Vom Stadtteil zur revolutionären Organisierung?
Der Kapitalismus stolpert spätestens seit der großen Wirtschaftskrise 2007ff. von einer Krise in die nächste und auch das politische Personal macht dabei keine gute Figur. Ob nun Klimakrise, Corona-Pandemie, Ukraine-Krieg, Lieferengpässe, Inflation usw.usf., zunehmend verliert die kapitalistische Produktionsweise samt ihrer Entourage seine Legitimation. Die herrschenden Verhältnisse haben für viele Menschen, die in ihnen leben müssen, nichts mehr anzubieten. In allerhand Umfragen überholt inzwischen selbst der doch scheinbar von der Geschichte besiegte Sozialismus den Kapitalismus in den Beliebtheitswerten. Es müssten goldene Zeiten für die politische Linke sein. Sind es aber ganz offensichtlich nicht. Wie kann das nur sein?
Da sind zum einen die parteiförmig organisierten Linken, ob nun Syriza in Griechenland, Podemos in Spanien, die Linke in Deutschland und zahlreiche weitere Parteien und Parteiströmungen, die zumindest zum Teil nach den Krisenprotesten 2010ff. entstanden oder jedenfalls enorm gewachsen sind. Alle können in ihrem Pragmatismus und ihrer Orientierung an der Realpolitik ihre Prinzipien gar nicht schnell genug über Bord werfen und übernehmen die Verwaltung der herrschenden Verhältnisse so lautlos und störungsfrei, dass kein einziger Kapitalist Angst um seinen Porsche haben muss.
Doch auch die sich als radikal verstehende Linke gibt hierzulande kaum ein besseres Bild ab. Gespalten in ein Theorie- und ein Praxismilieu wird in den allermeisten Fällen um sich selbst gekreist. Während die Theorielinke meist an der Uni angesiedelt ist und sich nach dem Studium dort um die wenigen freien Stellen balgt oder dann doch am wissenschaftlichen Apparat der Linkspartei und ihrer Stiftung andockt, initiieren die aktivistischen Linken eine kurzfristige Kampagne nach der anderen, bis auch die letzte Sympathisantin ausgebrannt ist. So geht das nun schon seit vielen Jahren.
Doch aus diesem jämmerlichen Zustand der radikalen Linken haben vor einigen Jahren einige wenige Gruppen die Konsequenz gezogen, eine langfristig angelegte Basisarbeit in ihren Stadtteilen zu betreiben. Dies ist grundsätzlich zu begrüßen, denn wenn der Kommunismus „die selbstständige Bewegung der ungeheuren Mehrzahl im Interesse der ungeheuren Mehrzahl“ ist, wie es Marx und Engels im Manifest definieren, dann kann die Schlussfolgerung daraus nur lauten: „Raus aus der Szene, rein in die Massen“. Allerdings ist diese Erkenntnis allein noch nicht ausreichend, wie die Erfahrungen zahlreicher Generationen bundesrepublikanischer Linker von den K-Gruppen bis zur Sammlungsbewegung „Aufstehen“ auf die gruseligste Art und Weise zeigen.
Dass diese neue Bewegung hinein in die Stadtteile allerdings nichts mit den eben erwähnten Beispielen gemein hat und ihr Ansatz zu produktiven Auseinandersetzungen einlädt, zeigt das vor kurzem vorgelegte Buch der Gruppe „vogliamo tutto“, die auch an diesem Blog beteiligt ist. Es im Unrast-Verlag unter dem Titel „Revolutionäre Stadtteilarbeit. Zwischenbilanz einer strategischen Neuausrichtung linker Praxis“ erschienen, kann kostenlos hier heruntergeladen werden und versammelt in erster Linie lange Interviews mit einigen der revolutionären Stadtteilgruppen. Die Herausgeber*innen sehen die Basisarbeit in den Stadtteilen dabei als Ergebnis der etwa von 2015 bis 2018 geführten Debatte innerhalb der antiautoritären Linken, in der diese ihre gesellschaftliche Isolation und explizit das Scheitern der Anti-Krisen-Proteste in Deutschland rekapitulierte. Zu dieser Zeit zirkulierten eine Reihe von Texten, die diese Diskussion stark beeinflussten1 und mit dem „Selber-Machen-Kongress“ 2017 gab es auch ein bundesweites Treffen zum Thema. Einzelne Gruppen begannen danach mit der Arbeit in den Stadtteilen. Von diesen werden im Buch „Berg Fidel Solidarisch“ und die Gruppe „Räte organisieren, Solidarität aufbauen“ (ROSA) aus Münster, „Solidarisch in Gröpelingen“ und „Kollektiv“ aus Bremen, „Wilhelmsburg Solidarisch“ aus Hamburg, „Hände weg vom Wedding“ und die „Kiezkommune Wedding“ aus Berlin befragt.
