Kommentare zum Krieg

16. Dezember 2023

Vorbemerkung der Communaut-Redaktion

Im Folgenden wollen wir den ersten Teil von Kritiken und Kommentaren dokumentieren, die uns zum zuletzt hier veröffentlichten Text von Internationalist Perspective und der dazu von der Redaktion Communaut verfassten Einleitung erreicht haben. Ein zweiter Teil mit einer einzelnen, etwas längeren Reaktion unseres Genossen Robert Schlosser wird zeitnah folgen.

Im Gegensatz zu den meisten anderen Texten, die wir in den letzten Jahren veröffentlicht haben, erhielten wir zu besagtem Artikel sowie unserer kurzen Einleitung äußerst viele Reaktionen, positive wie negative. Das kam nicht gerade unerwartet: Der Nahostkonflikt geht schließlich, insbesondere in Deutschland, seit Jahren mit einer massiven Polarisierung innerhalb der Linken einher. Beide Pole und ihre Reaktionen auf das Hamas-Massaker vom 7. Oktober 2023 und die anschließende Reaktion Israels haben wir in unserer Einleitung zu IP für ihre nationalistische Parteilichkeit kritisiert. Nun wurden wir von einigen Genoss:innen, die uns Reaktionen zukommen haben lassen, dafür kritisiert, beide Seiten nicht gleichmäßig getadelt zu haben. Uns wurde unterstellt, zumindest implizit, wenn nicht sogar explizit, eine pro-israelische Position eingenommen zu haben.

Festgemacht wurde das unter anderem an unserem Satz, wonach „die massenhafte (und durch nichts zu rechtfertigende) Vertreibung von Palästinenser:innen im Jahr 1948 im Zuge eines Krieges erfolgte, der mit einem Überfall auf Israel durch seine arabischen Nachbarstaaten begann". Es ist Zeugnis der polarisierten Auseinandersetzung um dieses Thema, dass aus dem simplen Hinweis darauf, dass die Vertreibungen nicht ohne Kontext und aus schierer Bösartigkeit durchgeführt wurden, bereits eine Voreingenommenheit für die Vertreiber herausgelesen wird. Unsere Parteilichkeit würde sich dabei daran zeigen, dass wir die Bürgerkriegsphase des Unabhängigkeitskrieges zwischen Winter 1947 und Frühling 1948 nicht erwähnt hätten, in denen es schließlich auch schon Vertreibungen gegeben habe. Überhaupt mache der ‚Plan Dalet‘ deutlich, dass die ethnische Säuberung Palästinas die lange gehegte Zielvorstellung der Zionist:innen gewesen sei.

Diese Vorwürfe wollen wir nicht unkommentiert stehen lassen. Zunächst ist es richtig, dass unser Satz, was den historischen Ablauf angeht, schief ist. Es gab schon vor dem arabischen Einmarsch einen Bürgerkrieg im Mandatsgebiet Palästina, der auf die Verabschiedung des UN-Teilungsplans von 1947 folgte. Auch dieser wurde allerdings von palästinensischer bzw. arabischer Seite losgetreten und durch Freiwillige aus den umliegenden arabischen Ländern unterstützt, von denen die meisten in Syrien von der Arabischen Liga zusammengetrommelt wurden. Ebenso stimmt es, dass schon im Zuge der ersten Monate des Krieges Vertreibungen stattgefunden haben. Der absolute Großteil des palästinensischen Exodus fällt allerdings auf die Phase der Kämpfe, die durch den formellen Eingriff der arabischen Armeen nach der israelischen Unabhängigkeitserklärung ausgelöst wurden. Das israelische Staatsnarrativ, in dessen Nähe wir gerückt wurden, geht davon aus, dass es weder vor noch nach Mai 1948 überhaupt Vertreibungen durch Haganah oder IDF gab, und dass sämtliche Araber:innen freiwillig geflohen bzw. von ihrer Führung zur Flucht aufgerufen worden seien. Nichts dergleichen wird von uns behauptet.

