Die Komplizenschaft der deutschen Linken. Zur Absage unserer Veranstaltung bei der Gruppe La Banda Vaga
Anfang Oktober des letzten Jahres konnten Touristen in Berlin Mitte einem bizarren Schauspiel beiwohnen. Mehrere hundert Menschen waren „Unter den Linden“ verabredet, um gegen Antisemitismus und Islamismus zu demonstrieren. Die Veranstalter sorgten für ein Fahnenmeer an kleinen und großen Israelfahnen und die fast ausschließlich deutschen Demonstrierenden zogen mit Schildern, auf denen „Gegen jeden Antisemitismus“, „Solidarität mit Israel“ und „Fight Islamism“ zu lesen war, als schwarzer Block durch Berlin Mitte. Als es zu einer kleinen Störaktion propalästinensischer Gruppen kam, schritt die deutsche Polizei gewohnt brutal ein und wurde für ihre Gewalt durch die Demonstrierenden bejubelt. Man trug schließlich auch Fahnen der IDF und Schilder, die die Forderung aufstellten, „Queers for Palestine“ anzugreifen. Jeder vernünftige Tourist musste die Demonstration für eine rechte oder rechtsextreme halten.
Hinter diesem Aufmarsch für Israel und gegen Palästina steckte jedoch ein sich als links und antiautoritär verstehendes „Bündnis gegen autoritäre Formierung“. Laut dem Aufruf richtete sich die Demonstration gegen die globale Israelkritik seit dem 7.10.2023, gegen eine antisemitische Internationale, die durch ein weltumspannendes Netz von Queers über Kommunist:innen und Intellektuellen bin hin zu den Vereinten Nationen und palästinensischen Terroristen gebildet werde. Diese antisemitische Internationale betreibe eine „postkoloniale Dekonstruktion des Holocausts“ und verbreite „die Lüge des Genozids an den Palästinensern“. Die Antwort auf diese internationale Verschwörung der Antisemiten laute folglich: „Solidarität mit Israel“ und „Nieder mit dem Islamismus“.
Anders als für linke Demonstrationen üblich waren diese Parolen jedoch keine abstrakten Formeln und realitätsferne Hoffnungsbekundungen, vielmehr begingen die Demonstrierenden den ersten Jahrestag des Krieges Israels und seiner westlichen Alliierten gegen die Palästinenser:innen und die mit ihnen solidarischen Menschen in den westlichen Ländern. Während vor allem in Deutschland und den USA progressive Regierungen bereits seit einem Jahr eine präzedenzlose Repressionskampagne gegen die Palästinenser:innen und antikoloniale Queers, Intellektuelle und Kommunist:innen führten, arbeitete das israelische Militär, mit tatkräftiger finanzieller und militärischer Hilfe seiner westlichen Freunde, im Oktober 2024 daran, Nord-Gaza abzuriegeln und auszuhungern1. Die Palästinenser:innen, im Oktober 2023 zu „menschlichen Tieren“ und zur terroristischen und feindlichen Rasse erklärt, wurden mit dem Einverständnis der westlichen Regierungen zur Vernichtung freigegeben. In weniger als sieben Wochen tötete die israelische Mordmaschinerie bis Mitte November 2023 in Gaza mehr Kinder als im Jahr 2022 in allen größeren bewaffneten Konflikten der Erde einschließlich der Ukraine zusammen zu Tode kamen. Israel zerstört(e) gezielt Schulen, Universitäten2, die landwirtschaftliche Infrastruktur3, Moscheen und Krankenhäuser4. Im Sommer 2024 produzierte diese Mordkampagne in dem 41 Kilometer langen Gazastreifen bereits mehr Schutt als in der Ukraine, mit einer Frontlänge von 1000 Kilometern. Anfang Oktober 2024, als die Demonstrierenden in Berlin Mitte den israelischen Kampf gegen Antisemitismus und Islamismus beklatschten, waren bereits knapp 42.000 Palästinenser:innen tot, darunter mehr als 13.000 Kinder. Zeitgleich verschärfte Israel die Gewalt der Okkupation in der Westbank5 und begann seine Bodenoffensive im Libanon6. Seit der Aufkündigung der Waffenruhe durch die Netanjahu-Regierung Mitte März, die Gaza nun auch mit schweren US-Bomben angreifen darf, ist die Zahl der Toten mittlerweile auf knapp 61.000 gestiegen, mehr als 110.000 Bewohner Gazas sind verwundet und mehr als 14.000 Menschen werden noch unter den Trümmern vermutet.7 Den noch Lebenden hat man bis heute zudem 92 Prozent ihrer Wohneinheiten zerstört. Gleichzeitig hat Israel vor einigen Wochen mit der Blockade des Gazastreifens begonnen, was u.a. dazu führte, dass alle 25 verbliebenen Bäckereien in Gaza schließen mussten und mittlerweile 85 Prozent der Bevölkerung keinen Zugang zu Grundnahrungsmitteln haben. Israelische Politiker sprechen, ermutigt durch die Linie der Trump Regierung, mittlerweile ganz unumwunden von der ethnischen Säuberung des Streifens und kündigen eine neue umfassende Offensive an. Die unvorstellbare Wahrheit ist wohl, dass Gaza das Schlimmste noch bevorsteht.