Die Interviews bieten einer antiautoritären Linken, die über den Tellerrand ihres eigenen Milieus hinausblicken will, viele anregende Impulse. Die Gruppen erzählen von ihren Schwierigkeiten und Problemen, aber auch von erfolgreichen Interventionen und können so Hilfestellungen für Nachahmer*innen geben. Interessant ist, dass viele der interviewten Gruppen vor der Aufnahme ihrer Arbeit im Stadtteil eine oder sogar mehrere Untersuchungen durchgeführt haben, um herauszufinden welche Probleme den Bewohner*innen am meisten unter den Nägeln brennen. So wurde sichergestellt, dass nicht die eigenen Projektionen auf die Einwohner*innen das Handeln bestimmen, sondern deren konkrete Sorgen und Nöte. Das Ergebnis dieser Befragungen war vielfach, dass es die Wohnungsfrage ist, also hohe Mieten, schlechter Zustand der Wohnungen, falsche Nebenkostenabrechnungen etc., die die Bewohner*innen der ausgewählten Stadtteile am meisten umtreibt. Das dieser Bereich oftmals zum Schwerpunkt der Aktivitäten der Stadtteilgruppen wurde, überrascht folglich nicht. Schließlich ist ja schon der Ansatz als Stadtteilgruppe einer der sich auf eine Wohngegend konzentriert. Daneben hat das Mieten-Thema sowohl in der Gesellschaft als auch in der Linken in den letzten Jahren einiges an Brisanz gewonnen, wovon am prominentesten der Berliner Volksentscheid der Kampagne „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ zeugt. Auch die KPÖ konnte mit diesem Thema in Graz Wahlerfolge bis hin zum Gewinn der Kommunalwahlen erzielen. Zwar agieren die meisten Stadtteilinis auch in anderen Bereichen, doch in diesen konnte bisher nur wenig Resonanz in der Bevölkerung erreicht werden. Vor allem auch die Versuche sich anhand der Lohnarbeit zu organisieren, gestalteten sich schwierig. So berichten etwa die Aktivist*innen von „Solidarisch in Gröpelingen“: „Wir haben jedoch gemerkt, dass eine Organisierung von Leiharbeiter:innen aus dem Stadtteil heraus die Kapazitäten unserer Stadtteilgewerkschaft übersteigt und es da eine breitere Perspektive braucht“ (S. 65). Diese noch fehlende breitere Perspektive und auch die bei der Basisarbeit immer bestehende Gefahr sich im Kleinklein zu verzetteln, sollen nach den Vorstellungen der meisten der befragten Gruppen, über eine überregionale Organisierung gelöst werden. Auch hier zeigen die Gespräche anschaulich, dass sich diese nicht am Reißbrett konstruieren lässt, was den Beteiligten auch sehr bewusst ist und wie sie versuchen die Klippen des Organisationsaufbaus zu nehmen. Am weitesten entwickelt scheint die Zusammenarbeit bisher bei den Kiezkommunen zu sein, von denen es inzwischen sechs in Berlin und eine in Magdeburg gibt und bei der Kooperation der Bremer und Münsteraner Gruppen. Während die Kiezkommen allerdings das Ergebnis einer strategischen Entscheidung einer übergeordneten politischen Gruppe sind, nämlich der „Radikalen Linken“ aus Berlin, entstand die Zusammenarbeit der Gruppen aus Münster und Bremen aus den Bedürfnissen ihrer konkreten Arbeit vor Ort. Wobei es auch dort interessant zu sehen ist, dass die praktische Arbeit im Stadtteil auch bei diesen beiden Gruppen von je einer „Initiativgruppe“ ausging. Es also auch hier das Ergebnis strategischer Überlegungen war in den Stadtteil zu gehen. Diese organisatorischen Ansätze bereichern auf jeden Fall die momentan innerhalb der radikalen Linken, so etwa auch auf diesem blog, erneut geführte Debatte um die Organisationsfrage. Denn anders als oftmals in den Diskussionen ist bei den hier befragten Gruppen klar ersichtlich was überhaupt organisiert werden soll und auch welche konkreten und direkten Vorteile eine solche Organisierung bringen kann und soll.
