Die erste russische Revolution 1905

27. April 2023

Die vorherrschende Organisationsform der sozialistischen Bewegung in Zentralrussland war lange Zeit das dezentrale Zirkelwesen. Nach der Jahrhundertwende kam es im russischen Reich zu einer Verschärfung des Klassenkampfes, die ihren Höhepunkt in einer Welle von Streiks in Südrussland 1903 erreichte. Vor dem Hintergrund der sich entfaltenden Streikdynamik arbeiteten die russischen Sozialist:innen nun daran, neue übergeordnete Organisationsstrukturen zu schaffen, die die sozialistische Bewegung vereinen sollten. Dies gelang in gewissem Maße mit der Gründung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands (SDAPR), die sich jedoch bereits auf dem zweiten Parteitag 1903 in zwei Fraktionen spaltete, in Bolschewiki und Menschewiki. Die stärker in der Tradition des russischen Populismus stehenden Sozialrevolutionäre wiederum gründeten Anfang 1902 die Partei der Sozialrevolutionäre.

Mit dem Ausbruch der ersten russischen Revolution im Januar 1905 durch den sogenannten Petersburger Blutsonntag zog eine mehrere Monate andauernde Streikwelle durch das Reich. Der von den Arbeiter:innen geführten revolutionären Bewegung, der sich auch maßgebliche Teile der besitzenden Klassen anschlossen, gelang es jedoch erst im Herbst die Regierung zu Zugeständnissen zu zwingen. Zar Nikolai verkündete das Oktobermanifest, das demokratische und bürgerliche Freiheiten versprach. Mit der sich anschließenden Radikalisierung der Arbeiterbewegung in den Tagen der Freiheit und dem gleichzeitigen Gesinnungswandel der Liberalen, die ihre Hoffnungen nun in Reformen von oben setzten, vollzog sich bald jedoch ein Bruch innerhalb der revolutionären Bewegung. Die Liberalen begannen sich von den Arbeiter:innen abzuwenden, während die Bäuer:innen, Soldaten und Matrosen rebellierten. Die Revolution wurde blutig niedergeschlagen und endete für die Arbeiter:innen in einer herben Niederlage, aus der die russischen Sozialdemokrat:innen unterschiedliche Schlüsse zogen: Während die moderate Fraktion eine zu radikal auftretende Arbeiterbewegung für das Scheitern der Revolution verantwortlich machte, folgerte die radikale Fraktion, dass jegliches strategische Bündnis mit den Liberalen abzulehnen sei. Sie plädierte stattdessen für ein revolutionäres Bündnis der Arbeiter:innen mit den Bäuer:innen.

 

Die Iskra und der zweite Kongress der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands

Um die Jahrhundertwende kam es im russischen Reich zu einer Reihe von Parteigründungen. Hatten sich zunächst in Polen die ersten sozialistischen Parteien konsolidiert (Polnische Sozialistische Partei, Sozialdemokratie des Königreichs Polen und Litauens), so gründete sich 1897 in Vilnius der Allgemeine jüdische Arbeiterbund (Bund), der vor allem Arbeiter im jüdischen Ansiedlungsrayon organisierte und über Jahre hinweg die mitgliederstärkste sozialistische Partei im Zarenreich blieb. Der erste Versuch, eine das ganze Reich übergreifende sozialdemokratische Partei zu gründen, fand 1898 in Minsk unter zentraler Beteiligung des Bundes statt. Die Großzahl der Delegierten wurde jedoch kurz nach dem Kongress verhaftet und die Initiative für den Parteiaufbau fiel daraufhin Lenin und Martow zu, die mittlerweile aus ihrer sibirischen Gefangenschaft zurückgekehrt waren. Um den Parteiaufbau voranzutreiben, nahmen sie  Kontakt mit den Vertretern der Gruppe Befreiung der Arbeit auf. So entstand 1900 die Zeitung Iskra (Der Funke). Die Arbeit an der Herausgabe und Verbreitung der Zeitung wurde explizit als Beitrag zum Aufbau der sozialdemokratischen Partei verstanden: Die zuvor mehr oder weniger isoliert arbeitenden und über das Reich verstreuten sozialdemokratischen Zirkel sollten durch das Verfassen von Beiträgen wieauch durch den Vertrieb der Zeitung in einer gemeinsamen Aufgabe vereint werden. Mit der Zeit erkannten immer mehr lokale Zirkel die Iskra als führende Stimme der Partei an. Als mittelfristiges Ziel setzte man sich die Einberufung eines Parteikongresses, der die Organisation auf eine neue Stufe heben sollte. Die Iskra propagierte ein Modell von Organisation, das auf Effizienz, Disziplin und Zentralismus ausgerichtet war. So sollte das Risiko minimiert werden, dass die lokalen Zirkel von der Polizei durch Verhaftungen aufgerieben werden, um so ihre Lebensdauer – bis dahin zumeist nur einige Monate – zu verlängern. Diese üblicherweise einseitig mit ‚Leninismus‘ oder ‚Bolschewismus‘ in Verbindung gebrachten Prinzipien waren das Kennzeichen der überwiegenden Mehrzahl der sozialdemokratischen Organisationen im russischen Kaiserreich, beispielsweise des jüdischen Bund, der der Iskra aufgrund seines effizient organisierten Untergrundapparats als Vorbild diente.1

Die Iskra-Linie zeichnete sich dadurch aus, dass sie die Beschränkung der politischen Arbeit auf Streiks und ökonomische Kämpfe kritisierte. Sie betonte demgegenüber die Zentralität politischer Freiheiten und versuchte die Aufmerksamkeit der Arbeiter:innen auf Themen zu lenken, die von ihrem Alltag weiter entfernt waren. Außerdem beharrte sie auf der Notwendigkeit einer Zusammenarbeit von liberalen und proletarischen Kräften im Kampf gegen den Zarismus. Mit der Zeit gewann die Iskra die Unterstützung der meisten regionalen Organisationen der SDAPR und bildete auf dieser Basis ein Organisationskomitee, das alle Gruppen umfasste, die sich als Teil der Partei verstanden. Das Ergebnis dieser langwierigen, aber für die damaligen Verhältnisse relativ demokratisch ablaufenden Bemühungen war die Einberufung eines zweiten Parteikongresses, der im Juli und August 1903 in Brüssel und London stattfinden sollte.2