Die Bedeutung von ‚Plan Dalet‘, der gegen unsere Einordnung der Vertreibungen ins Feld geführt worden ist, ist in der einschlägigen Forschung zum Krieg von 1947-49 wesentlich umstrittener als von manchen unserer Kritiker:innen vorgebracht. Während antizionistische Historiker wie Ilan Pappe oder Rashid Khalidi die Intentionalität der Nakba als felsenfest erwiesen darstellen, verweist etwa Benny Morris darauf, dass der Plan explizit die Funktion hatte, jüdische Ballungsräume und jene Zonen militärisch abzusichern, von denen man erwartete, dass sie zu den Angriffsrouten der arabischen Armeen werden würden. Die Umsetzung des Plans war nach Morris inkohärent, es kam aber mit Sicherheit haufenweise zu Vertreibungen, die allerdings ihm zufolge weniger einer zentralen Order als dem Handeln einzelner israelischer Militärs geschuldet waren. Die dezentrale Natur der Vertreibungen führte dann auch dazu, dass im Endeffekt über 150.000 Araber:innen innerhalb der Grenzen Israels verblieben.

Ob man der (sicherlich nicht ganz unparteilichen) Position von Morris folgen will oder nicht, sei dahingestellt. Seine Erklärung macht das unfassbare Leid der hunderttausenden Vertriebenen, das in der Geschichte von modernen Staatenformierungen alles andere als untypisch ist, keinen Deut weniger gravierend. Allerdings halten wir es für nicht unbedeutend, ob ein komplexer Konflikt zweier Nationalbewegungen – eine mit deutlich siedlerkolonialen, eine mit deutlich antisemitischen Komponenten – als ambivalente und komplexe Geschichte, oder als unzweideutiger Endzeitkampf gegen das absolut Böse gerahmt wird. Letztere Auffassung, die in der Linken dominiert, endet im Normalfall in der Dehumanisierung israelischer Juden und der Volksfront mit Islamisten und wird der Klassensolidarität über religiöse und ethnische Grenzen hinweg, die den ganzen Schlamassel einzig lösen könnte, sicher nicht zuarbeiten. Diesen Tendenzen zu widersprechen halten wir noch lange nicht für Parteilichkeit und wir sehen auch nicht ein, warum dadurch der Massenmord in Gaza, die zynische Besatzungs- und Siedlungspolitik im Westjordanland, der institutionalisierte anti-arabische Rassismus und verwandte Schweinereien in irgendeiner Form gerechtfertigt werden sollten.

Redaktion Communaut

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Es ist sehr zu begrüßen, dass sich die Redaktion des Communaut darum bemüht, Stimmen zur aktuellen Lage in Israel/Palästina zu verstärken, welche ein einfaches Lagerdenken überwinden wollen, und stattdessen eine internationalistisch-klassenkämpferische und antistaatliche Perspektive stark macht. Dabei wendet sich die Redaktion in einem aktuellen Statement gegen ein „Denken der Schlichtheit“. Umso erstaunlicher ist es, dass die Redaktion zur Frage der Massenvertreibung der Palästinenser*innen, der Nakba, vor und im Gefolge der Staatengründung Israels selbst eine ziemlich schlichte Version heranzieht. Zwar wird die äußert vielschichtige und kontrovers ausgetragene Debatte, die seit den 1980ern von verschiedenen linken jüdischen Historiker*innen (den sog. „Neuen Historikern)“ über die Ursachen und den Verlauf der Nakba geführt wurde, insofern aufgegriffen , als die Redaktion davon ausgeht, dass es im Rahmen der Staatsgründung überhaupt zu Vertreibungen von Palästinenser*innen kam und diese den neu gegründeten Staat nicht einfach freiwillig verlassen haben. Die Frage aber, weshalb es zu diesen kam, wird von der Redaktion hingegen sehr monokausal bearbeitet.

Wie äußert sich also die Redaktion in ihrem Vorwort, das Nuancen in die Diskussion bringen will?