Das „Bündnis gegen autoritäre Formierung“, das diesen israelischen Krieg gegen Antisemitismus und Islamismus als den eigenen begreift, veranstaltet nun Anfang Mai in Berlin einen sogenannten Kongress mit dem Titel „Antifa out of line – Kongress gegen die autoritäre Formierung“. Man hätte erwarten können, dass, angesichts der rassistischen und menschenfeindlichen Niedertracht der politischen Linie und dem völlig bizarren Selbstverständnis der Gruppe8, kein Mensch oder Linker, der etwas auf sich hält, an einem derartigen sogenannten Kongress teilnehmen würde. Doch wir haben uns getäuscht. Die antinationale Linke ist dem Ruf der Völkermordleugner gefolgt und will mit ihnen über Autoritarismus diskutieren. Als wäre man auf einer postautonomen Konferenz des Jahres 2013 wollen Andrea Trumann und Ernst Lohoff über Arbeitskritik, Tomasz Konicz mit Stephan Grigat über den Weltmarkt, Thomas Ebermann, die Gruppe Vogliamo Tutto und die Redaktion Polemos über die Krise der Linksradikalen und Ilse Bindseil und Koschka Linkerhand über Geschlecht und Intifada debattieren. Zugleich wird die Psychoanalyse missbraucht, um die Wirklichkeit der israelischen Verbrechen und die palästinensische Erfahrung zu leugnen, es wird vor völlig irrelevanten K-Gruppen gewarnt als wäre der heraufziehende Autoritarismus ein roter, und es werden in erster Linie der Islam und die Palästinenser:innen als Hauptfeinde ausgemacht – nicht der deutsche Staat, nicht der grassierende Rassismus, nicht die Austerität, und auch nicht die massive Militarisierung, die sich gegenwärtig ankündigt. Die autoritäre Bedrohung scheint stattdessen von stalinistischen Muslimen auszugehen.
Mit Bestürzung mussten wir feststellen, dass eine der Gruppen, die auf dieser sogenannten Konferenz einen Beitrag zur Islamkritik beisteuert, die Gruppe La Banda Vaga ist, die uns für den 11.04. zu einer Vorstellung unseres Buches „Sterben und sterben lassen – Der Ukrainekrieg als Klassenkonflikt“ nach Freiburg eingeladen hat. Wir erwarteten nun, dass wir die Genoss:innen lediglich auf den Charakter der Konferenz hinweisen müssen, damit diese die Absage ihres Vortrages erklären. Doch wir täuschten uns erneut. Die Gruppe erklärte uns, dass sie eine Intervention auf dem sogenannten Kongress als sinnvoll erachten. Dass sie die Teilnehmer:innen dieser Konferenz, die nach 18 Monaten Massenmord in Gaza immer noch an der Illegitimität von Israelkritik festhalten, ja sogar die Solidarität mit dem israelischen Staat fordern, als rationale Gesprächspartner betrachten, die möglicherweise sogar offen wären für materialistische Gesellschaftskritik. Menschen, die beim Anblick der Trümmerwüste von Gaza immer noch von der Wahnhaftigkeit der palästinensischen Perspektive überzeugt sind, materialistische Gesellschaftskritik beibringen zu wollen muss jedoch an die Sinnhaftigkeit einer Auseinandersetzung mit einem Antisemiten erinnern, die, laut Leszek Kolakowski, „immer dem Versuch ähneln muss, einem Tier das Sprechen beizubringen.“ Da La Banda Vaga offenbar nicht vorhaben, die diesem Gegenstand adäquate Auseinandersetzung zu suchen, d.h. die Veranstaltung zu sprengen, das Publikum zu beleidigen oder Briefe aus Gaza vorzulesen, sehen wir uns gezwungen, die Veranstaltung in Freiburg abzusagen, da wir diese Vorgänge nicht unwidersprochen lassen können.
