Legenden über die »revolutionäre« Sozialdemokratie
Wie können wir heute das Verhältnis von Spontaneität und Organisation fassen, wenn es um die Umwälzung der Gesellschaft geht? Kann es »demokratische Massenorganisationen« geben, die auf dem Boden der jetzigen Ordnung bereits eine Art sozialistische Gegengesellschaft schaffen, sich sogar am Parlament beteiligen – und dennoch auf einen revolutionären Bruch hinarbeiten, anstatt ihn zu sabotieren?
Nicht zuletzt um diese Fragen geht es in der auf Communaut geführten Debatte über Strategie und Organisation. Sie ist noch nicht abgeschlossen. Eröffnet wurde sie durch einen Beitrag, der dafür plädiert, an das Erbe der »revolutionären Sozialdemokratie« anzuknüpfen, wie insbesondere die SPD vor 1914 sie verkörpert habe. Diese Überzeugung wird auch in den Beiträgen deutlich, die der Leipziger Lesekreis zur Geschichte der Arbeiterbewegung auf Communaut veröffentlicht hat. Robert Schlosser widerspricht ihr in der folgenden Replik vehement.
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In meiner ersten Einmischung hier in die Diskussion über Strategie und Organisation hatte ich Folgendes einleitend geschrieben:
„Wenn die hier begonnene Diskussion über Organisation und Strategie in erster Linie darum geführt wird, wie die Geschichte zu interpretieren ist, dürfte am Ende kaum eine Verständigung stehen. Notwendig ist eine Verständigung darüber, wie die aktuelle Situation hier und heute einzuschätzen ist – speziell in Deutschland. Als „Historiker:innen-Streit“ läuft die Orga- und Strategie-Debatte aus meiner Sicht Gefahr, zu einem der bekannten Richtungsstreits zu werden, in der sich dann vielleicht Organisations- und Bewegungsfetischist:innen, Kautskyaner:innen und Anti-Kautskyaner:innen usw. gegenüberstehen und zum x-ten Mal die Schlachten der Vergangenheit geschlagen werden. Es geht also aus meiner Sicht weniger um die Suche nach irgendwelchen historischen Vorbildern, als vielmehr darum, uns Rechenschaft abzulegen über die weitreichenden Veränderungen der kapitalistischen Produktionsweise und entsprechender Ausprägungen der bürgerlichen Klassengesellschaft. Nur wenn das gelingt, lassen sich erfolgversprechende Ansätze für Organisation und Strategie von Kommunist:innen heute finden. Dabei sollte eigentlich allen Beteiligten klar sein, dass wir heutigen Kommunist:innen kein Produkt einer sich rasch ausbreitenden und in bedeutenden Teilen sich radikalisierenden „proletarischen Bewegung“ sind, wie etwa in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts oder in den 1920iger Jahren. (Heute sind die Lohnarbeiter:innen hierzulande in Industriebetrieben beispielsweise weitgehend „befreit“ von jedem kommunistischen Denken und Handeln!) Es ist fast ausschließlich eine gewisse Kontinuität der theoretischen Kritik am „Kapitalismus“ – und keinesfalls der praktischen „proletarischen Bewegung“ – durch die sich bestimmte kommunistische Sekten halten und immer wieder auch neue Gruppierungen entstehen. Die Frage der Organisation und Politik von Kommunist:innen ist heute nicht durch die sich entwickelnden und radikalisierenden Kämpfe der Lohnarbeiter:innen aufgeworfen! Sie stellt sich zunächst nur als eine Aufgabe der Überwindung eines versteinerten Sektierertums, das jede Entwicklung ausschließt.“
Danach erschienen auf Communaut einige Artikel zur Geschichte der Arbeiter:innenbewegung, darunter einer über den „revolutionären“ Charakter der deutschen Sozialdemokratie vor 1914. Ich hatte erwartet, dass danach noch etwas kommt, das den konterrevolutionären Charakter der SPD ab 1914 erklärt. Aber nichts dergleichen ist geschehen, und so erscheint es mir nötig, speziell den Artikel über die „revolutionäre“ Sozialdemokratie zu kritisieren. Denn ganz offensichtlich meinen die Autoren, wir kämen heute einen Schritt weiter, wenn wir das Positive aus dieser „revolutionären“ Sozialdemokratie und besonders dem darin hegemonial wirkenden „orthodoxen Marxismus“ mitnähmen.
I. Revolution muss schon „gemacht“ werden
Wenn man aus einer bestimmten historischen Periode etwas lernen will, dann muss man jeweils von den Resultaten der geschichtlichen Entwicklung ausgehen und erklären, wie es zu ihnen kommen konnte. Speziell der Artikel über den „revolutionären“ Charakter der deutschen Sozialdemokratie vor 1914 leistet das nicht. Anstatt die verheerenden Resultate der Parteientwicklung zu erklären, blendet er sie aus. Einleitend heißt es da:
„Der vierte Teil unserer Reihe zur Geschichte der Arbeiter:innenbewegung handelt von der Entwicklung der Sozialdemokratie in Deutschland, von der Verfolgung unter Bismarck bis zu ihrer Konsolidierung als einer revolutionären Massenpartei. Dabei legen wir ein besonderes Augenmerk auf die Diskussion rund um das Erfurter Programm, mit welchem die Marxist:innen in der Partei ihre Hegemonie durchsetzen konnten und arbeiten die Grundzüge ihres orthodoxen Marxismus heraus.“
Ob es sich jedoch bei einer Massenpartei oder einer anderen politischen Organisation um eine revolutionäre Organisation handelt, das zeigt sich letztlich in der Praxis, nicht in deren schriftlichen Dokumenten (Programm, theoretische und andere Bücher und Artikel). Da es sich bei einer sozialen Revolution nicht um willkürlich gemachte Revolutionen handelt, sondern sie ein Produkt äußerster Zuspitzung von in den Produktionsverhältnissen angelegten gesellschaftlichen Widersprüchen sind, zeigt sich der revolutionäre Charakter einer politischen Organisation letztlich erst in der revolutionären Situation und in der Bereitschaft zu revolutionärer Aktion. Geht man so an die Geschichte der deutschen Sozialdemokratie heran, dann ist das Ergebnis mehr als ernüchternd und verlangt nach Erklärung.
Wenn es überhaupt einen Sinn ergibt, von einer „revolutionären“ Sozialdemokratie zu reden, dann für die Periode vor 1890, als die Sozialistengesetze bestanden, und vor 1891, als sich die Partei das Erfurter Programm gab und der „orthodoxe Marxismus“ die Hegemonie errang. Das war eine Zeit, als Bebel und Liebknecht 1872 im Leipziger Hochverratsprozess wegen ihrer öffentlich bekundeten Unterstützung der Pariser Kommune zwei Jahre Festungshaft bekamen, als durch die Sozialistengesetze reihenweise Sozialdemokraten zu Gefängnis und Geldstrafen verurteilt wurden und die politische Arbeit wesentlich illegal war.
Ab 1890/1891 wandelte sich die Sozialdemokratie immer stärker zu einer reformistischen Partei, die – durch ihre Legalisierung ermöglicht – mehr und mehr in den Staat hineinwuchs und hineinwachsen wollte. Der „orthodoxe Marxismus“ stützte sich dabei in seiner Taktik auf Engels Schrift „Einleitung zu den ‚Klassenkämpfen in Frankreich‘“.
In einem Brief an Bracke anlässlich des Gothaer Programms hatte Marx mal festgehalten:„Jeder Schritt wirklicher Bewegung ist wichtiger als ein Dutzend Programme.“Diese Erkenntnis ist auch dann richtig, wenn ein Programm tatsächlich oder vermeintlich „auf dem Boden der heutigen Wissenschaft“ steht, wie Engels zum Erfurter Programm anmerkte. Damit konnte nur der allgemeine Teil dieses Programms gemeint sein, der im Wesentlichen auf dem Boden eines einzigen Abschnitts aus dem Kapital Band 1 stand, nämlich dem über die „Geschichtliche Tendenz der kapitalistischen Akkumulation“. Und gerade das macht diesen Programmteil so fragwürdig, weil darin von der „naturnotwendigen Negation“ der kapitalistischen Produktionsverhältnisse die Rede ist.