„Dass etwa die massenhafte (und durch nichts zu rechtfertigende) Vertreibung von Palästinenser:innen im Jahr 1948 im Zuge eines Krieges erfolgte, der mit einem Überfall auf Israel durch seine arabischen Nachbarstaaten begann […] – das alles macht das Bild zu kompliziert fürs antikoloniale Gemüt und wird daher beschwiegen.“

Hier werden zwei korrekte historische Fakten angeführt, die angeblich in sonstigen Diskussionen nicht vorkommen würden.

1. Israel wurde direkt nach seiner Staatsgründung am 14.05.1948 von sechs arabischen Staaten angegriffen.

2. Die Vertreibung der Palästinenser*innen erfolgte größtenteils im Zuge des Krieges.

Die Redaktion schiebt zwar in Klammern ein, dass diese Vertreibung durch nichts zu rechtfertigen sei, durch die Verklammerung dieser beiden historischen Ereignisse in einem Satz, scheint aber noch etwas anderes suggeriert zu werden: Hätten die arabischen Staaten Israel nicht angegriffen, wäre es nicht zu dieser Vertreibung gekommen. Diese Vertreibung finden wir zwar irgendwie blöd, aber hätten die arabischen Brüder der Palästinenser*innen die Füße still gehalten, säßen letztere heute nicht in ihrem Schlamassel. Es waren aber nun genau die „Neuen Historiker“, die durch ihre eingehende Beschäftigung mit dem Ablauf der Vertreibungen sowie ihrer Vorgeschichte ein wesentlich vielschichtigeres Bild der Nakba und ihrer Ursachen zeichneten, als es dieses einfache Ursache-Reaktion Schema der Redaktion suggeriert. Nun muss man nicht soweit gehen, wie Ilan Papé, der in „The ethnic cleansing of Palestine (2006) von einer systematisch betriebenen und vorab geplanten Vertreibung der Palästinener*innen durch den neu gegründeten Staat ausgeht, auch wesentlich moderatere und ausgewogenere Stimmen wie die von Benny Morris zeigen in ihren Arbeiten auf, dass diese Vertreibungen nicht erst durch den Krieg ausgelöst, sondern durchaus vorab einkalkuliert waren:

By 1948, transfer was in the air. The transfer thinking that preceded the war contributed to the denouement by conditioning the Jewish population, political parties, military organisations and military and civilian leaderships for what transpired. Thinking about the possibilities of transfer in the 1930s and 1940s had prepared and conditioned hearts and minds for its implementation in the course of 1948 so that, as it occurred, few voiced protest or doubt; it was accepted as inevitable and natural by the bulk of the Jewish population.” Benny Morris, The Birth of the Palestinian Refugee Problem Revisited, Cambridge 2004, S. 60.

Nun ist es natürlich nicht die Aufgabe eines Vorworts, diese Debatten eingehend zu rekonstruieren und zu diskutieren, dass diese aber einfach ignoriert und stattdessen einfach ein Narrativ bedient wird, auf das man hierzulande von „Der Welt“ bis zur „Jungle World“, sowieso bereits in allen Medien stößt, das scheint mir für ein um Differenzierung bemühtes kommunistischen Medium nicht angemessen. Ähnlich sieht es mit der Darstellung der Lage der palästinensischen Flüchtlingen in den umliegenden Ländern, sowieso der Klassifizierung der Forderung nach einem Recht auf Rückkehr als „völkisch“ aus. Auch hier werden komplexe Zusammenhänge auf einfache, propagandistische Schlagworte zusammengeschmort.

Giulio

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Hi,

Danke für den Text. Ich finde vieles richtig, aber zwei Anmerkungen zu dem Text und der Einleitung kann ich mir nicht verkneifen.