Wir haben uns als revolutionärer antimilitaristischer Arbeitskreis gegründet, um gegen den Militarismus und das Kriegsgetrommel, auch in der Linken, Widerspruch einzulegen. Seit der Aufkündigung des Transatlantismus durch die Trumpadministration kennt der Militarismus keinerlei Schranken mehr. Die kürzlich vorgenommene Grundgesetzänderung legt fest, dass alle Militärausgaben, die ein Prozent der Wirtschaftsleistung überschreiten, von der Schuldenbremse auszunehmen seien, de facto bedeutet dies die schrankenlose Aufrüstung. Die dabei anfallenden Zinsen müssen jedoch aus den kommenden Haushalten bestritten werden. Das bedeutet Sozialkahlschlag per Verfassung, der jedem politischen Willen entzogen ist.
Der innenpolitische Ausdruck dieser autoritären Militarisierung der Gesellschaft ist die massive Repression gegen diejenigen, die Kritik am Kriegskurs des deutschen Imperialismus und seiner Verbündeten üben. Dies ist momentan die Soli-Bewegung für Palästina. Sie ist der Stachel im Fleisch des deutschen Imperialismus, dessen Großmachtambitionen sich spätestens seit der Annexion der DDR hinter Erinnerungspolitik und Menschenrechtsgeschwätz verbergen, dessen Kriegsgeilheit stets den Anstrich des Progressiven und Antifaschistischen bedarf. Das barbarische Gemetzel, das Israel in Gaza mit 30 Prozent deutschen Waffen und der bedingungslosen Solidarität der BRD veranstaltet, hat dieses Lügengebäude freilich zertrümmert. Um das einsturzgefährdete Gebäude eines menschlichen deutschen Imperialismus vor dem Zusammenbruch zu bewahren und um allen kommenden antimilitaristischen Bewegungen ein abschreckendes Exempel zu statuieren, wurde und wird die Bewegung mit einer noch nie dagewesenen Repression überzogen: Menschen verlieren ihre Arbeitsplätze, Räumlichkeiten werden geschlossen, Konferenzen polizeilich geräumt, Demonstrationen brutal angegriffen und verboten, staatliche Gelder gestrichen, Aktivist:innen die Einreise in die BRD verboten oder die arabische Sprache auf öffentlichen Veranstaltungen verboten. Mittlerweile hat der autoritäre Staat mit der Ausweisung von Aktivist:innen begonnen9. Dies fällt dem Staat umso leichter, da es sich v.a. um Migrant:innen handelt, die der Repression, ohne Lobby und oft mit prekärem Aufenthaltsstatus, besonders schutzlos ausgeliefert sind. Begleitet wird die Repression durch eine rassistische Schmutzkampagne der deutschen Medien und staatsloyaler NGOs. Von den Springer Medien über die taz bis zur Jungle World, von der Amadeo Antonio Stiftung über Volker Becks Tikvah Institut bis hin zur Jungen Union hat sich in den letzten Monaten eine rechts-liberale Querfront herausgebildet, die in Deutschland ihren diskursiven Beitrag zum Genozid10an den Palästinenser:innen leistet.
Der sogenannte „Kongress gegen autoritäre Formierung“ ist Teil dieser Querfront und der autoritären Mobilmachung und Militarisierung der deutschen Gesellschaft. Er leugnet nicht nur das Morden in Gaza und spricht davon, „dass die schlimmsten antisemitischen Unzumutbarkeiten nicht von Antifa-Gruppen, sondern von staatlichen Institutionen unterbunden wurden“, er dient in seiner inhaltlichen Ausrichtung auch als Stichwortgeber der Repression und Verfolgung, betreibt rassistische Feindmarkierung, ist Tummelplatz und Netzwerkbühne für ex-linke Karrieristen, die es sich auch in einer autoritären Zukunft im deutschen Überbauapparat gemütlich einrichten wollen, ist ideologische Brutstätte des progressiven Militarismus. Die Teilnahme so vieler Gruppen und Einzelpersonen aus dem antinationalen Spektrum sorgt zugleich für eine Normalisierung und ein Leftwashing dieser autoritären, rassistischen und militaristischen Positionen, die voll und ganz auf Linie der deutschen Staatsräson sind, diese in Teilen sogar rechts überholen. Dass derartige Positionen nicht sofort zur Exkommunikation aus der Linken führen, zeugt vom tiefen Rechtsruck der deutschen Linken. Wir fordern deshalb von allen Genoss:innen, denen es mit einer antimilitaristischen, antiautoritären und internationalistischen Position noch irgendwie ernst ist, derartigen Tendenzen in der Linken entgegenzutreten. Im Falle dieser Konferenz und den mit ihr verwandten Tendenzen kann die Konsequenz freilich nur die Konfrontation und der Bruch sein.