An diesem Kongress nahmen über 50 Delegierte teil, die 26 Organisationen vertraten. Anwesend waren u.a. Angehörige der Gruppen Befreiung der Arbeit, der Iskra, des Bund, der Auslandsorganisationen der russischen Sozialdemokratie sowie von sozialdemokratischen Stadtkomitees. Obwohl die meisten Delegierten die Iskra-Linie unterstützten, kam es auf dem Kongress zu einer Spaltung zwischen den Bolschewiki (Mehrheitler) und Menschewiki (Minderheitler), die auf Differenzen innerhalb der Iskra-Organisation, insbesondere zwischen Martow und Lenin, beruhte.3 Weil die Unterstützer:innen der Iskra die Mehrheit stellten und so die politische und organisatorische Ausrichtung der Partei bestimmen konnten, befürchtete Martow, dass die Vertreter:innen der Minderheitengruppen, darunter der Bund, dieJushnyj rabotschij (Südlicher Arbeiter) und dieRabotscheje Delo (Arbeitersache), die Ausrichtung der Partei nicht mittragen würden.4 Er wollte ihnen deshalb Zugeständnisse machen, beispielsweise durch die Wahl eines ihrer Mitglieder ins Zentralkomitee. Das Kalkül Martows ging jedoch nicht auf, da die Delegierten des Bund sowie einige Unterstützer der Rabotscheje Delo wenig kompromissbereit waren und vorzeitig den Kongress verließen. Martow konnte so keine Mehrheit hinter sich vereinen. Er wusste laut Richard Mullin nicht, dass die Delegierten des Bund vor dem Kongress von ihrer Partei instruiert worden waren, organisatorische Mindestforderungen zu stellen, von deren Erfüllung ihr Verbleib in der SDAPR abhing. So forderte der Bund unter anderemein Monopol auf die Organisierung der jüdischen Arbeiter, was von der Kongressmehrheit abgelehnt wurde.5 Die Tatsache, dass einige der oppositionellen Delegierten den Kongress verließen, führte dazu, dass die Gruppe um Lenin nun die Mehrheit bildete. Die anschließende Weigerung Martows, die Entscheidungen des Kongresses zu akzeptieren, führte letztendlich zur Spaltung der Partei in zwei Fraktionen. Dem Konflikt zwischen Martow und Lenin lag jedoch weniger ein prinzipieller politischer oder theoretischer Dissens zugrunde als vielmehr eine unterschiedliche Auffassung darüber, wie man mit den auf dem Kongress zu Tage tretenden Streitpunkten zwischen den verschiedenen Gruppierungen umgehen sollte, denn die Vertreter des Iuzhnyi Rabochii, der Rabotscheje Delo und des Bund waren unzufrieden damit, dass die Iskra-Organisation die Mehrheit der Delegierten stellte. Sie suchten daher in der Folge den Kongressablauf zu sabotieren. Während Martow einen Kompromiss mit dieser Minderheit suchte, strebte Lenin die Wahl einer Parteiführung an, die sich aus Angehörigen der Iskra-Organisation zusammensetzen sollte. Da auf den Kongress heftige Polemiken und gegenseitige Anschuldigungen folgten, wurde die Spaltung nachträglich auf angebliche grundsätzliche (organisations-)politische Differenzen zwischen den beiden Fraktionen zurückgeführt.6 Die Parteibasis selbst reagierte überwiegend ablehnend auf sie: Auf die meisten Stadtkomitees im russischen Reich hatte die Spaltung keine unmittelbaren Auswirkungen, da die Aktivist:innen wie gehabt weiter zusammenarbeiteten und sich nicht mit einer der beiden Richtungen identifizierten.

 

Die Gründung der Sozialrevolutionären Partei

Die Wiederbelebung der revolutionären Bewegung Mitte der 1890er Jahre ging nicht nur mit dem rasanten Aufstieg der russischen Sozialdemokratie einher, sondern auch mit der Entstehung einer Reihe von Gruppen und Organisationen, die sich auf das populistische Erbe bezogen, darunter die Nördliche Union der Sozialrevolutionäre, die Südliche Partei der Sozialrevolutionäre sowie die Agrarsozialistische Liga. Im Gegensatz zu den alten sozialrevolutionären Organisationen sahen sie ihre Hauptaufgabe in der Agitation und Organisation des städtischen Proletariats, da sie zu der Einschätzung gelangt waren, dass eine revolutionäre Massenbewegung der Bauern zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht möglich sei.7 1902 vereinigten sich einige dieser verstreuten Gruppierungen zur Partei der Sozialrevolutionäre (PSR). Fast alle sozialrevolutionären Organisationen innerhalb des russischen Reiches vertraten um die Jahrhundertwende die Auffassung, dass das Industrieproletariat in den städtischen Zentren der zentrale Akteur der Revolution sein würde. Diese fast ausschließliche Konzentration auf das städtische Proletariat geriet ins Wanken, als 1902 in den Regionen Poltawa und Charkow eine Bauernrevolte losbrach, die weite Teile Südrusslands erfasste. Von diesem Zeitpunkt an widmeten sich die Sozialrevolutionäre (SR) leidenschaftlich den bäuerlichen Angelegenheiten. Eine der ersten Errungenschaften war die Gründung des SR-Bauernbundes im Jahr 1902. Unter der Schirmherrschaft der SR wurden in weiten Teilen des ländlichen Russlands bewaffnete Bauernbruderschaften organisiert. Große Auflagen bauernorientierter Agitationsliteratur wurden verbreitet und Bauernzeitungen gegründet. Trotz dieses wiedererstarkenden Interesses an der Landbevölkerung war selbst der Führer des bauernfreundlichen Flügels der Sozialrevolutionäre Viktor Chernow der Auffassung, dass die Industriearbeiter:innen die Avantgarde der revolutionären Bewegung bilden würden. Viele SR-Theoretiker:innen gestanden zudem ein, dass die Industrialisierung Russlands unvermeidlich sei und die Geldwirtschaft sich bereits ausgebreitet habe. Sie hatten somit eine deutlich skeptischere Perspektive auf die Dorfgemeinde als die klassischen Populist:innen. 1902 wurde als autonome Organisation innerhalb der PSR die Kampforganisation gegründet. Sie verübte eine Vielzahl von Terroranschlägen gegen Vertreter der Strafverfolgungsbehörden und hochrangige Beamte, beispielsweise Mordanschläge auf den Innenminister von Plehwe und auf den Großfürsten Sergei Alexandrowitsch, den Onkel von Nikolaus II. Der langjährige Leiter der Kampforganisation, Jewno Asef, wurde später als Polizeispitzel enttarnt.

Zu den Sozialdemokraten hatten die SR ein angespanntes Verhältnis: Auf dem zweiten Kongress der SDAPR wurden die SR von den Sozialdemokraten als ‚Kleinbürger‘ gebrandmarkt, obwohl sich die Anhängerschaft beider Strömungen aus ähnlichen Schichten rekrutierte. Im Laufe des Jahres 1905 traten allerdings auch Sozialdemokraten vermehrt für ein Bündnis aus Arbeitern und Bauern ein und nährten sich damit de facto den SR an, auch wenn sie deren strategische Ausrichtung auf Terror strikt ablehnten und ihnen vorwarfen, mit der Rede von den »arbeitenden Massen« die Differenzen zwischen Arbeitern und Bauern zu verschleiern.

