gestiegen. Die Region ist voll von Menschen, die das Kapital überflüssig gemacht hat. Millionen von ihnen wurden in Kriegen getötet. Wie viele müssen noch für die Nation sterben, bevor der Irrsinn ein Ende hat? Dass sich die Lebensbedingungen im Westjordanland und dem Gazastreifen verschlechtert haben, ist offensichtlich, aber auch das Proletariat in Israel wurde von dieser Realität nicht verschont. Es lebt nicht nur unter der ständigen Drohung von Gewalt, sondern verarmt auch zusehends. Jedes dritte israelische Kind wächst heute in Armut auf, und die Vermögenskonzentration in Israel ist die zweithöchste unter den entwickelten Ländern. Objektive Gründe dafür, gegen die Herrschenden aufzubegehren und sich zu verbünden, haben die Arbeiter:innen an beiden Orten mehr als genug. Diese Perspektive mag zurzeit unrealistisch erscheinen, aber sie bietet den einzigen Ausweg aus einer tödlichen Spirale immer neuer Katastrophen.

Internationalist Perspective, 20. Oktober 2023

 

  • 1. MacIntosh schreibt in  »Islamism: Political Ideology and Movement« in International Perspective 39 (2001): »Obwohl der Islamismus eine Ideologie und politische Bewegung zu sein scheint, die sich der Moderne entschieden widersetzt und darauf abzielt, traditionelle islamische Überzeugungen und Institutionen wiederzubeleben, ist er doch  in hohem Maße das Produkt der Zerstörung der vorkapitalistischen arabisch-islamischen Welt, und daher als Ideologie sowie als politisches Projekt unwiederbringlich durch die Moderne und den Kapitalismus geprägt. (Der Islamismus hat daher viel gemeinsam mit dem Nationalsozialismus, der sich auf eine vorkapitalistische Gemeinschaft und die arische Religion bezog, während er die brutalsten Realitäten des Kapitalismus und Imperialismus umsetzte).«
  • 2. Vgl. den Brown University Report: Costs of the 20-year war on terror: $8 trillion and 900,000 deaths (https://www.brown.edu/news/2021-09-01/costsofwar). Die zahlreichen Todesfälle, die eine indirekte Folge dieser Kriege waren, wie Krankheiten, Vertreibung und der Verlust des Zugangs zu Nahrungsmitteln oder sauberem Trinkwasser, werden hier nicht berücksichtigt.
  • 3. Im Jahr 2022 lagen sie bei 2,2 Billionen Dollar. In seiner Fernsehansprache zu Gaza am 20. Oktober prahlte Biden schamlos damit, dass dadurch »viele gute Jobs« in der amerikanischen Rüstungsindustrie entstünden.