In seiner famosen Schrift „Der Weg zur Macht“ hat der „orthodoxe Marxist“ Kautsky das revolutionäre Selbstverständnis der Sozialdemokratie so beschrieben:
„Die Sozialdemokratie ist eine revolutionäre, nicht aber eine Revolutionen machende Partei. Wir wissen, dass unsere Ziele nur durch eine Revolution erreicht werden können, wir wissen aber auch, dass es ebensowenig in unserer Macht steht, diese Revolution zu machen, als in der unserer Gegner, sie zu verhindern. Es fällt uns daher auch gar nicht ein, eine Revolution anstiften oder vorbereiten zu wollen.“
Dass das Ziel einer kommunistischen, klassenlosen Gesellschaft nur durch eine Revolution zu erreichen ist, bestreitet also Kautsky nicht. Dann sagt er, dass die Sozialdemokratie, die ja nach seiner Meinung die „Verbindung von Sozialismus und Arbeiterbewegung“ und die Organisation der klassenbewussten Proletarier ist, keine „Revolution machende Partei“ sei, ja nicht einmal eine Revolution vorbereiten wolle! Nicht einmal vom „Mitmachen“ ist da die Rede. Warum ausgerechnet die in einer Partei organisierten klassenbewussten Teile des Proletariats keine Revolution machen sollten, erklärt er nicht. Im Kommunistischen Manifest heißt es noch: „Die Kommunisten sind ... praktisch der entschiedenste, immer weitertreibende Teil der Arbeiterparteien aller Länder“. Wenn die Sozialdemokratie als Organisation des klassenbewussten Proletariats die Revolution weder macht, noch vorbereitet, wer macht diese notwendige Revolution dann? Oder muss sie überhaupt nicht „gemacht“ werden?
Die materialistische Geschichtsauffassung geht davon aus, dass die Menschen ihre Geschichte selbst machen, und zwar unter jeweils vorgefunden Verhältnissen. Revolutionen sind Ausdruck davon, dass Menschen ihre Geschichte selbst machen! Wenn eine politische Partei sich nicht zuständig erklärt für das Revolution machen, eine Revolution aber für nötig hält, kann man erwarten, dass sie wenigstens sagt, wer denn die notwendige Revolution machen soll und ob sie sich überhaupt daran beteiligen wird. Kautsky versteht es blendend, in so einer einfachen Frage stets und immer wieder Verwirrung zu stiften.
Im Erfurter Programm beschreibt er die Aufgabe der Sozialdemokratie so:„Diesen Kampf der Arbeiterklasse zu einem bewussten und einheitlichen zu gestalten und ihm sein naturnotwendiges Ziel zu weisen – das ist die Aufgabe der sozialdemokratischen Partei.“ Soll das jetzt der Vorbereitung der notwendigen Revolution dienen oder nicht? Wenn nicht, wozu sollte das nützlich sein? (Auf die Fragwürdigkeit der „Naturnotwendigkeit“ des Zieles ökonomischer Befreiung und sozialer Emanzipation gehe ich an dieser Stelle mal nicht weiter ein.)
II. „Historische Mission der Arbeiterklasse“ und „revolutionäre Taktik“
Im Gegensatz zu Kautsky war Marx in der Frage, wer die Revolution wohl machen würde, eindeutig. Er hielt die Klasse der Lohnarbeiter:innen als Ganzes für das Revolution machende Subjekt … und das ist etwas anderes als eine Partei. Engels schreibt in seiner „Einleitung zu den ‚Klassenkämpfen in Frankreich‘“:„Eine Partei, die nach Millionen zählt, aus der Welt schießen, dazu reichen alle Magazingewehre von Europa und Amerika nicht hin.“ Die Mitglieder der Partei kann er nicht gemeint haben, denn die Sozialdemokratie hatte nie Millionen Mitglieder und es gab keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass sich dies jemals ändern würde. (So etwas gab es nur im Staatssozialismus und hatte dann nichts mehr mit einer „freien Assoziation“ zu tun.) Zur „Partei“ zählte Engels offensichtlich auch die unorganisierten Wähler der Partei. Er dachte beim Wort „Partei“ noch an „Parteibildung der Klasse“ und nicht an die Mitglieder einer Organisation!1
Der Gedanke, dass eine politische Partei die Revolution machen und die Lohnarbeiter:innen ökonomisch befreien solle, war Marx gänzlich fremd. Gänzlich fremd war ihm aber auch das Gerede von der „historischen Mission der Arbeiterklasse“. Dazu heißt es jedoch in dem Artikel über die „revolutionäre“ Sozialdemokratie: „Gravitationszentrum des orthodoxen Marxismus ist die Überzeugung von der historischen Mission der Arbeiter:innenklasse als der einzigen konsequent revolutionären Klasse.“
Mit einer wissenschaftlichen materialistischen Geschichtsauffassung hat diese angebliche „historische Mission der Arbeiter:innenklasse“ nichts zu tun. In einer materialistischen Theorie von Gesellschaft und deren Entwicklung ist kein Platz für irgendwelche „historische Missionen“, die es sozusagen im höheren Auftrag der Geschichte zu erfüllen gelte. In der materialistischen Gesellschaftstheorie gibt es nur die unterschiedlichen konkreten gesellschaftlichen Verhältnisse (Produktionsverhältnisse etc.) und die Interessen und Bedürfnisse von Menschen, die dadurch getrieben ihre Geschichte selbst machen. Eine Mission erfüllen sie dabei nicht und Geschichte kennt keine Zielvorgabe, keinen Zweck.
Was speziell die moderne Arbeiter:innenbewegung als Klassenkampf und Revolution machende Bewegung angetrieben hat, waren die Arbeits- und Lebensbedingungen der Lohnarbeiter:nnen. Mehr Lohn, kürzere Arbeitszeit, soziale Absicherungen bei Krankheit, Arbeitslosigkeit und im Alter etc. waren und sind grundlegende ökonomische Ziele zur Verbesserung der Arbeits- und Lebensumstände unter kapitalistischen Verhältnissen. Darüber hinaus gehend hat es von Anfang an Arbeiter:innen gegeben, die sozialistische oder kommunistische Ideen zur Überwindung der Klassengegensätze entwickelten. Zu den bekanntesten gehörten Proudhon und Weitling. Das waren keine bürgerlichen Intellektuellen, die die Seite wechselten. Es waren Arbeiter, die als Autodidakten Theorie studierten und entwickelten. Den Hintergrund für ihr theoretisches Engagement bildeten die eigenen Erfahrungen als Arbeiter, die damals insgesamt elenden Lebensumstände der Lohnabhängigen und deren sich rapide entwickelnden Kämpfe.
Aus meiner Sicht ist es gerade heute wichtig, zu verstehen, dass unter bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen die „Arbeiter:innenbewegung“ spontan sozialistische, kommunistische oder anarchistische Tendenzen erzeugt … und je rechtloser die Arbeiter:innenklasse ist, desto eher entfaltet sie auch revolutionäre politische Tendenzen. Unter den heutigen Bedingungen in entwickelten kapitalistischen Ländern wie Deutschland (politische Rechte, soziale Rechte, ein recht hohes Reproduktionsniveau der Lohnarbeiter:innen und entsprechend schwache Klassenkämpfe) gibt es kaum solche revolutionären Tendenzen in der „Arbeiter:innenbewegung“ und deshalb auch keine entsprechenden Organisationsansätze von Bedeutung. Die Arbeiter:innenklasse war zweifellos nie „konsequent revolutionär“ und heute ist sie eigentlich überhaupt nicht revolutionär. Wenn sie wieder revolutionär wird, dann bestimmt nicht, um ihre „historische Mission“ zu erfüllen, sondern um einen Ausweg zu finden aus dramatischen Verschlechterungen ihrer Lage. Wenn es soweit ist, wird die Arbeiter:innenbewegung auch wieder ihre eigenen Theoretiker:innen hervorbringen; schon allein deshalb, weil ihr die „revolutionären Intellektuellen“ von heute so wenig brauchbare Theorie hinterlassen haben. Man kann den Theorien von Proudhon oder Weitling die Wissenschaftlichkeit absprechen, man kann ihnen ihren revolutionären Charakter absprechen, aber man kann nicht behaupten, sie seien nicht sozialistisch oder kommunistisch gewesen.