 

Der Generalstreik in Rostow-am-Don im November 1902 und die Generalstreiks 1903

Von 1895 und 1903 stieg die Zahl der Streiks im Zarenreich um das Siebeneinhalbfache. Der Klassenkampf in den Fabriken nahm schnell ein Ausmaß an, das selbst die als Vorbild dienende sozialdemokratische Bewegung in Deutschland in den Schatten stellte. So war beispielsweise die Hälfte aller jüdischen Industriearbeiter:innen im Zarenreich zwischen 1895 und 1903 an einem Streik beteiligt, was etwa dem Fünffachen des durchschnittlichen Anteils der Streikenden im Deutschen Reich entspricht. Aufgrund des Verbots von legalen Massenorganisationen wie Parteien und Gewerkschaften und in Ermangelung eines Parlaments konzentrierten sich sowohl die Arbeiter:innen als auch die Sozialisten in einem beispiellosen Maß auf Massenaktionen. Der Zarismus erforderte offensichtlich eine andere taktische Ausrichtung als in Deutschland, wo die SPD auf die Stärkung des Bewusstseins und die Organisation der Arbeiterklasse durch legale Mittel setzte.8

Die bedeutendste Streikwelle dieser Periode fegte 1903 über Südrussland hinweg und ergriff Städte wie Tiflis, Odessa, Kiew, Batumi, Nikolajew und Baku. Ihren Vorläufer hatte sie in einem Generalstreik in Rostow-am-Don, einem bedeutenden Verkehrsknotenpunkt nördlich des Kaukasus, ausgelöst durch die immer schlechteren Arbeitsbedingungen in den Hauptwerkstätten der Wladikawkas-Eisenbahn: Politisch Aktive wurden entlassen, die verbliebene Belegschaft verlor u.a. das Recht,  ihre Vorarbeiter selbst zu wählen. Genau an diesem Punkt setzte ein Flugblatt des in Rostow-am-Don aktiven sozialdemokratischen Komitees an, das am 2. Oktober 1902 verteilt wurde und die herablassende Haltung der Vorarbeiter thematisierte. Einen Monat später, als einem Arbeiter zu wenig Lohn ausbezahlt wurde, spitzte der Konflikt sich zu. Ein Streik brach aus, der von den Mitgliedern des Rostower Komitees unterstützt wurde. Die Arbeiter:innen forderten u.a. bessere Bezahlung und kürzere Arbeitszeiten. Der Streik schwappte auf andere Fabriken in der Stadt über. In den folgenden Tagen kam es zu Massenversammlungen vor dem Tor der Eisenbahnwerkstätten, an denen circa 10.000 Menschen beteiligt waren:

»Obwohl nach wie vor der Streik der Eisenbahnarbeiter im Mittelpunkt stand, begannen die Kundgebungen unter dem Druck der Behörden und dem Einfluss sozialdemokratischer Redner allgemeine Fragen des politischen Lebens anzusprechen und zogen so einen breiten Teil der Bevölkerung an. Ein Teilnehmer erinnerte sich: Es war, als ob die Stadt von einer Psychose ergriffen worden wäre. Alles machte zu. Die Geschäfte schlossen ihre Türen und der Handel kam langsam zum Stillstand. Die gesamte Bevölkerung kam zu den Versammlungen: Kaufleute, Beamte, Damen in Kutschen mit Lorgnetten in der Hand. Ein Memoirenschreiber berichtet, dass es als Verrat galt, wenn man nicht zu den Versammlungen ging9

Statt auf die Forderungen der Streikenden einzugehen, versuchten die Autoritäten den Streik mithilfe von Kosakeneinheiten aufzulösen. Da dies nicht gelang, erklärte sich der Ataman der Region zu einem Treffen mit den Arbeiter:innen bereit. Er lehnte jedoch ihre Forderungen ab, was zur Folge hatte, dass sich am 10. November 30.000 Menschen an einer Demonstration beteiligten. Arbeiter:innen waren teilweise aus anderen Städten der Region angereist, um die Streikenden zu unterstützten. Durch die unnachgiebige Haltung der staatlichen Autoritäten nahm der ursprünglich ökonomisch motivierte Streik sukzessive einen politischen Charakter an:

»Der Sozialdemokrat Mochalow betonte später, dass die Kundgebung vom 10. November eine kolossale Bedeutung für die gesamte Bevölkerung hatte. Auf den Straßen trauten sich die Menschen, über politische Freiheit, über den Kampf und das Wachstum der Arbeiterklasse zu sprechen... Sie kritisierten den russischen Staat: Sie genierten sich nicht ihre Meinung zu sagen. Es schien, als ob Russland bereits eine Verfassung in Kraft wäre und Meinungsfreiheit herrschte.«10

Dabei wollten die Arbeiter:innen zunächst nichts von der politischen Agitation der örtlichen Sozialdemokraten wissen. Dies begann sich jedoch mit der Zeit zu ändern, da der Streik diesen die Möglichkeit bot, für ihre Sache zu agitieren. Die kompromisslose Haltung der Behörden tat ihr Übriges, um die Arbeiter:innen dazu zu bewegen, ihre anfängliche Ablehnung aufzugeben. Am Ende waren die Streiks jedoch nicht erfolgreich: Im weiteren Verlauf wurden sechs Streikende getötet und Truppen nach Rostow entsandt, um die Kämpfe zu ersticken und in den Arbeitervierteln für Ruhe zu sorgen. Im Gegensatz dazu wurden im Zuge der sich im Sommer 1903 entzündenden Welle von Generalstreiks im Süden Russlands jedoch zahlreiche Forderungen erfüllt. Der Süden Russlands verwandelte sich, so Rosa Luxemburg, »für einige Wochen in eine bizarre, revolutionäre Arbeiterrepublik.«11

 

Der Petersburger Blutsonntag und die darauffolgende Streikwelle

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstand im russischen Reich ein von der Regierung kontrolliertes Netz an Gewerkschaften, das nach dem Leiter einer Spezialabteilung der Polizei, Sergei Subatow, Subatowschtschina genannt wurde. Mit Hilfe der staatlich gelenkten Gewerkschaften sollte der Unmut der Arbeiterschaft kanalisiert und auf rein ökonomische Forderungen gelenkt werden. Nach dem Rücktritt von Subatow übernahm der Priester Georgi Gapon die Leitung der staatlich gelenkten Petersburger Arbeitergesellschaft.12 Er entfernte rasch die Schützlinge von Subatow und besetzte alle verantwortungsvollen Positionen mit seinen eigenen Leuten. Dabei gelang es ihm, die Einmischung der Polizei in die inneren Angelegenheiten der Organisation einzuschränken. Die einzigen Informationen, die das Innenministerium über ihre Aktivitäten erhielt, stammten anscheinend direkt von Gapon selbst, der es jedoch letztlich im Unklaren ließ. Mit der Zeit wuchs die Organisation rasant an und radikalisierte sich, insbesondere nachdem einige von der Sozialdemokratie beeinflusste Arbeiter:innen ihr beitraten. Im Januar 1905 kam es dann zu einem Konflikt in den Putilow-Werken13, der sich zu einem Streik entwickelte und den Auftakt für die Revolution von 1905 bildete. Nach der Entlassung einiger ihrer Mitglieder forderte die Arbeitergesellschaft, sie wiedereinzustellen und stattdessen die für die Kündigung verantwortlichen Vorarbeiter zu entlassen. Die Fabrikleitung und die staatlichen Behörden weigerten sich jedoch, auf die Forderungen einzugehen. Am 3. Januar 1905 trat das Putilow-Werk mit 12.500 Arbeiter:innen in den Streik, dem sich in der Folge weitere Fabriken anschlossen. Insgesamt beteiligten sich 625 Betriebe in St. Petersburg mit 125.000 Beschäftigten an dem Streik. Während der Streiktage beschloss Gapon zusammen mit einer Gruppe von Arbeiter:innen eine Petition an den Zaren zu verfassen, die sowohl politische als auch wirtschaftliche Forderungen enthielt – so beispielsweise nach bürgerlichen Freiheiten, der Einführung des Achtstundentags sowie der Übergabe des Grund und Bodens an das Volk. Am 9. Januar begaben sich zehntausende Arbeiter:innen in einem Sternmarsch auf den Weg zum Winterpalast, um dem Zaren die Petition zu überreichen. Die Armee eröffnete daraufhin das Feuer auf die Demonstrierenden, was zum Tod von mehreren hundert Menschen führte.