Doch mit welcher gesellschaftlichen Analyse suchten sich die Gruppen den jeweiligen Stadtteil aus? Auffällig ist, dass es sich bei allen im Buch interviewten Gruppen um Stadtviertel handelt, die sich durch ihren internationalen Charakter auszeichnen und in denen viele prekär Beschäftigte leben. Allerdings wird im Buch nicht auf die Arbeitsplatzsituation vor Ort eingegangen. Gibt es dort größere (Produktions-)Betriebe, die die Gegenden prägen oder werden sie eher durch kleinteilige Dienstleistungsunternehmen definiert? Finden sich etwa strategisch wichtige Firmen dort, die für den angestrebten Transformationsprozess eine zentrale Rolle spielen könnten, etwa die Lebensmittel- oder Arzneimittelproduktion? Es scheint aber so, dass diese Fragen, bei der Auswahl der Stadtteile in denen agiert werden sollte, keine große Rolle gespielt haben. Das allerdings in einer Klassengesellschaft die Umwälzung notwendigerweise auch zentral in der Lohnarbeit organisiert werden muss, also da wo das synthetisierende Element der gesamten Gesellschaft produziert wird und der Bereich in der die materiellen Grundlagen des sozialen Lebens geschaffen werden, gerät dadurch etwas in den Hintergrund. Die Erfahrungen der durchaus vergleichbaren Aktivitäten der „Angry Workers of the World“2 in Westlondon werden in diesem Zusammenhang leider nicht diskutiert. Diese sind, als sie in den mit strategischen Hintergedanken ausgewählten Stadtteil gezogen sind, auch dort in die Betriebe gegangen und haben versucht darin zu agieren. Daneben haben sie aber auch über ein Solidaritätsnetzwerk und ihre Zeitung „klassische Stadtteilpolitik“ betrieben. Sie hatten aber von vorneherein ein mehr klassenorientiertes Vorgehen. Das dies für die Frage der gesellschaftlichen Umwälzung zentral ist, zeigen auch die Erfahrungen aus dem Aufstand in Argentinien von 2001.3 Es lohnt sich sicherlich sich die Ereignisse dort vor dem Hintergrund der aktuellen Krise nochmal genau anzuschauen. Nach dem Zusammenbruch der Wirtschaft und der Flucht der politischen Spitze aufgrund der Unruhen, kam es dort zu beeindruckenden Formen der Selbstorganisation, vor allem durch die Nachbarschafts- und Stadtteilversammlungen, den Asambleas. Das die Revolte letztendlich scheiterten, ist neben der misslungenen geographischen Ausweitung auf die Nachbarländer, vor allem darauf zurückzuführen, dass die Produktion in den Weltmarktfabriken weiterlief. Die Arbeiter*innen übernahmen nur eine begrenzte Anzahl, meist kleinerer Betriebe, die für die Aufrechterhaltung der Wirtschaft nicht konstitutiv waren und konnte so keine Gegenmacht gegen das internationale Kapital schaffen.