In dem Artikel zur „revolutionären“ Sozialdemokratie wird kritiklos Kautskys Vorstellung von der Verbindung zwischen Sozialismus und Arbeiter:innenbewegung reproduziert, wonach der Sozialismus von außen in die Arbeiter:innenbewegung hineingetragen wird. Natürlich meint er damit nur den „wissenschaftlichen Sozialismus“ – sofern dieser Begriff Sinn macht, also die materialistische Geschichtsauffassung und die Kritik der Politischen Ökonomie meint, wie sie von Marx und Engels entwickelt wurden. Der Kautsky-Schüler Lenin hat das aufgegriffen und noch einen drauf gesetzt: Die spontane Arbeiterbewegung könne allenfalls ein „trade-unionistisches“ Bewusstsein entwickeln. Demnach wären beispielsweise die Pariser Kommune oder die Novemberrevolution in Deutschland Produkte eines trade-unionistischen Bewusstseins, denn beides waren spontane, aber durchaus gemachte Revolutionen.
In seiner Polemik gegen Pannekoek (1912) hat Kautsky die „revolutionäre“ Taktik der Sozialdemokratie so gekennzeichnet:„Und das Ziel unseres politischen Kampfes bleibt dabei das gleiche das es bisher gewesen: Eroberung der Staatsgewalt durch Gewinnung der Mehrheit im Parlament und Erhebung des Parlaments zum Herrn der Regierung. Nicht aber Zerstörung der Staatsgewalt.“
Die „Gewinnung der Mehrheit im Parlament“ ist eine Sache von Wahlen. Bei Kautsky reduziert sich die Aktivität der Mehrheit des Proletariats in der Revolution also wesentlich auf die Kreuzchen in der Wahlkabine. Ansonsten sollen sie Mitglieder in Partei und Gewerkschaft werden, deren ebenfalls durch Wahlen legitimierte Funktionärsapparate dann den Rest der Revolution erledigen, etwa durch Einrichtung von Sozialisierungskommissionen. Wie sehr sich diese tolle „revolutionäre“ Taktik bewährt hat, kann man an der Ereignissen der Revolution von 1918/19 studieren. (Ich komme am Schluss darauf zurück.)
„Politische Revolution“ hieß für Kautsky „Verschiebung der Macht im Staate“. Die spontane Revolution, die „chaotischen“ Massenaktionen unter Einbeziehung auch des unorganisierten Proletariats, spielen in dieser „revolutionären“ Politik keine Rolle. Es galt sie eher zu vermeiden. Sein Schüler Lenin zog andere Konsequenzen. Er rechnete mit diesen Aktionen, aber die Revolution „machen“ sollte die Partei.
Je weniger die Arbeiter:innenklasse von heute in ihren tatsächlichen Kämpfen als „konsequent revolutionäre Klasse“ agiert, desto wichtiger wird für manche „Marxisten“ der Glaube an deren „historische Mission“. Durch diesen wundersamen Glauben werden aber weder die Klasse noch eine Partei oder irgendwelche Einzelpersonen „konsequent revolutionär“. Das Gravitationszentrum des orthodoxen Marxismus ist also nichts weiter als ein Abgesang auf die materialistische Geschichtsauffassung.2
III. „Vaterlandsverteidigung“ als Produkt des „orthodoxen Marxismus“
Nicht von der Sozialdemokratie unter dem Banner des „orthodoxen Marxismus“ gewollt, wohl aber durch viele von ihr beeinflusste Lohnarbeiter:innen „gemacht“, kam es 1918 im deutschen Reich zur Revolution. Die Sozialdemokratie war zwar keine revolutionäre Partei, aber sie war eine politische Organisation, die über viele Jahre Platz ließ für die Entwicklung kommunistischer und revolutionärer Positionen. Das zeigte sich theoretisch in den Debatten über Revisionismus und Massenstreiks und praktisch eben in der Novemberrevolution. Sie war nicht das Ergebnis des Zusammenbruchs in Folge einer spontan sich ergebenden Überproduktionskrise, wie Marx und Engels das Mitte des 19. Jahrhunderts erwartet hatten, sondern sie war das Ergebnis des Zusammenbruchs als Produkt eines verlorenen Weltkrieges. Dessen Möglichkeit und Qualität hatte Engels schon 1887 erstaunlich weitsichtig und konkret vorausgesehen:
„Und endlich ist kein andrer Krieg für Preußen-Deutschland mehr möglich als ein Weltkrieg, und zwar ein Weltkrieg von einer bisher nie geahnten Ausdehnung und Heftigkeit. Acht bis zehn Millionen Soldaten werden sich untereinander abwürgen und dabei ganz Europa so kahlfressen, wie noch nie ein Heuschreckenschwarm. Die Verwüstungen des Dreißigjährigen Kriegs zusammengedrängt in drei bis vier Jahre und über den ganzen Kontinent verbreitet; Hungersnot, Seuchen, allgemeine, durch akute Not hervorgerufene Verwilderung der Heere wie der Volksmassen; rettungslose Verwirrung unsres künstlichen Getriebs in Handel, Industrie und Kredit, endend im allgemeinen Bankerott; Zusammenbruch der alten Staaten und ihrer traditionellen Staatsweisheit, derart, daß die Kronen zu Dutzenden über das Straßenpflaster rollen und niemand sich findet, der sie aufhebt.“3
Bekanntlich hat die sozialdemokratische Reichstagsfraktion den Krediten für diesen Krieg von „Preußen-Deutschland“, der 1914 begann, geschlossen zugestimmt. Muss uns das heute noch wundern? Eher nicht! Bereits 1904 hatte der Parteivorsitzende August Bebel – als Vertreter des „orthodoxen Marxismus“ – im Reichstag seine bekannte „Flintenrede“ gehalten:
„... aber wenn der Krieg ein Angriffskrieg werden sollte, ein Krieg, in dem es sich dann um die Existenz Deutschlands handelte, dann - ich gebe Ihnen mein Wort - sind wir bis zum letzten Mann und selbst die ältesten unter uns bereit, die Flinte auf die Schulter zu nehmen und unseren deutschen Boden zu verteidigen, nicht Ihnen, sondern uns zu Liebe, selbst meinetwegen Ihnen zum Trotz. (Sehr wahr! sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.)
Wir leben und kämpfen auf diesem Boden, um dieses Vaterland, unser Heimatland, das so gut unser Vaterland, vielleicht noch mehr als Ihr Vaterland ist. (Sehr gut! bei den Sozialdemokraten.) Das ist unser Bestreben, das suchen wir zu erreichen, und deshalb werden wir jeden Versuch, von diesem Vaterlande ein Stück Boden wegzureißen, mit allen uns zu Gebote stehenden Kräften bis zum letzten Atemzuge zurückweisen.“
Auf dem Parteitag in Essen von 1907 bekräftigte Bebel diese Auffassungen. Mit der im „Manifest der Kommunistischen Partei“ formulierten Erkenntnis, dass die modernen Proletarier kein Vaterland haben, hatte das nichts mehr zu tun. Die Unterscheidung zwischen Angriffs- und Verteidigungskrieg reichte, um sich im ersteren Falle auf die Seite der „eigenen Nation“ zu schlagen. Das vielgerühmte Erfurter Programm betonte zwar den internationalen Charakter der modernen Arbeiter:innenbewegung, lässt aber die Stellung der Sozialdemokratie zu „eigener“ Nation und „eigenem“ Nationalstaat offen. Auf dem Stuttgarter Kongress der 2. Internationale von 1907 kam es dann zu einer bemerkenswerten Auseinandersetzung über die Frage des Kampfes gegen einen drohenden imperialistischen Krieg:
„Jean Jaurès aus Frankreich plädierte für den Massenstreik und nahm auch das Recht zu einem Aufstand für den Notfall in Anspruch. Noch radikaler war Gustave Hervé in dieser Hinsicht. Mit Blick auf die eigene Partei argumentierte August Bebel, dass ein Bekenntnis zu solchen Mitteln für die SPD die Gefahr erneuter Repressionen bedeuten könnte. Nachdem bereits das Kriegsrecht ausgerufen wäre, hielten Bebel und Georg von Vollmar in Deutschland einen politischen Generalstreik für nicht durchführbar.“
Dabei sollte man wissen, dass Jean Jaurès und viele andere französische Sozialisten zu den Reformisten zählten, was sie nicht daran hinderte, eine revolutionäre Politik gegen die Kriegsgefahr zu verlangen. „Revolutionäre“ wie August Bebel und die Vertreter der deutschen Sozialdemokratie verhinderten das. Sie sorgten sich mehr um den Bestand ihrer Organisationen (Partei und Gewerkschaft) als um die drohende gesellschaftliche Katastrophe, die der Weltkrieg heraufbeschwor und die Engels so weitsichtig vorausgesehen hatte. Was sind auch ein paar Millionen Proletarier, die in Schützengräben verrecken, gegenüber erneuter Repression gegen Partei und Gewerkschaften?