In Folge des Blutsonntags erfasste eine Streikwelle das Land, die sich über mehrere Monate hinzog. Die Streiks brachen dabei zunächst relativ spontan aus und drehten sich vor allem um ökonomische Fragen. Die Forderungen, die häufig erst nach Streikbeginn aufgestellt wurden, umfassten beispielsweise den Achtstundentag, bessere Gesundheitsversorgung und eine würdevolle Behandlung von Seiten der Vorarbeiter. Bereits in den ersten drei Monaten des Jahres streikten mehr Menschen als in den entwickelten Ländern des Westens in einem der zurückliegenden Jahre.14

Zumindest ein Teil der Forderungen wurde meistens erfüllt. Erst im Laufe des Jahres nahm die Streikbewegung einen koordinierteren Charakter an, der Einfluss der sozialistischen Parteien auf die Streikbewegung wuchs, es entstanden Gewerkschaften, politische Forderungen gewannen zunehmend an Bedeutung. Einen Schwerpunkt hatte die Streikbewegung in der Peripherie des Reiches. Im Baltikum kam es zu größeren Streiks in Riga und Tallinn. Die Arbeiterunruhen setzten sich dort über das ganze Jahr hin fort und weiteten sich auch auf die Dörfer aus, wo der deutsche Landadel im Besitz der meisten Anbauflächen war. Einen weiteren Schwerpunkt bildete Polen, das wirtschaftlich eine herausragende Rolle für das russische Reich spielte. Dort war die politische Unterdrückung besonders ausgeprägt. Die Arbeiterbewegung nahm hier eine stärker antizaristische, nationalistische Färbung an. Auch in Polen brachen nach dem Blutsonntag gewaltige Streiks aus. Allein in Warschau wurden im Zuge dessen über sechzig Arbeiter:innen getötet. In Lodz, einem Zentrum der Textilindustrie, streikten im Januar 70.000 Arbeiter:innen. Die Stadt kam das ganze Jahr über nicht zur Ruhe. Nachdem ein Arbeiter von Kosaken ermordet wurde und die Polizei das Feuer auf eine Demonstration eröffnete, entfesselte sich im Juni ein bewaffneter Arbeiter:innenaufstand, der von Polizei und Armee blutig niedergeschlagen wurde.

Einer der wichtigsten Streiks dieser Periode in den russischen Kerngebieten war der von ungefähr 30.000 Textilarbeiter:innen in Iwanowo-Wosnessensk, der Mitte Mai ausbrach. Die Arbeitsbedingungen in der Textilindustrie, in der überproportional viele Frauen arbeiteten, waren besonders schlecht. Ein vierzehnstündiger Arbeitstag war die Norm. Als die Streikenden dem Fabrikinspektor eine Liste mit Forderungen vorlegten, schlug dieser vor, dass die einzelnen Betriebe Stellvertreter für Verhandlungen wählen sollten. So entstand der Arbeiter:innenrat von Iwanowo-Wosnessensk, der erste  der Revolution. Im Laufe des Streiks, der sich über Wochen hinzog, versuchte er die Einheit der Bewegung herzustellen. Er schuf u.a. eine Arbeiter:innenmiliz und versuchte die Lebensmittelversorgung der Streikenden zu garantieren. Bei Auseinandersetzungen mit bewaffneten Kosakeneinheiten kamen mehrere Arbeiter:innen zu Tode. Nachdem die Fabrikanten der Bewegung Zugeständnisse gemacht hatten – in vielen Fabriken wurde beispielsweise der Arbeitstag auf zehneinhalb Stunden verkürzt – und weil der lang andauernde Streik die Arbeiter:innen auszehrte, entschloss man sich, die Arbeit wieder aufzunehmen.

 

Der Generalstreik und die Verabschiedung des Oktobermanifests

Im Laufe des Sommers ließ sich die Regierung auf einige Zugeständnisse ein, die jedoch insgesamt keine wirkliche Veränderung des Status Quo bedeuteten. Am 27. August wurde beispielsweise eine Reform von 1884, die die Rechte der Universitäten beschnitt, rückgängig gemacht, sodass Studenten u.a. Versammlungen auf dem Universitätsgelände abhalten konnten. Wie der menschewistische Aktivist N. Cherevanin schreibt, erleichterte die Reform die Vorbereitung des Oktoberstreiks:

»Man kann mit Sicherheit sagen, dass der große Oktoberstreik innerhalb der Mauern der höheren Bildungseinrichtungen in einer Atmosphäre der freien Rede und des leidenschaftlichen Meinungsaustauschs vorbereitet wurde.... Arbeiter, Eisenbahner, Vertreter von Berufsgruppen berieten über ihre Nöte, entschieden, ob sie sich dem begonnenen Streik anschließen wollten oder nicht, organisierten die Kräfte des Streiks und erörterten Maßnahmen, die zu seiner Ausbreitung ergriffen werden sollten.«15

Man begann in den Universitäten politische Vorlesungen abzuhalten, zu denen breite Massen der Bevölkerung strömten, mancherorts wurde Geld für Streikkassen und für die Beschaffung von Waffen gesammelt. Die ersten Anzeichen von Arbeiterunruhen traten Anfang Oktober auf, als die Moskauer Drucker in einem scheinbar routinemäßigen Konflikt über Löhne und Arbeitsbedingungen in den Streik traten. Er verlief zunächst friedlich, doch da sich die Druckerei in der Nähe der Universität befand, kamen die Streikenden in Kontakt mit Studierenden und begannen bald, an politischen Straßenversammlungen teilzunehmen.16

Von größerer Bedeutung war jedoch der kurze Zeit später auf Initiative der erst einige Monate bestehenden Eisenbahnergewerkschaft begonnene Streik. Nachdem diese einen entsprechenden Beschluss gefällt hatte, entschied man sich auch in den Versammlungen in den Universitäten, sich dem Streik anzuschließen. Auch weitere Berufsgruppen traten in den Ausstand: Industriearbeiter:innen, Telegrafenbeamte, Verkäufer:innen, Apotheker, Angestellte von Privatbanken, Regierungsstellen und städtischen Versorgungsbetrieben – der Eisenbahnerstreik weitete sich zu einem allgemeinen politischem Generalstreik aus. Das herausragende Merkmal der von der Arbeiterklasse angeführten Streikbewegung war ihr klassenübergreifender Charakter:

»Einige Industrielle versprachen, ihre Arbeiter für die Streiktage zu bezahlen – ein Versprechen, das eingehalten wurde. Moskauer Industrielle organisierten Frühstückbuffets im Hotel Metropol, um Geld für die Familien der streikenden Arbeiter zu sammeln. Einige wohlhabende Sympathisanten richteten in ihren Häusern Kantinen für Kinder aus mittellosen Familien ein. Die Zusammenarbeit der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen hielt während der gesamten Dauer des Streiks an, was zum großen Teil daran lag, dass man sich auf ein übergeordnetes politisches Ziel konzentrierte, nämlich die Beseitigung des autokratischen Regimes; Differenzen über wirtschaftliche und soziale Fragen wurden heruntergespielt.«17

In St. Petersburg entstand Ende Oktober während des Generalstreiks ein Arbeiterrat, in den Vertreter aus den Fabriken der Hauptstadt entsandt wurden. Seine Bildung ermöglichte es, die Aktionen der Arbeiterklasse zu koordinieren, was der Arbeiterbewegung zusätzliche Schlagkraft verlieh. Der Rat setzte beispielsweise die Pressefreiheit durch, indem er beschloss, dass nur Zeitungen erscheinen durften, die die staatliche Zensurbehörde ignorierten. Die Drucker sollten sich nur dann an die Arbeit machen, wenn sich die Redakteure bereit erklärten, die Pressefreiheit praktisch durchzusetzen.

Insgesamt bildeten die Arbeiter:innen im Herbst 1905 in etwa vierzig bis fünfzig Städten lokale Räte; hinzu kamen einige Bauern- und Soldatenräte. Das Tätigkeitsspektrum dieser Räte war sehr breit. Viele fungierten in erster Linie als Streikkomitees, während andere viel Energie auf den Aufbau von Arbeitermilizen verwandten. Die meisten Räte waren von Sozialdemokraten geprägt: In den Randgebieten des Reichs hatten die Menschewiki die Oberhand, während in Moskau, Kostroma und Twer sowie in den Städten des Donezbeckens die Bolschewiki eine dominierende Rolle einnahmen. Neben den beiden Flügeln der Sozialdemokratie waren die Sozialrevolutionäre in den russischen Kerngebieten die dritte in der Streikbewegung aktive sozialistische Partei.

Durch den Streik konnte so viel Druck auf die Regierung ausgeübt werden, dass Zar Nikolai II. keine andere Wahl blieb, als Zugeständnisse an die Opposition zu machen. Ende Oktober wurde das sogenannte Oktobermanifest verabschiedet. Es versprach die Einführung eines Parlaments, des allgemeinen Wahlrechts sowie bürgerlicher Grundrechte wie beispielsweise der Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit. Nach der Verabschiedung des Oktobermanifests zog eine mehrere Tage dauernde Pogromwelle über das Land, die von den sogenannten Schwarzen Hundertschaften ihren Ausgang nahm – eine Reihe rechtsextremer Organisationen, die sich den Erhalt der zaristischen Autokratie und die Verbreitung der slawischen Orthodoxie zum Ziel setzten. Die Angriffe richteten sich insbesondere gegen die jüdische Bevölkerung. Schätzungen zufolge fanden 690 antijüdische Pogrome statt, bei denen 876 Menschen getötet und weitere 7.000 bis 8.000 verletzt wurden. An fast allen Pogromen waren lokale Regierungsinstitutionen beteiligt, in manchen Orten wurden sie von der Polizei geschürt. Dimitri Trepow, der Generalgouverneur von St. Petersburg und Berater des Zaren, schrieb selbst Pogromaufrufe. An den Pogromen nahmen sowohl Personen teil, die sich durch die Plünderungen bereichern wollten, als auch Schichten der Gesellschaft, für die die Monate anhaltende Offensive gegen den Zarismus eine tiefe Kränkung darstellte. Hierzu gehörten beispielsweise Ladenbesitzer, Kutscher oder Hausmeister, aber auch Angehörige anderer Berufe, die sich an der mit großem Selbstbewusstsein auftretenden Arbeiterbewegung und den offensiv ihre Rechte einfordernden Minderheiten störten. Besondere Wut richtete sich gegen die Jüdinnen und Juden. In rechtsgerichteten Kreisen kursierten damals Schriften wie Die Protokolle der Weisen von Zion, die außerhalb des russischen Reiches noch unbekannt waren. Die Pogrome, die sich vielerorts auch gegen die Arbeiter:innen richteten, waren ein zusätzlicher Antrieb für die Bildung von bewaffneten Arbeitermilizen.18

In den ersten Novemberwochen begann darüber hinaus die Hochphase der Bauernrevolten, die ihren Schwerpunkt in der Provinz Samara hatten. Die Ernte fiel 1905 relativ schlecht aus, darüber hinaus waren die Bäuerinnen und Bauern beeinflusst von der revolutionär-sozialistischen Propaganda. Auf dem Land kursierte zudem das Gerücht, der Zar habe die Aufteilung des Landes befohlen, dieser Beschluss werde von den adeligen Grundbesitzern jedoch unter Verschluss gehalten. Die Bauernschaft begann vielerorts, das den Getreide der Gutsbesitzer unter sich aufzuteilen und sich ihr Land anzueignen. Leisteten die Gutsbesitzer Widerstand, blieb von ihren Häusern oft kein Stein mehr übrig. In manchen Provinzen wurden die Gutshäuser abgebrannt, da man hoffte, dadurch die Herrschaften endgültig von ihren Besitztümern  vertreiben zu können.

 

Die Tage der Freiheit und der bewaffnete Aufstand

Die Wochen nach der Verabschiedung des Oktobermanifests gingen – trotz der anfänglichen Pogrome – als Tage der Freiheit in die Geschichte ein. Sozialistische, sozialrevolutionäre, liberale und andere Zeitungen schossen aus dem Boden, politische Versammlungen wurden immer größer, die sozialistischen Parteien begannen offen für Mitglieder zu werben und weichten ihre konspirativen Organisationsprinzipien auf. Darüber hinaus wuchs die Bedeutung und Zahl der Räte, wobei St. Petersburgeine Vorreiterrolle einnahm. Als Arbeiter:innen in einigen Fabriken St. Petersburgs eigenmächtig den Achtstundentag einführten, sanktionierte der Rat am 14. November dieses Vorgehen und forderte die anderen Arbeiter:innen der Stadt auf, es ihnen gleichzutun. Die einzige sozialistische Partei, die sich gegen dieses Vorgehen aussprach, waren die Sozialrevolutionäre.19 Die Regierung und viele Unternehmer reagierten mit einer Aussperrung, von der mehr als 100.000 Beschäftigte betroffen waren. Um ihr Vorgehen zu koordinieren, gründeten die Unternehmer im Zuge des Streiks den Verband der Fabrikbesitzer. Sie fällten den Entschluss, die Arbeiter:innen nicht für die Streiktage zu entlohnen. Die Auseinandersetzung um den Achtstundentag offenbarte erste Risse in der oppositionellen Bewegung, da in ihr der Interessengegensatz zwischen Arbeiter:innen und Unternehmern offen zum Ausdruck kam.