- 1. https://www.972mag.com/northern-gaza-siege-jabalia-beit-lahiya/
- 2. https://news.un.org/en/story/2024/04/1148716; https://reliefweb.int/report/occupied-palestinian-territory/scholastici…
- 3. https://www.aljazeera.com/news/longform/2024/7/2/how-israel-destroyed-g…; https://www.theguardian.com/world/2024/nov/21/gaza-food-production-deci…
- 4. https://www.972mag.com/slow-quiet-death-gaza-hospitals/
- 5. https://www.972mag.com/jenin-operation-summer-camps/
- 6. https://www.972mag.com/lebanon-hezbollah-pagers-israel-gaza/
- 7. Eine Studie des renommierten medizinischen Fachzeitschrift The Lancet vom Juli 2024 ging davon aus, dass in derartigen Konflikten nach einer konservativen Schätzung auf einen direkten Toten vier indirekte Tote zu addieren sind. Im Juli kalkulierte die Studie so ca. 186.000 Tote als Folge des Gaza-Krieges, was ca. 7 Prozent der Bevölkerung Gazas von 2022 ausmachte. Mittlerweile kann auf dieser Basis von mehr als 10 Prozent der Bevölkerung Gazas ausgegangen werden.
- 8. https://gegenform.tem.li/selbstverstaendnis/
- 9. https://theintercept.com/2025/03/31/germany-gaza-protesters-deport/
- 10. Dass es sich um eine genozidale Dynamik handelt, hat die Arbeit von Forensic Architecture überzeugend herausgearbeitet: “Im Artikel II Absatz c) der von Lemkin erarbeiten Genocide Convention wird Folgendes ausgeführt : "In the present Convention, genocide means any of the following acts committed with intent to destroy, in whole or in part, a national, ethnical, racial or religious group, as such: (a) Killing members of the group; (b) Causing serious bodily or mental harm to members of the group; (c) Deliberately inflicting on the group conditions of life calculated to bring about its physical destruction in whole or in part; (d) Imposing measures intended to prevent births within the group; (e) Forcibly transferring children of the group to another group." Was seit Oktober 2023 in Gaza geschieht, lässt sich eindeutig als Handlungen einordnen, die im Sinne von (c) "vorsätzliche Lebensbedingungen für die Gruppe schaffen, die darauf abzielen, ihre physische Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen", zu bewerten sind. FA hat in ihrer Untersuchung Cartography of Genocide aufgezeigt, dass sich in der israelischen Kriegsführung bestimmte Muster ("patterns", siehe Link oben links) herausgebildet haben, die gemäß Punkt (c) als genozidal bezeichnet werden müssen: „90 % der Bevölkerung vertrieben; Einschließung in der sogenannten ‘humanitären Zone’; Angriffe auf ebenjene ‘humanitäre Zone’; gezielt herbeigeführte Hungersnot (Unterbindung von Lebensmittellieferungen bei gleichzeitiger Zerstörung landwirtschaftlicher Nutzflächen); besetzte Krankenhäuser; Zivilbevölkerung vom Zugang zu medizinischer Versorgung abgeschnitten; …“ https://gaza.forensic-architecture.org/database Weitere Studien und Analysen zur Frage des Genozids: https://www.deutschlandfunk.de/nach-hrw-bericht-veruebt-israel-in-gaza-…; https://www.msf.org/life-death-trap-gaza-palestine; https://www.amnesty.org/en/documents/mde15/8668/2024/en/; https://www.hrw.org/report/2024/12/19/extermination-and-acts-genocide/i…; https://mondediplo.com/2024/02/03south-africa-israel-case; https://www.un.org/unispal/document/genocide-as-colonial-erasure-report…