Diese Position der deutschen Sozialdemokratie, verfochten durch die „orthodoxen Marxisten“, war auch ein Ergebnis der Massenstreikdebatte von 1906 in der deutschen Sozialdemokratie. Dass die deutsche Sozialdemokratie das deutsche Reich im Ersten Weltkrieg unterstützte und fest an der Seite des Kaisers stand, der jetzt auch nur noch Deutsche kannte, ist jedenfalls nicht vom Himmel gefallen.
IV. Was die Sozialdemokratie spaltete
In dem Artikel zum „revolutionären“ Charakter der deutschen Sozialdemokratie wird die Hegemonie des Marxismus betont, die mit dem Erfurter Programm Einzug gehalten habe. Gemeint ist damit ein „orthodoxer Marxismus“, wie er vor allem von Kautsky, dem führenden Theoretiker der 2. Internationale vertreten wurde. Der hatte auch den allgemeinen Teil des Erfurter Programms formuliert. Der Begriff der Hegemonie deutet ja bereits darauf hin, dass es in der Sozialdemokratie unterschiedliche theoretische und praktische Orientierungen gab. Besonders deutlich war dies in den bereits erwähnten Debatten über Revisionismus und Massenstreiks hervorgetreten.
In Anbetracht der desolaten Situation der heutigen Linken und ihrer politischen Bedeutungslosigkeit kann ich natürlich nachvollziehen, dass Kommunist:innen sich eine politische Massenorganisation von Lohnarbeiter:innen (insbesondere in der Industrie) herbeisehnen, die sich Ziele gibt, wie sie im allgemeinen Teil des Erfurter Programms formuliert sind:
„Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands kämpft also nicht für neue Klassenprivilegien und Vorrechte, sondern für die Abschaffung der Klassenherrschaft und der Klassen selbst und für gleiche Rechte und gleiche Pflichten aller ohne Unterschied des Geschlechts und der Abstammung. Von diesen Anschauungen ausgehend bekämpft sie in der heutigen Gesellschaft nicht bloß die Ausbeutung und Unterdrückung der Lohnarbeiter, sondern jede Art der Ausbeutung und Unterdrückung, richte sie sich gegen eine Klasse, eine Partei, ein Geschlecht oder eine Rasse.“
Das sind zweifellos kommunistische Zielsetzungen, ausgerichtet auf ökonomische Befreiung von Lohnarbeit und allgemein menschliche Emanzipation. In der Revisionismusdebatte, die 1896 – nur kurze Zeit nach der Verabschiedung des Erfurter Programms – einsetzte, wurde aber deutlich, dass für Teile der Partei die Bewegung alles und das Ziel nichts mehr war. Wie sich in der Spaltung der Sozialdemokratie während des Ersten Weltkrieges zeigte, bildeten die Anhänger:innen des Reformsozialismus die Mehrheit der Partei.
Die Spaltung der Sozialdemokratie vollzog sich nicht allein in der Frage der Haltung zum Krieg, wie Kautsky meinte. Der schrieb 1922 in seinem Rückblick auf seine Aktivität in der USPD:
„Von der Mehrheit der Partei schied uns meiner Anschauung nach nur die Haltung im Kriege, die mit diesem vorübergehen mußte.“
Eben: seiner Anschauung nach, aber nicht wirklich. „Mein Verhältnis zur Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei“ ist denn auch eine einzige Schmähschrift gegen die rätekommunistisch orientierten Industriearbeiter:innen, die in großer Zahl die Basis der USPD in ihrer Anfangszeit bildeten. (Durch den Beitritt dieser Lohnarbeiter:innen gewann die KPD rund 300.000 Mitglieder dazu und wurde zur „Massenpartei“, deren Wahlerfolg 1920 die Stimmen für die rechte Mehrheitssozialdemokratie fast halbierte.)
Bei Wikipedia kann man sich darüber informieren, welche Massenstreikaktionen sich im Laufe des Krieges in Deutschland entwickelten, wobei die „Revolutionären Obleute“, die zur USPD gehörten, teils eine zentrale Rolle spielten.
Aber Massenstreik, gar Revolution gegen die Auswirkungen des Krieges und gegen den Krieg selbst, das war nicht das, was der „orthodoxe Marxist“ Kautsky wollte.
„Die große Mehrheit der Ablehner der Kriegskredite stand nicht auf dem revolutionären Standpunkt dieser Art, so sehr sie auch davon überzeugt war, daß der Abschluß des Krieges große innerpolitische Erschütterungen nach sich ziehen müsse. Zu ihnen gehörte auch ich. Wir wollten ebenfalls die rascheste Beendigung des Krieges herbeiführen, aber nicht durch revolutionäre Erhebungen, die uns unwahrscheinlich erschienen und die nur Erfolg hätten haben können als spontane Ausbrüche, die vom Willen der führenden Sozialisten ganz unabhängig waren.
Aber das deutsche Proletariat war eine zu gewaltige Macht, als daß die deutsche Regierung hätte hoffen können, den Krieg zu gewinnen im Gegensatz zu dieser Macht, die ihren offensichtlichen Ausdruck fand in der sozialdemokratischen Parlamentsfraktion.(...)Wir forderten daher von der Regierung die Bereitwilligkeit zu einem Frieden der Verständigung. Nur dadurch war eine baldige Beendigung des Krieges und ein Frieden möglich, der niemand vergewaltigte und versprach, dauernd zu währen. So lange die Regierung sich weigerte, offen und ohne Umschweife ihre Bereitwilligkeit zu einem solchen Frieden zu erklären, waren ihr die Kriegskredite zu verweigern. Allerdings, wenn eine entgegenkommende Erklärung der deutschen Regierung nicht ein entsprechendes Echo bei den Gegnern und vor allem nicht bei deren sozialistischen Parteien gefunden hätte, wenn die deutsche Bereitwilligkeit zum Verständigungsfrieden auf einen unbeugsamen Vernichtungswillen der Gegner gestoßen wäre, dann hätten wir wohl oder übel die Regierung in dem dann unzweifelhaften Abwehrkampf durch Bewilligung der Kriegskredite unterstützen müssen so lange, bis die feindlichen Mächte zum Verständigungsfrieden geneigt waren.“4
Dass es da zu einer „revolutionären Erhebung“ kommen könnte, ganz „unabhängig vom Willen der führenden Sozialisten“, erschien nicht nur „unwahrscheinlich“, sondern auch ganz und gar unnötig, weil doch die „gewaltige Macht“ des Proletariats schon ihren Ausdruck fand „in der sozialdemokratischen Parlamentsfraktion“! 1890 setzte sich diese geballte Macht des Proletariats in der Parlamentsfraktion beispielsweise wie folgt zusammen: 7 Journalisten und Redakteure, 6 Kauflaute und Händler, 4 Schriftsteller, 3 Gastwirte, 3 Zigarrenfabrikanten, 2 Rentner, 2 Fabrikanten, 1 Schuhmacher, 1 Lithograph, 1 Verleger, 1 Rechtsanwalt, 1 Zigarrenmacher, 1 Zigarrenarbeiter, 1 Parteifunktionär, 1 Schneidermeister. Zweifellos bestand die Masse der sozialdemokratischen Parteimitglieder aus Industriearbeiter:innen, aber in den entscheidenden Gremien der Partei spielten sie keine Rolle. So auch auf Parteitagen: „Auf dem Parteitag in Jena 1911 waren nicht mehr als gut 10% Arbeiter. Der Rest bestand aus Parteifunktionären, Parteijournalisten, Gewerkschaftsfunktionären, Angestellten von Krankenkassen, Konsumvereinigungen usw.“5
Die Sozialdemokratie als „Verbindung von Sozialismus und Arbeiterbewegung“, als die sie in dem Artikel auf Communaut gepriesen wird, konnte diese Verbindung allenfalls darstellen in der Mitgliedschaft; Parlamentsfraktion und Parteitage scheinen da eine ganz andere Verbindung zum Ausdruck zu bringen.