Eine weitere zentrale Entscheidung des Petersburger Rates war der Aufruf zu einem Solidaritätsstreik für die Kronstädter Matrosen und die oppositionelle Bewegung in Polen. So forderte er die Regierung auf, den Ausnahmezustand in Polen zu beenden und die Matrosen zu begnadigen, die an einem mehrere tausend Personen umfassenden Aufstand in Kronstadt teilgenommen hatten. Dem Streikaufruf folgten jedoch kaum Arbeiter:innen außerhalb der Hauptstadt, zudem begann die liberale Intelligenz der Arbeiterbewegung den Rücken zu kehren, da sie ihre Hoffnung in die bevorstehenden Dumawahlen setzte. Waren die Streiks im Oktober noch dadurch gekennzeichnet, dass sie von einer klassenübergreifenden Bewegung gegen den Zarismus getragen wurden, so tendierten nach der Verabschiedung des Oktobermanifests die liberalen Kreise zunehmend zu einem Pakt mit dem Zarismus.

Das Moskauer Komitee der Sozialdemokraten rief Ende Oktober zur »sofortigen Vorbereitung eines bewaffneten Aufstands« auf. In einigen Teilen des Reiches bildeten sich Räte und begannen Regierungsfunktionen zu übernehmen, so beispielsweise in Tschita, Noworossijsk, Irkutsk und Krasnojarsk. Am 26. November wurde der Vorsitzende des Petersburger Rats, Georgi Stepanowitsch Chrustaljow-Nossar, verhaftet. Daraufhinverabschiedete der Rat das aus der Feder von Parvus stammende Finanzmanifest, das das Volk dazu aufrief, keine Steuern, Ablösezahlungen u.ä. mehr zu bezahlen, um so den Staat von seiner Einnahmequelle abzuschneiden. So sollte erreicht werden, dass die Regierung bei der Aufnahme von Auslandsanleihen in Schwierigkeiten gerät. Die Regierung reagierte auf das Manifest mit Massenverhaftungen, woraufhin der Rat am 8. Dezember zu einem Generalstreik aufrief, der jedoch scheiterte und am 18. Dezember abgeblasen werden musste. 

Zur gleichen Zeit ging die Initiative an die Moskauer Arbeiter über. Der dortige Rat rief am 8. Dezember ebenfalls zum Generalstreik auf. In Moskau war die Wirtschaft stark geprägt von der Kleidungs- und Textil- sowie der Nahrungsindustrie. Die Arbeiter:innen dort waren konfrontiert mit elenderen Arbeitsbedingungen als ihre Kolleg:innen in der von der Metallindustrie dominierten Hauptstadt. Ideologisch stark beeinflusst von Angestellten und Beschäftigten der freien Berufe ging man in Moskau vom Massenstreik zum bewaffneten Aufstand über. Nach dem Beginn des Aufstandes traute sich der Generalgouverneur von Moskau, F.V. Dubasov, zunächst nicht, die ihm zur Verfügung stehenden Truppen einzusetzen, da er an ihrer Verlässlichkeit zweifelte. Er forderte deshalb Truppen aus St. Petersburg an, die jedoch einige Tage brauchten, um nach Moskau zu gelangen, was den Aufständischen etwas Zeit verschaffte. Am 9. Dezember setzte die Regierung dann erstmals Artillerie gegen die Streikenden ein, was den Beginn von blutigen Auseinandersetzungen zwischen Regierungstruppen und Aufständischen einläutete. Barrikaden wurden errichtet, Sozialrevolutionäre warfen Bomben auf die Zentrale der Geheimpolizei und im Presnya-Bezirk, dem Schwerpunkt der Textilindustrie, übernahm der Rat die volle Regierungsgewalt. Die Regierung ging mit Artillerie gegen die bewaffneten Arbeiter vor, und als  die Truppen aus St. Petersburg in der Stadt eintrafen, neigte sich das Kräfteverhältnis endgültig gegen die Aufständischen. Der Aufstand allein forderte über 1000 Opfer, nach seiner Niederschlagung wurden zahlreiche weitere Menschen, die im Verdacht standen, sich an ihm Aufstand beteiligt zu haben, hingerichtet. Die Arbeiter:innen der Stadt hatten gehofft, mit ihrer Erhebung der Revolution neues Leben einzuhauchen, scheiterten jedoch, da sie zu schlecht vorbereitet waren und die Perspektiven auf eine Ausweitung zu optimistisch einschätzt hatten. Die Liberalen distanzierten sich von dem Aufstand und näherten sich weiter der Regierung an. Die Regierung wiederum verschärfte ihr Vorgehen gegen die Arbeiterbewegung. Durch die Entsendung von sogenannten Strafexpeditionen, kleinen Gruppen speziell ausgewählter Soldaten, insbesondere in die Peripherie des Reiches (Ukraine, Baltikum, Kaukasus, Sibirien) wurden die noch existierenden Unruheherde mit Terror überzogen. Er traf insbesondere das Baltikum, wo es der revolutionären Bewegung gelungen war, große Gebiete unter ihre Kontrolle zu bringen:

»Mindestens zehn Strafexpeditionen, die sich in Größe und Feuerkraft stark unterschieden, wurden in verschiedene Teile des Reiches entsandt. Die Truppe von Generalmajor A. A. Orlow in den baltischen Provinzen scheint die größte gewesen zu sein und bestand aus drei Infanterieregimentern, vierzehn Kavallerieschwadronen, vier schweren Geschützen und zwanzig Maschinengewehren. (...) Die Befehle an die einzelnen Befehlshaber lauteten lediglich, »Maßnahmen zu ergreifen, die sie zur Wiederherstellung der Ordnung für notwendig erachten«; die Befehlshaber verstanden, dass diese Worte ihnen einen Freibrief ausstellten und dass sie für etwaige Exzesse ihrer Männer nicht zur Rechenschaft gezogen werden konnten.«20

Insgesamt kosteten die Strafexpeditionen tausenden Arbeiter:innen das Leben, die Zahl der Inhaftierten war um ein Vielfaches höher.