Sicherlich sind wir hierzulande noch weit von einer vergleichbaren Situation entfernt und die Vorbereitung darauf wird wohl erst in einer überregionalen, am besten internationalen, Organisierung, die sowohl die Arbeit in den Betrieben als auch die in den Stadtteilen, als auch die im Care-Bereich umfasst, geleistet werden können, aber dieser Aspekt sollte in den Diskussionen präsent sein. Bei früheren Anläufen war er dies oftmals. Denn auffällig an den Gesprächen im Buch ist allerdings, dass dort die Debatte über Basisarbeit erst 2015 zu beginnen scheint. Historische Konzepte und Bewegungen, auch solche die sich konkret auf den Stadtteil als Aktionsfeld beziehen, fehlen. So wird etwa weder auf die Interventionen der Spontis,4 die ebenfalls Stadtteilzentren gründeten und vor allem die Hausbesetzungen Anfang der Siebziger Jahre im Kontext von Stadtteilarbeit begriffen, noch auf die international bekannt gewordenen Aktivitäten der „Black Panther Party“ Bezug genommen. Auch aktuelle Konzepte wie das „Mietshäuser Syndikat“, bei dem es trotz aller Unterschiede doch auch viele Gemeinsamkeiten zu entdecken gäbe, kommen im Buch nur in einer Fußnote vor. Es scheint fast, als wäre die radikale Linke gezwungen alle paar Jahre das Rad neu erfinden zu müssen. Doch insgesamt bleibt natürlich zu hoffen, dass sich noch mehr Initiativen dem Vorbild der interviewten Gruppen, aber auch der Angry Workers, anschließen und ihre Szeneviertel und Bullshit Jobs hinter sich lassen, um damit die Grundlagen zu schaffen, sich gemeinsam gegen die kapitalistischen Zumutungen wehren zu können. Die aktuelle ökonomische und politische Lage macht dies nötiger denn je. Denn wenn es nicht gelingt Widerstand gegen die steigenden Lebenshaltungskosten, gegen die sich steigernden Angriffe auf unsere Arbeits- und Lebensbedingungen5 und gegen die sich rasant ausbreitende Militarisierung der Gesellschaft zu leisten, dann dürfte die Zukunft nicht nur für die radikale Linke düster aussehen.
- 1. Als zentrale Debattenbeiträge sehen die Herausgeber*innen des Buches folgende Texte: 1. Antifa Kritik & Klassenkampf, Der kommende Aufprall. Auf der Suche nach der Reißleine in Zeiten der Krise. Strategische Überlegungen, 2015:
http://akkffm.blogsport.de/images/DerkommendeAufprall_web.pdf.
2. Kollektiv, 11 Thesen über Kritik linksradikaler Politik, Organisierung und revolutionäre Praxis, 2016:
https://solidarisch-in-groepelingen.de/wp-content/uploads/2022/03/11-Th…
3. radikale linke berlin, Kiezkommune Wedding, Kiezkommune Kreuzberg-Neukölln und Kiezkommune Friedrichshain, Das Konzept Kiezkommune. Über Gegenmacht und wie wir sie aufbauen. Kiezkommunen aufbauen. O. J.: https://kiezkommune.noblogs.org/files/2019/06/Konzept-Kiezkommune.pdf.
- 2. Angry Workers, Class Power! Über Produktion und Aufstand. Aus dem Englischen übersetzt von Gabriel Kuhn, Unrast Verlag, Münster 2022.
- 3. Colectivo Situaciones u. a., Que se vayan todos! Krise und Widerstand in Argentinien. Aus dem Spanischen übersetzt von Stefan Armborst, Herausgegeben von Ulrich Brand, Assooziation A, Berlin 2003.
- 4. Sebastian Kasper, Spontis. Eine Geschichte antiautoritärer Linker im roten Jahrzehnt, edition assemblage, Münster, 2019.
- 5. So hat zum Beispiel der Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW), Michael Hüther, vor kurzem die Einführung einer 42-Stunden-Woche gefordert. Weitere Vorschläge der Kapitalverbände und ihrer Denkfabriken werden folgen.