V. Revolution wider den „Willen der führenden Sozialisten“
Wenn die „orthodoxen Marxisten“ in der SPD eins nicht wollten, dann waren es revolutionäre Erhebungen, und zwar weder zur Verhinderung eines Krieges noch zur Eroberung politischer Macht und auch nicht zur Sozialisierung der Produktionsmittel. Speziell Kautsky sorgte sich stets um die „Selbstbeherrschung“ und Disziplin der Lohnarbeiter:innen, wollte jede „zwecklose Provokation“ der herrschenden Klassen vermeiden, um deren „nervösen Stimmungen“ vorzubeugen und den Erhalt der bestehenden Organisationen zu sichern. Im Übrigen sei der politische Einfluss der Sozialdemokratie in den hoch entwickelten Ländern bereits zu mächtig, „als dass die bürgerlichen Politiker ganz nach Belieben mit ihr Verfahren könnten.“ Was zu erledigen sei, sollten die bestehenden Organisationen der Arbeiter:innenbewegung auf friedlichem Wege erledigen, langsam aber stetig vorwärts schreitend. So nachzulesen in „Der Weg zur Macht“. Darin wird dann auch folgendes Loblied auf „die Demokratie“ und „die demokratisch-proletarische Methode des Kampfes“ angestimmt:
„Die Demokratie kann die Klassengegensätze der kapitalistischen Gesellschaft nicht beseitigen, und deren notwendiges Endergebnis, den Umsturz dieser Gesellschaft, nicht aufhalten. Aber eins kann sie: sie kann nicht die Revolution, aber sie kann manchen verfrühten, aussichtslosen Revolutionsversuch verhüten und manche revolutionäre Erhebung überflüssig machen. Sie verschafft Klarheit über die Kräfteverhältnisse der verschiedenen Parteien und Klassen; sie beseitigt nicht deren Gegensätze und verschiebt nicht deren Endziele, aber sie wirkt dahin, die aufstrebenden Klassen zu hindern, dass sie sich jeweilen an die Lösung von Aufgaben machen, denen sie noch nicht gewachsen sind, und sie wirkt auch dahin, die herrschenden Klassen davon abzuhalten, Konzessionen zu verweigern, zu deren Verweigerung sie nicht mehr die Kraft haben. Die Richtung der Entwicklung wird dadurch nicht geändert, aber ihr Gang wird steter, ruhiger.(…) Die demokratisch-proletarische Methode des Kampfes mag langweiliger erscheinen als die der Revolutionszeit der Bourgeoisie; sie ist sicher weniger dramatisch und effektvoll, aber sie erfordert auch weit weniger Opfer. Das mag einem schöngeistigen Literatentum sehr gleichgültig sein, das in Sozialismus macht, um einen interessanten Sport und interessante Stoffe zu finden, nicht aber jenen, die den Kampf wirklich zu führen haben.“
Die Schrift „Der Weg zur Macht“ strotzt nur so von katastrophalen Fehleinschätzungen in Bezug auf den Klassenkampf zwischen „Proletariat und Bourgeoisie“.
Als in Deutschland gegen den „Willen der führenden Sozialisten“ – also von Leuten wie Ebert, Scheidemann, Noske etc., die allesamt zu dieser tollen „Elite“6 zählten – die revolutionäre Erhebung die Monarchie als Staatsgewalt zum Einsturz brachte und zerstörte, änderte sich Kautskys Wortwahl, nicht aber an seine praktische Vorstellung von einer sozialen Revolution. Beides drückt sich aus in seinen „Richtlinien für ein sozialistischen Aktionsprogramm“ vom Januar 1919.7 Speziell seine Praxis im Vorsitz dieser merkwürdigen Sozialisierungskommission zeigt den ganzen Bankrott seiner Strategie und Taktik. Zunächst aber sieht es so aus, als sollte die Partei wirklich Revolution „machen“ wollen. Da ist sogar plötzlich die Rede vom Zerbrechen der bürokratisch-militärischen Staatsbürokratie. Daraus wurde so wenig etwas wie aus der Sozialisierung. Wieder alles nur „revolutionäre“ Sprüche auf dem Papier.
„Am 9. November 1918 hat das Proletariat Deutschlands die politische Macht erobert. Seine große Mehrheit steht auf dem Boden des Programms, das sich die deutsche Sozialdemokratie 1891 auf dem Erfurter Parteitag gegeben hat.
Jetzt gilt es, an die rascheste Anwendung des Programms zu gehen. Um das planmäßig und einheitlich durchzuführen, dazu reichten seine allgemeinen Sätze nicht aus. Dazu bedarf es der Formulierung eines besonderen Aktionsprogramms. Die Verständigung aller wahrhaft sozialdemokratisch Gesinnten über ein solches Programm ist dringend notwendig geworden, um das Proletariat in den Stand zu setzen, einmütig sowohl seine politische Macht zweckmäßig anzuwenden, wie um sie zu behaupten, wo sie gefährdet ist, oder endlich, um sie wiederzugewinnen, wenn sie ihm vorübergehend entgleiten sollte.“
Der Gedanke, für die Einleitung einer sozialen Revolution reiche es, dass nur die „wahrhaft sozialdemokratisch Gesinnten“ sich auf ein gemeinsamen Aktionsprogramm einigen, drückt wieder den elitären Standpunkt Kautskys aus. Ganz erstaunlich ist dann folgender Satz:
„Am 9. November hat das deutsche Volk die demokratische Republik erobert. Das ist die unerlässliche politische Grundlage des neuen Gemeinwesens, das wir aufbauen wollen. An ihr müssen wir unerschütterlich festhalten, sie müssen wir konsequent nach allen Richtungen aufbauen.“
Dass Scheidemann die demokratische Republik ausgerufen hatte, reichte Kautsky bereits für die Feststellung, dass die demokratische Republik „erobert“ sei. Erstmal gab es aber nur die provisorische Regierung, den Vollzugsrat, bestehend aus Mehrheitssozialdemokraten und Unabhängigen. In Gestalt dieses Vollzugsrates hatte also „das Proletariat“ die Macht erobert! Doch schnell schon lief etwas schief: „Aus Protest gegen das gewaltsame Vorgehen von Regierungstruppen gegen die Volksmarinedivision während der Weihnachtskämpfe traten die USPD-Mitglieder am 29. Dezember 1918 aus dem Gremium aus und wurden durch zwei weitere Mehrheitssozialdemokraten ersetzt. Der Rat bezeichnete sich von da an selbst als Reichsregierung.“8
Welche Regierungstruppen sind denn da überhaupt gegen die Volksmarinedivision vorgegangen? Hatte es in der Richtlinie für das Aktionsprogramm nicht geheißen:
„Marx erklärte in einem Brief über die Pariser Kommune vom 12. April 1871: ‚Die Vorbedingung jeder wirklichen Volksrevolution auf dem Kontinent bestehe darin, nicht mehr wie bisher die bureaukratisch-militärische Maschinerie aus einer Hand in die andere zu übertragen, sondern sie zu zerbrechen.‘ Das ist auch unsere Aufgabe. Dazu gelten vor allem die schleunigste Auflösung des stehenden Heeres und die völlige Aufhebung der Herrschaftsstellung, die das Offizierkorps in ihm und durch es im Staat bisher einnahm. An Stelle des stehenden Heeres soll eine Volkswehr treten mit einer kurzen Ausbildungszeit von zwei bis drei Monaten für den Mann. Auch die Offiziere der unteren Grade sollen nicht berufsmäßige Soldaten sein, sondern ihre Ausbildung neben ihrem Zivilberuf empfangen. Bloß die Instruktionsoffiziere und die der höheren Grade sollen Berufssoldaten bleiben. Außerdienstlich soll weder Uniform noch Waffe getragen werden und soll dem Vorgesetzten keinerlei Kommandogewalt über den Untergebenen zustehen.“
„Schleunigst“ passierte aber etwas ganz anderes. Der Vollzugsrat und vor allem dann die Reichsregierung stützte ihre Macht auf die äußerst reaktionären Freikorps und Offiziersverbände. Diese Zusammenarbeit bewährte sich in der ganzen revolutionären Periode bis 1923.