 

Die Lehren der Revolution für die Sozialdemokratie

Während der ersten russischen Revolution waren die sozialistischen Parteien darauf orientiert, durch den bewaffneten Kampf den Zarismus zu beseitigen und an dessen Stelle eine demokratische Republik zu setzen. Trotz dieser Ausrichtung ihrer Praxis verständigte man sich vor der Verkündung des Oktobermanifests jedoch kaum darüber, wie genau eine revolutionäre  Regierung aussehen solle. Die Bolschewiki entwickelten die Vorstellung, dass die provisorische Regierung auf einem Bündnis zwischen Arbeiterklasse und Bauernschaft beruhen müsse. Trotzki und Parvus argumentierten darüber hinaus, eine provisorische Regierung könne nur von der sozialdemokratischen Partei angeführt werden. Die menschewistische Fraktion der russischen Sozialdemokratie setzte sich auf ihrer Halbjahreskonferenz »die partielle oder episodische Machtergreifung und die Bildung revolutionärer Kommunen in der ein oder anderen Stadt oder Region« zum Ziel.21 Die Begrenzung auf eine regionale oder zeitlich begrenzte Machtübernahme ergab sich daraus, dass die Menschewiki zum damaligen Zeitpunkt noch darauf hofften, der progressive Teil der Bourgeoisie werde eine provisorische Regierung anführen. Jedoch betonten sie zugleich , dass die Arbeiterklasse die Macht übernehmen müsse, sollte die Bourgeoisie diesen Erwartungen nicht gerecht werden. Martow beispielsweise erklärte,  »wenn [das Proletariat] als Klasse an die Macht kommt, muss es die Revolution weiterführen, kommt es nicht umhin, die Revolution in Permanenz, den offenen Kampf mit der gesamten bürgerlichen Gesellschaft anzustreben«.22 «.Auf dem Höhepunkt der Revolution im November und Dezember vertraten die menschewistischen Führer in Russland ähnliche Positionen wie Trotzki.23 Im Leitartikel der Zeitschrift Nachalo (Der Beginn) vom 7. November heißt es: »Es ist durchaus möglich, dass unsere Revolution, die als demokratische Revolution begann, im Falle eines langwierigen Bürgerkriegs als sozialistische Revolution enden wird.«24 Die Abkehr des Liberalismus von der Massenbewegung im Oktober und das Entstehen einer proletarischen Doppelherrschaft durch die Bildung von Räten zwangen zu konkreten politischen Antworten auf die Frage nach der Errichtung einer den Zarismus ablösenden Regierung. In fast allen Regionen begannen die Sozialdemokraten ausdrücklich zu fordern, dass alle Macht in die Hände von sozialistisch geführten provisorischen revolutionären Regierungen auf lokaler und gesamtstaatlicher Ebene gelegt werden sollte.

Die Perspektive, die sich aus der ersten russischen Revolution für die europäische Sozialdemokratie ergab, wurde von Kautsky in seinem Artikel Triebkräfte und Aussichten der russischen Revolution von 1906 formuliert.25 Darin schreibt er, dass die Sozialdemokratie in Russland im Bündnis mit den Bauern eine Revolution durchführen könne. Die Bourgeoisie kommt aufgrund ihrer Schwäche und der fehlenden Interessengemeinschaft mit den Arbeitern für Kautsky dagegen als Bündnispartner nicht in Frage. Sei die Arbeiterklasse früher Anhängsel der damals noch revolutionär gesinnten Bourgeoisie gewesen, so habe sie jetzt eigenständige Interessen und eine eigenständige Praxis entwickelt. Trotz der zahlenmäßigen Überlegenheit der Bauernschaft müsse das Proletariat die ideologische und organisatorische Führungsrolle in einer revolutionären Regierung übernehmen. Die Interessengemeinschaft mit den Bäuerinnen und Bauern beruht für Kautsky darauf, dass beide Klassen dem Zarismus feindlich gegenüber eingestellt seien und allein eine revolutionäre Regierung unter Führung der Arbeiterklasse die Fähigkeit habe, eine grundlegende Agrarreform durchzuführen und das Kulturniveau auf dem Land zu heben. Im Falle eines Triumphes über den Zarismus könne eine solche Regierung jedoch nur so viel umsetzen, wie die Interessengemeinschaft mit der Bauernschaft erlaubt. Da es sich bei ihr um Kleineigentümer:innen handele, werde sie einer sozialistischen Umwälzung vermutlich feindlich gegenüberstehen. Die russische Revolution könne man daher nicht sozialistisch nennen, ebenso wenig aber bürgerlich, weil sie nicht von der Bourgeoisie durchgeführt werde. Die Revolution könne zwar nicht den Sozialismus herbeiführen, aber immerhin eine radikale Demokratie: die Einführung politischer Freiheit, die Zerstörung der Grundeigentümerklasse und die Ausstattung der Bauernschaft mit Land. Möglich schien es Kautsky außerdem, die Eisenbahnen, Ölfelder und Minen zu nationalisieren, das stehende Heer aufzulösen und den Massen Zugang zu Bildung zu verschaffen. Man könne zwar nicht erwarten, dass die Bäuerinnen und Bauern sich in Sozialist:innen verwandeln, sie durch den Ausbau der Staatsindustrie und des staatlichen Agrarsektors jedoch sukzessive von den Vorteilen der Kollektivwirtschaft überzeugen. Möglich sei jedoch auch, dass sich eine Kluft zwischen Bauernschaft und Arbeiter:innen herausbilde. Kautsky kommt zu dem Schluss, dass letztendlich nicht absehbar sei, wie weit man eine solche demokratische Revolution treiben könne.

Sowohl Trotzki als auch Lenin sahen in dem Artikel Kautskys die Bestätigung ihrer eigenen politischen Perspektive.26 Jedoch unterschieden sich die Perspektiven der beiden russischen Revolutionäre: Während Lenin die Auffassung vertritt, dass die kommende Revolution nur eine demokratische und keine sozialistische Revolution sein könne  und man deshalb die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse in einer solchen Revolution auch nicht antasten sollte, gelangte Trotzki zu dem Resultat, dass es nicht möglich sei, dem Gang der Revolution durch eine solch künstliche Beschränkung Einhalt zu gebieten. Aus der Dynamik der Revolution selbst sei ein Konflikt zwischen Bourgeoisie und Arbeiterklasse unvermeidlich, weswegen eine revolutionäre Regierung gar keine andere Wahl hätte, als die kapitalistische Eigentumsordnung anzufechten. Darüber hinaus sei die russische Revolution zum Scheitern verurteilt, wenn sie sich nicht auf andere Länder ausweitet, da der Interessengegensatz zwischen Arbeitern und Bauern ab einem gewissen Punkt eine Bedrohung für die revolutionäre Regierung darstelle.27

Während Lenin und Trotzki für eine Arbeiter- und Bauernregierung plädierten und jedes strategische Bündnis mit der Bourgeoisie ablehnten, wurden nach dem Scheitern der ersten russischen Revolutionen in Teilen der revolutionären Bewegung gegenteilige Schlüsse gezogen. Insbesondere führende Vertreter der Menschewiki kamen zu dem Schluss, der Grund für das Scheitern der Revolution seien die Isolation der Arbeiterklasse und die Opposition zu den Liberalen gewesen. Auch der Bund, die revolutionäre Fraktion der polnischen Sozialisten und die ukrainische sozialdemokratische Arbeiterpartei schlossen sich mit der Zeit dieser Auffassung an. Dadurch entstand im russischen Reich ein moderater, auf ein Bündnis mit der Bourgeoisie ausgerichteter Sozialismus. Dieses Erbe sollte auch nach der Oktoberrevolution eine Rolle spielen, als die radikalen Sozialisten, die die Macht in den russischen Kerngebieten eroberten, sich vor die Aufgabe gestellt sahen, ihre Machtbasis auf die Peripherie des Reiches auszuweiten.