Die Reichsregierung, dieses Zentrum proletarischer Macht, verteidigte die „demokratische Republik“ beziehungsweise das, was sie darunter verstand. Sofern es eine wirkliche Bewegung zur Sozialisierung gab, war das die Rätebewegung, die mit Hilfe der vom Kaiserreich übernommenen bürokratisch-militärischen Maschine blutig unterdrückt wurde.
Und wie stellte sich Kautsky nun die „Sozialisierung“ praktisch vor? Dazu heißt es im „Leitfaden“: „Die deutsche Republik soll eine demokratische Republik sein. Sie soll aber mehr werden, sie soll eine sozialistische Republik werden, ein Gemeinwesen, in dem die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen keine Stätte mehr hat. Jedoch noch dringlicher als die Frage der Produktionsweise ist die der Produktion selbst. Der Krieg hat die Produktion gewaltsam unterbrochen. Sie wieder zu beleben und in Gang zu bringen, ist unsere dringendste Aufgabe. Sie bildet die Vorbedingung jedes Versuchs einer Sozialisierung der Produktion.“
Folgte Kautsky bisher der Logik, es gelte erst die politische Macht erobern, um danach die Produktionsweise umzuwälzen, so wurde nun ein weiterer Zwischenschritt eingefügt: Erst wollte man die politische Macht erobern, um danach die Produktion unter kapitalistischen Produktionsverhältnissen wieder in Gang zu bringen und dann erst die Produktionsweise umwälzen.
Über den Streik zur Durchsetzung von Interessen der Arbeiter:innenklasse heißt es dann bei Kautsky:
„Der Streik ist ein unerlässliches Mittel für den Arbeiter, sich kapitalistischer Unterdrückung zu erwehren und bessere Lebensbedingungen zu erkämpfen in einem Staate, in dem die Staatsgewalt in den Händen der Kapitalistenklasse ist. Aber dieses Mittel ist ein zerstörendes, in gleicher Weise wie der Krieg der Waffen. Ein Staat, in dem die politische Gewalt in den Händen der Arbeiter ist, muss trachten, für jene Produktionszweige, in denen er noch nicht das Kapital ökonomisch ausschalten kann, andere Methoden zur Wahrung der Ansprüche der Arbeiter einzuführen, Methoden, die den Produktionsprozess weniger hemmen und stören. Das ist namentlich wichtig heute, nachdem der Krieg Deutschland so unendlich verarmt hat, dass jeder Streik doppelt verheerend wirkt.“
Da wird mal eben der Streik mit dem Krieg gleich gesetzt! Bemerkenswerte Leistung eines „orthodoxen Marxisten“. Streik erscheint nur noch als berechtigt, wenn „die Staatsgewalt in den Händen der Kapitalisten ist“. Noch eine bemerkenswerte Leistung: Das Privateigentum an Produktionsmittel, die ökonomische Macht des Kapitals, rechtfertigt allein noch keine Streiks.
Sprach das „Manifest der Kommunistischen Partei“ noch von „despotischen Eingriffen in die Eigentumsverhältnisse“, so will Kautsky auch bei der Sozialisierung jede Provokation der Privateigentümer vermeiden:
„Die Besitzer der verstaatlichten Betriebe sollten entschädigt werden. Dabei wäre zu berücksichtigen einmal der Wert der Produktionsmittel, Baulichkeiten, Maschinen, Rohstoffe, die sie umfassen; dann ihre augenblickliche Rentabilität, nach Durchführung der allgemeinen Sozialreformen. (…) Wir haben schon darauf hingewiesen, dass die Enteignung der sozialisierten Betriebe zu geschehen hatte auf dem Wege der Ablösung, nicht der Konfiskation.
Dafür sprechen nicht nur Gründe der Gerechtigkeit, da die Konfiskation nur einige der Kapitalisten, nicht die Masse träfe, und nicht bloß Kapitalisten, sondern auch kleinere Leute. Es sprechen dafür auch ökonomische Gründe, weil die Konfiskation die produzierenden Kapitalisten in höchstem Grade beunruhigen und stören würde in einem Zeitpunkt, in dem der Produktionsprozess äußerster Schonung bedarf.“ usw.
Kautsky wurde dann Vorsitzender der von der sozialdemokratischen Regierung eingesetzten „Sozialisierungskommission“. Die nötigsten Informationen über sie findet man bei Wikipedia. Demnach sahen die Resultate der 1. Kommission so aus:
„Die Arbeit der Kommission litt aber massiv unter Einflussversuchen der aus der Zeit des Kaiserreichs übernommenen Bürokratie. Vor allem Unterstaatssekretär August Müller, obwohl Sozialdemokrat ein erklärter Gegner jeder Sozialisierung, hat die Kommission stark behindert, dem Reichswirtschaftsamt unterstellt. Aus Protest legte die Kommission Anfang April 1919 die Arbeit nieder. Obwohl es im März 1919 zur Verabschiedung des Gesetzes zur Sozialisierung des Kohlebergbaus kam, blieb die Umsetzung aus.“
Die Ergebnisse der 2. Kommission waren kaum besser:
„Die Kommission bestand bis 1923, ohne dass die Vorschläge irgendeine konkrete wirtschaftspolitische Wirkung entfalteten. Dafür werden mehrere Gründe angegeben. Neben der Uneinigkeit seitens der Arbeitnehmerverbände und den Gewerkschaften wurde vor allem die Politik seitens der Unternehmen gesehen, welche als Strategie der Verhinderung betrieben wurde. Dazu gehörten Verzögerungstaktiken und auch versuchte personale Einflussnahmen bis hin zur aktiven Uminterpretation einstiger Vorstellungen. So gelang es insbesondere Hugo Stinnes in Kritik der Sozialisierungsvorhaben als zu „zentralistisch“ und zu „bürokratisch“, einen Gegenvorschlag einzubringen, in dem das vertikale Zusammenrücken aller Interessenten vorgeschlagen wurde. Infolgedessen kam es im Zuge der damaligen Entwicklungen zu einer weiteren Zunahme der Konzentration der Wirtschaftsstrukturen – nun nicht nur als horizontale, sondern zunehmend auch als vertikale Konzentration. Bis 1933 dann war Deutschland das „Land der Kartelle“ in Europa geworden.“
Mit einem Wort: Wieder ein grandioser Erfolg von Strategie und Taktik der Elite des „orthodoxen Marxismus“. Man hatte wieder alles genauestens berechnet und auf Papier geschrieben. Die wirkliche Arbeiter:innenbewegung mochte sich damit aber nicht zufrieden geben. Speziell im Ruhrgebiet kam es im Frühjahr 1919 zu einer großen Bewegung für die Sozialisierung, getragen vor allem von den Bergarbeitern. Auf dem Höhepunkt der Streiks – verantwortungslos und unerhört – nahmen rund 300.000 Malocher an diesen Kampfaktionen teil – Lohnarbeiter:innen aller Richtungen der Arbeiter:innenbewegung, auch der Mehrheitssozialdemokratie. Diese Bewegung für die Sozialisierung war zugleich eine Rätebewegung.9 Dem vorausgegangen waren immer wieder Massenstreiks der Bergarbeiter im Ruhrgebiet – erstmals 1872, dann 1889, 1905 und schließlich 1912.10
Schaut man sich diese Massenstreiks etwas genauer an, dann kann man etwas lernen über den Zusammenhang von spontanen Kämpfen von Lohnarbeiter:innen, der Bildung von Organisationen und über deren Reaktionen auf solche Kämpfe, die ja nicht aufhören, bloß weil es Organisationen gibt. 1872 und 1889 gab es noch keine gewerkschaftliche Organisation der Bergarbeiter. Die entstand erst nach dem Streik von 1889. Dieser Streik hatte zugleich enorme politische Bedeutung, und kritische Historiker:innen sind sich darin einig, dass er wesentlich zur Aufhebung der Sozialistengesetze beitrug.
Der Streik von 1905 begann bereits November 1904 in einer einzelnen Bochumer Zeche. Die Gewerkschaft wollte ihn unbedingt darauf beschränkt halten und warnte ausdrücklich vor einem sich ausweitenden Massenstreik. Sie konnte jedoch nicht verhindern, dass sich der Streik wie ein Lauffeuer auf andere Zechen im Ruhrgebiet ausbreitete. Schließlich unterstützte die Gewerkschaft „Alter Verband“ den Massenstreik.
Nach diesem kleinen Ausflug in die Geschichte der Bergarbeiterbewegung zurück zur Sozialisierungsbewegung von 1919 im Ruhrgebiet. Die Bergarbeiter und darüber hinaus Teile des Industrieproletariats dachten darüber, was jetzt zu tun sei, jedenfalls ganz anders als Kautsky, und sie handelten auch entsprechend. Peter von Oertzen schreibt dazu:
„Das Sozialisierungsproblem jener Jahre darf dabei freilich nicht auf den Bereich bloß instrumentaler technisch-ökonomischer Eingriffe in die bestehende Wirtschaftsordnung eingeschränkt werden. In diesem engeren Sinne ist es zwar von einem Teil der Wirtschaftspolitiker und -theoretiker der Zeit verstanden worden, aber jene begrenzte Auffassung traf nicht die Vorstellungen und Beweggründe, von denen die Arbeitermassen geleitet wurden, die im Jahre 1919 und später die Sozialisierung forderten.“11
Dann heißt es bei ihm weiter – und ich zitiere etwas ausführlicher, weil ich das so treffend finde und meine Position dazu nicht hätte besser formulieren können:
„Die wirtschaftlich-soziale Rätebewegung – nur um sie, nicht auch um die politische und militärische handelt es sich hier – begriff die Räteorganisation der Wirtschaft fast immer als Vorstufe und Unterbau der Sozialisierung; die Sozialisierungsbewegung konnte sich die Vergesellschaftung der Produktion kaum anders als auf der Grundlage und in der Form der Räteorganisation vorstellen. (…)
Dieser Zusammenhang ist nicht zufällig, sondern beruht auf Grundgedanken, die unzweifelhaft in die Vorstellungswelt der Arbeiter eingegangen waren. Es sind dies: Die Vorstellung, daß die gesellschaftliche Lage der Arbeiter in erster Linie durch die wirtschaftlichen Verhältnisse und in ihnen durch das Lohnarbeitsverhältnis bestimmt sei; die Vorstellung, daß die Gleichmäßigkeit dieses Verhältnisses für alle Arbeiter ein grundsätzlich gleiches gesellschaftliches Interesse, ein Klasseninteresse herstelle; die Vorstellung, daß die gesellschaftliche Lage der Arbeiter infolgedessen von Grund auf nur durch die Änderung der wirtschaftlichen Verhältnisse, durch das Gemeineigentum an den Produktionsmitteln, durch Aufhebung der Lohnarbeit, kurz, durch den Sozialismus oder Kommunismus gebessert werden könne.
Die Voraussetzung solcher Vorstellungen ist natürlich eine Auflehnung der Arbeiter gegen ihre ihnen eigentümliche gesellschaftliche Lage. Diese Auflehnung ist eine geschichtliche Tatsache; sie bestimmte auch die Sozialrevolutionären Strömungen in der deutschen Revolution von 1918/19. Wenn wir die ganze komplizierte „Arbeiterfrage" der Vorweltkriegszeit einmal aufs äußerste vereinfachen dürfen, dann richtete sich die Auflehnung der Arbeiter vor allem gegen zwei bestimmte Bedingungen ihrer Existenz. Die eine war die wirtschaftliche Not, die sie bedrückte und erniedrigte, die andere aber war die aus dem Charakter der Lohnarbeit als unselbständiger fremdbestimmter Tätigkeit entspringende Unterwerfung des Arbeiters unter die unmittelbare Befehlsgewalt des Unternehmers oder seines Beauftragten und – mit fortschreitender Technisierung zunehmend – unter die starre Disziplin des mechanisierten Arbeitsprozesses.
Die Verknüpfung der sozialistischen Vorstellungswelt mit der wirklichen gesellschaftlichen Lage blieb freilich so lange höchst allgemein und unbestimmt, als die Verwirklichung des Sozialismus nicht in greifbarer Nähe zu sein schien. Besonders der in Deutschland herrschende dogmatische und entwicklungsgläubige Marxismus Kautskyscher Prägung wies jede Frage nach der konkreten Gestalt der sozialistischen Zukunftsgesellschaft als unwissenschaftlich zurück. Die fehlende Antwort auf die Frage: Was tun? stürzte die deutschen Sozialisten im Jahre 1918 in ein schweres Dilemma. Die Sozialisierung – und das konnte, wenn dieses Wort irgendeinen Sinn haben sollte, doch nur heißen: die Verwirklichung des Sozialismus stand plötzlich auf der Tagesordnung. Aber wie sollte sie aussehen? Wie sollte die abstrakte Formel der Sozialisierung mit ihrem konkreten Sinn, der „Emanzipation der Arbeiterklasse“, in Beziehung gesetzt werden? Zu dem Ziel, die materielle Lage der Arbeiterschaft zu heben und eine gerechtere Verteilung der Güter zu bewirken, bot sich ein Weg an, der sowohl gangbar als auch mit der marxistischen Tradition in Einklang zu sein schien: Verstaatlichung bzw. Kommunalisierung privater Unternehmungen im Rahmen einer „planmäßigen Gemeinwirtschaft". Aber würde durch eine solche „Sozialisierung" die andere Bedingung der Arbeiterexistenz verändert werden können? Würden die Arbeiter damit zufrieden sein, für die „Allgemeinheit", statt für den Unternehmer zu arbeiten und einem staatlichen Beauftragten, statt einem privaten Angestellten zu gehorchen?
Die Theoretiker und Ideologen der Sozialisierung haben diese Frage als eine theoretische Frage gestellt; die Arbeiter haben sie durch die Praxis beantwortet. In dem Augenblick, in dem nach der politischen Revolution die tatsächliche Möglichkeit sozialer Veränderungen in ihren Gesichtskreis trat und sich notwendigerweise mit dem Begriff der Sozialisierung verknüpfte, griffen sie, in Gedanken und in Wirklichkeit, zu dem von den Syndikalisten seit eh und je propagierten Mittel der „action directe". Dieser Begriff bedeutet nichts weiter als die „unmittelbare Auflehnung" gegen die abhängige Lohnarbeiterexistenz dort, wo sie sich tagtäglich vollzieht, in der Werkstatt, im Betrieb, im Unternehmen. Die Form dieser Auflehnung war das Rätesystem! Der unmittelbar gewählte und jederzeit abberufbare Vertrauensmann der Kollegen, der Arbeiterrat, sollte die Herrschaft der Unternehmer am Arbeitsplatz selbst brechen; der Zusammenschluß der Räte in Gemeinde, Land und Reich aber war dazu bestimmt, die Sozialisierung der Gesamtwirtschaft zu kontrollieren und dem drohenden Übergewicht bürgerlicher Fachleute, aber auch der eigenen Funktionäre zu begegnen. Die Notwendigkeit dieses inneren Zusammenhangs von Sozialisierung und Rätesystem ist im tatsächlichen Verlauf der sozialen Bewegung des Jahres 1919 deutlich in Erscheinung getreten.“12
Die wirkliche Arbeiter:innenbewegung – und dafür ließen sich weitere Beispiele aus der Geschichte anführen – kennt dieses schematische Nacheinander der Eroberung politischer Macht und der ökonomischen Umwälzung nicht. Der Zweck der ökonomischen Befreiung verschafft sich direkt in jeder revolutionären Situation Geltung und führt zu entsprechenden Aktionen von Lohnarbeiter:innen. Jede wirkliche Arbeiter:innenbewegung wird in keinem Fall akzeptieren, dass sie erst die Produktion unter kapitalistischen Bedingungen wieder in Gang bringen müsse, um dann –entlang des Plans einer Kommission unter Beteiligung von Kapitalbesitzer:innen und gegen Entschädigung derselben – ohne alle Provokation die Unternehmen zu „sozialisieren“.