 

 

 

  • 1. Vgl. Eric Blanc: Revolutionary Social Democracy, S. 100.
  • 2. Aufgrund der repressiven Verhältnisse konnte ein solcher Kongress nicht im russischen Reich selbst durchgeführt werden.
  • 3. Die Darstellung des Konflikts folgt Richard Mullin: The Russian Social-Democratic Labour Party, 1899‒1904; Richard Mullin: Lenin and the Iskra Faction of the RSDLP 1899-1903.
  • 4. Bei der Jushnyj rabotschij handelte es sich um eine sozialdemokratische Gruppe, die eine Zeitung gleichen Namens herausgab. Sie Gruppe sich gegen Ökonomismus und Terror einerseits, gegen den Zentralismus der Iskra-Linie andererseits. Rabotscheje Delo war eine Zeitung, die sich wie die Iskra an der deutschen Sozialdemokratie orientierte. Trotz dieser Ähnlichkeit in der politischen Ausrichtung führten die Anhänger der Iskra einen Pamphlet-Krieg mit Rabotscheje Delo. Einer der Hauptvorwürfe von Seiten der Iskra-Redaktion lautete, sie grenze sich nicht genügend vom Opportunismus ab (vgl Lars Lih. Lenin Rediscovered, S. 219).
  • 5. Der Ablehnung dieser Forderung lag die Auffassung zugrunde, dass die Organisation von Arbeitern anhand ethnischer Kriterien dem internationalistischen Selbstverständnis der Arbeiterbewegung widerspricht.
  • 6. Dem folgte auch die traditionelle Geschichtsschreibung: »Geführt von Ju. O. Martov, plädierten die späteren Menschewiki (Minderheitler) für eine prinzipiell offene und demokratische Partei… Dem hielt Lenin Vorschläge entgegen, die… eine strenge Parteidisziplin zu verankern… suchten.« (Hildermeier: Die Russische Revolution 1905-1921). Jedoch spricht der Ablauf des Kongresses insofern gegen diese Deutung, als Martow und seine Anhänger die demokratisch legitimierten Entscheidungen des Kongresses nicht akzeptieren wollten. Die Forderung nach »strenger Parteidisziplin« angesichts des repressiven Vorgehens der Regierung wiederum war kein Alleinstellungsmerkmal der Bolschewiki, sondern wurde von den meisten sozialdemokratischen Organisationen des Zarenreichs geteilt.
  • 7. Trotz dieser Orientierung auf die vorrangige Organisation der Arbeiter wird die sozialrevolutionäre Partei häufig fälschlicherweise als reine Bauernpartei dargestellt. Zur Entwicklung dieser Strömung vgl. Michael Melancon: The Socialist Revolutionaries From 1902 To 1907: Peasant and Workers' Party.
  • 8. Vgl. Eric Blanc: Revolutionary Social Democracy, S. 89.
  • 9. Henry Reichman: The Rostov General Strike of 1902.
  • 10. Ebd.
  • 11. Zu den Streiks in Südrussland vgl. Rosa Luxemburg, Massenstreik, Partei und Gewerkschaften: https://www.marxists.org/deutsch/archiv/luxemburg/1906/mapage/kap3.htm
  • 12. Zu den Ereignissen, die zum Blutsonntag führten, vgl. den russischen Wikipedia-Eintrag zu Gapon: https://ru.wikipedia.org/wiki/Гапон,_Георгий_Аполлонович
  • 13. Die Putilow-Werke waren die größte Fabrik in St. Petersburg. 1905 waren dort 12 500, 1917 bereits 24.000 Arbeiter:innen beschäftigt.
  • 14. During the three months from January to March, more than twenty times as many workers participated in work stoppages in Russia as went on strike in any one year from 1895 to 1908 in Germany, the United States, and France.« Abraham Ascher: The Revolution of 1905. A Short History, S. 43
  • 15. Zitiert nach Abraham Ascher, S. 64
  • 16. Vgl. Abraham Ascher, S. 67
  • 17. Vgl. Abraham Ascher. S. 70
  • 18. Pogromistische Gewalt ging insbesondere im Süden auch von den Arbeiter:innen selbst aus. Charters Wynn untersucht dies in seiner Studie Workers, Strikes and Pogroms anhand der Arbeiterklasse Südrusslands. Aus seinem Werk lässt sich schließen, dass sich insbesondere unorganisierte und unqualifizierte Arbeiter:innen an den Pogromen beteiligten. So schreibt Henry Reichmann, in seiner Rezension zu Workers, Strikes and Progroms: »Es liegt auf der Hand, dass ländliche Bergarbeiter und ungelernte städtische Arbeiter eher an Pogromen beteiligt waren als qualifizierte russische Industriearbeiter und natürlich jüdische Handwerker, während die beiden letztgenannten Gruppen wichtige Rekruten für die Revolutionäre waren.«
  • 19. So schrieb beispielsweise deren Führer Viktor Chernow: »Wir sind mit dem Absolutismus noch nicht fertig und ihr wollt es mit der Bourgeoisie aufnehmen.« (Zitiert nach Ascher, S. 92). Trotzki dagegen verteidigte in seiner Chronik der Revolution den Beschluss des Rates: »Nur der Achtstundentag konnte die Klassenmacht des Proletariats für die revolutionäre Politik des Tages unmittelbar freimachen.« (Trotzki, Die russische Revolution, S. 129).
  • 20. Vgl. Ascher, S. 108
  • 21. Vgl. Blanc, S. 319f.
  • 22. Zitiert nach Blanc, S. 321
  • 23. Ascher S. 94
  • 24. Vgl. Blanc, S. 321.
  • 25. Karl Kautsky, Triebkräfte und Aussichten der russischen Revolution. Der Text findet sich hier: https://sites.google.com/site/sozialistischeklassiker2punkt0/karl-kauts…
  • 26. Beide schrieben ein Vorwort zu Kautskys Aufsatz. Die Texte finden sich hier: 1. https://sites.google.com/site/sozialistischeklassiker2punkt0/lenin/1907… 2. https://sites.google.com/site/sozialistischeklassiker2punkt0/trotzki/19…
  • 27. Die Theorie Trotzkis erlangte Bekanntheit unter dem Label permanente Revolution, obwohl auch viele andere Sozialdemokraten diesen Begriff benutzten. Bei Lenin beispielweise wird der Begriff benutzt, um verschiedene Episoden innerhalb der demokratischen Revolution zu beschreiben. Die permanente Revolution verbleibt hier innerhalb der Grenzen der kapitalistischen Eigentumsordnung. Die Besonderheit bei Trotzki ist, dass die permanente Revolution bei ihm auf den Sozialismus zusteuert, demokratische und sozialistische Revolution hier also als Teil eines Prozesses gefasst werden. Vgl. auch den Sammelband Witnesses to Permanent Revolution: The Documentary Record, in dem die angeführten Texte von Kautsky, Trotzki und Lenin versammelt sind, sowie zum Begriff permanente Revolution den Aufsatz von Lars Lih ‚Democratic Revolution in Permanenz‘.