„Die neue republikanische Regierung“, so Oertzen, „erblickte in den Sozialisierungs- und Rätebestrebungen der Arbeiterschaft in erster Linie Spartakismus, Diktaturstreben, Aufruhr und den Ausbruch der Anarchie schlechthin und hielt es für ihre Pflicht, die Bewegung mit Gewalt niederzuschlagen.“13
Was die Einschätzung dieser Bestrebungen der Arbeiter:innenschaft in den Jahren 1918/19 anbetrifft, stand der „Revolutionär“ Kautsky fest an der Seite der reaktionären Mehrheitssozialdemokraten in der Regierung, und sein Weg zurück in die Partei, von der er sich nur wegen seiner halbseidenen, zögerlichen Kritik an der Vaterlandsverteidigung getrennt hatte, war vorgezeichnet.
Der Artikel über die „revolutionäre“ Sozialdemokratie ist vor allem ein weitgehend kritikloses Loblied auf den orthodoxen Marxismus, speziell von Kautsky. Dass dieser Marxismus einen wichtigen Beitrag zur Verbreitung radikal antikapitalistischer Ideen in der Arbeiter:innenbewegung geleistet hat, das will ich nicht bestreiten. Sein Verhältnis zu Spontaneität und Organisation aber, seine Vorstellung, dass eine in einer politischen Partei organisierte Elite die Massen zum Kommunismus führt, egal übrigens ob in Gestalt einer deutschen Sozialdemokratie oder der Gestalt einer bolschewistischen Partei, und dass die grundlegende Form der Sozialisierung die Verstaatlichung sei usw. – das alles sind Fehler, die wesentlich zu den „allgemeinen Resultaten der proletarischen Bewegung“ beigetragen haben; zu Resultaten, die heute alle Kommunist:innen beklagen, die den Dogmatismus abgeschüttelt haben. Will man theoretische Lehren ziehen aus der Geschichte, muss man die Fehler des „orthodoxen Marxismus“ gründlich kritisieren.
- 1. Der Vollständigkeit halber zitiere ich hier den ganzen Gedanken, den Engels in seiner „Einleitung …“ ausführt:
„Was aber auch in anderen Ländern geschehen möge, die deutsche Sozialdemokratie hat eine besondere Stellung und damit wenigstens zunächst auch eine besondere Aufgabe. Die zwei Millionen Wähler, die sie an die Urnen schickt, nebst den jungen Männern und den Frauen, die als Nichtwähler hinter ihnen stehen, bilden die zahlreichste, kompakteste Masse, den entscheidenden "Gewalthaufen" der internationalen proletarischen Armee. Diese Masse liefert schon jetzt über ein Viertel der abgegebnen Stimmen; und wie die Einzelwahlen für den Reichstag, die einzelstaatlichen Landtagswahlen, die Gemeinderats- und Gewerbegerichtswahlen beweisen, nimmt sie unablässig zu. Ihr Wachstum geht so spontan, so stetig, so unaufhaltsam und gleichzeitig so ruhig vor sich wie ein Naturprozeß. Alle Regierungseingriffe haben sich ohnmächtig dagegen erwiesen. Auf 2/4 Millionen Wähler können wir schon heute rechnen. Geht das so voran, so erobern wir bis Ende des Jahrhunderts den größeren Teil der Mittelschichten der Gesellschaft, Kleinbürger wie Kleinbauern, und wachsen aus zu der entscheidenden Macht im Lande, vor der alle andern Mächte sich beugen müssen, sie mögen wollen oder nicht. Dies Wachstum ununterbrochen in Gang zu halten, bis es dem gegenwärtigen |(2. Fassung:) herrschenden| Regierungssystem von selbst über den Kopf wächst, {diesen sich täglich verstärkenden Gewalthaufen nicht in Vorhutkämpfen aufreiben, sondern ihn intakt zu erhalten bis zum Tag der Entscheidung,} das ist unsere Hauptaufgabe. Und da ist nur ein Mittel, wodurch das stetige Anschwellen der sozialistischen Streitkräfte in Deutschland momentan aufgehalten und selbst für einige Zeit zurückgeworfen werden könnte: ein Zusammenstoß auf großem Maßstab mit dem Militär, ein Aderlaß wie 1871 in Paris. Auf die Dauer würde das auch über- |525| wunden. Eine Partei, die nach Millionen zählt, aus der Welt schießen, dazu reichen alle Magazingewehre von Europa und Amerika nicht hin. Aber die normale Entwickelung wäre gehemmt, {der Gewalthaufe wäre vielleicht im kritischen Moment nicht verfügbar,} der Entscheidungskampf |(2. Fassung:) die Entscheidung| würde verspätet, verlängert und mit schwereren Opfern verknüpft.“ (http://www.mlwerke.de/me/me22/me22_509.htm) Bemerkenswert ist auch, dass Engels die tatsächliche und potentielle SPD-Wählerschaft für „einen sich täglich verstärkenden Gewalthaufen“ hält. Da scheint doch der alte Revolutionär mit ihm durchgegangen zu sein. - 2. Ich verweise in diesem Zusammenhang auf die ausgezeichnete Studie von Walter Rösler «Befreiung auf dem Standpunkt der Theorie, welche den Menschen für das höchste Wesen des Menschen erklärt». Darin wird diese angeblich von Marx entwickelte „historische Mission der Arbeiterklasse“ gründlich vorgeführt. Man kann sie bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung herunterladen: https://www.rosalux.de/publikation/id/6931/befreiung-auf-dem-standpunkt…
- 3. Engels, Einleitung zu Sigismund Borkheims Broschüre „Zur Erinnerung für die deutschen Mordspatrioten“, MEW, Bd. 21, S. 350 f.
- 4. https://www.marxists.org/deutsch/archiv/kautsky/1922/xx/uspd.htm
- 5. Zahlen nach Bo Gustafsson „Marxismus und Revisionismus“, Europäische Verlagsanstalt 1972, S. 26.
- 6. „Bildet heute schon seine (des Proletariats, R.S.) Elite die stärkste, weitestblickende, selbstloseste, kühnste, in den größten freien Organisationen vereinigte Schicht der Nationen europäischer Kultur, so wird es im Kampf und durch den Kampf die selbstlosen und weitblickenden Elemente aller Klassen in sich aufnehmen, in seinem eigenen Schoße selbst seine zurückgebliebensten Elemente organisieren und bilden, mit Hoffnungsfreudigkeit und Einsicht erfüllen; wird es seine Elite an die Spitze der Kultur erheben und fähig machen, jene ungeheure ökonomische Umwandlung zu leiten, die allem aus Knechtschaft, Ausbeutung, Unwissenheit entstehenden Elend schließlich auf dem ganzen Erdenrund ein Ende bereiten wird.“ (https://www.marxists.org/deutsch/archiv/kautsky/1909/macht/9-zeitalter…) Hätte Marx von dieser Elite gelesen, hätte er sich vermutlich im Grabe umgedreht.
- 7. Alle folgenden Zitate aus dieser Schrift lassen sich hier nachlesen: https://www.marxists.org/deutsch/archiv/kautsky/1919/01/richtlinien.html
- 8. https://de.wikipedia.org/wiki/Rat_der_Volksbeauftragten
- 9. Die nötigsten Informationen findet man bei Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Sozialisierungsbewegung_im_Ruhrgebiet. Weiterführend: Peter von Oertzen, „Die großen Streiks der Ruhrbergarbeiterschaft im Frühjahr 1919“, https://www.ifz-muenchen.de/heftarchiv/1958_3_2_oertzen.pdf. Alle folgenden Zitate aus dieser Schrift stammen aus dieser pdf-Datei.
- 10. Auch hier ist Wikipedia informativ: https://de.wikipedia.org/wiki/Bergarbeiterstreik_von_1872; https://de.wikipedia.org/wiki/Bergarbeiterstreik_von_1889; https://de.wikipedia.org/wiki/Bergarbeiterstreik_von_1905; https://de.wikipedia.org/wiki/Bergarbeiterstreik_von_1912
- 11. Oertzen, „Die großen Streiks“; S. 233f.
- 12. Ebd., S. 234–236.
- 13. Ebd., S. 238.