  1.    Die Darstellung des israelischen Unabhängigkeitskriegs stimmt historisch nicht und die Schlüsse, die daraus für das Recht auf Rückkehr gezogen werden, sind für mich nicht nachvollziehbar. Es wird behauptet, "dass etwa die massenhafte (und durch nichts zu rechtfertigende) Vertreibung von Palästinenser:innen im Jahr 1948 im Zuge eines Krieges erfolgte, der mit einem Überfall auf Israel durch seine arabischen Nachbarstaaten begann". Vor dem Überfall der arabischen (nicht nur Nachbars-)staaten gab es aber schon einen Bürgerkrieg in Palästina. Warum wird dieser einfach übergangen? Die Massaker und Vertreibungen von Palästinensern begannen schon vor der Unabhängigkeitserklärung, die dann zum Angriff der arabischen Staaten führte. Die Vertreibungen waren von vornherein von der Führung des Jischuw geplant ("Plan Dalet"), schließlich wäre ein Staat mit jüdischer Mehrheit nicht anders zu erreichen. Die arabischen Staaten haben dann ihren Angriff unter anderem mit den Massakern und Vertreibungen gerechtfertigt.

Trotz der Beteuerung zum Gegenteil wirkt es auf mich dann doch so, dass die Nakba hier zumindest im Ansatz gerechtfertigt werden soll. Anders kann ich nicht nachvollziehen, wie man vom arabischen Angriff auf Israel darauf schließt, dass die linke Forderung nach einem Recht auf Rückkehr nicht nur falsch, sondern gleich "völkisch" ist. Weil die arabischen Staaten Israel angegriffen haben, sollen die Enkel der 1948 Vertriebenen nicht nach Israel dürfen? Diese Logik erschließt sich mir nicht. Es stimmt, dass an der fortwährenden Recht- und Staatenlosigkeit von mehreren Millionen Palästinensern auch die arabischen Staaten schuld sind, da sie ihnen die Integration verweigert haben. Einerseits ist aber der Ausgangspunkt dieser Problematik die Vertreibung durch Israel bzw. den zionistischen Milizen vor der Staatsgründung und andererseits lebt die Vertriebenen der Nachfahren der Vertriebenen in den seit 1967 besetzten Gebieten. Da finde ich es nicht so absurd oder gar völkisch, zu fordern, dass Israel das Problem zu lösen hat. Für die meisten Staaten gilt, dass man die Staatsbürgerschaft auch im Ausland weitervererben kann. Warum ist es völkisch, ein analoges Recht für Palästinenser einzufordern? Grundsätzlich ist das Recht auf Rückkehr nur so ein Reizthema, wenn einem der Fortbestand von Israel als Ethnostaat, der auf eine jüdische Mehrheit angewiesen ist, am Herzen liegt und das finde ich deutlich merkwürdiger als die Einforderung eines Rechts auf Rückkehr.

2.    Es stimmt, dass die Möglichkeiten nationaler Befreiung heute deutlich schlechter sind als noch vor ein paar Jahrzehnten: Das Versprechen nationaler Befreiung war auch immer mit nachholender Entwicklung, Staatssozialismus, etc. verbunden. Aber man sollte sich die konkreten Fälle auch konkret anschauen. IP behauptet, ein souveränes Palästina oder ein binationaler Staat auf dem Gebiet wäre notwendigerweise ein islamistischer Apartheidstaat wäre. Das ist möglich, denn schließlich übt die Hamas die Kontrolle im Gazastreifen aus und ist der Islamismus weltweit im Aufwind, aber letztlich ist es Spekulation, da Palästina mehr als der Gazastreifen ist und ein Ende der Besatzung und Belagerung die politischen Karten gründlich neu mischen würde. Mehr als Spekulation sind die Grausamkeiten der Besatzung, denen das Ende der Besatzung und Belagerung, sprich die nationale Befreiung, ein Ende setzen könnte. In der aktuellen Situation dem einen oder anderen Akteur Ratschläge zu erteilen oder Forderungen an ihn zu richten, ist, wie die Einleitung andeutet, schwierig: Minimalstandards für ein Ausweg aus der Katastrophe für einen halbwegs humanen Ausweg aus der Katastrophe wären das Ende des Krieges, der Besatzung und der Belagerung und die Entmachtung der Hamas, aber all das wirkt aktuell so illusorisch wie die Weltrevolution. Da finde ich es schwer zu sagen, ob die Aufforderung auf den Kampf um demokratische Rechte gegen die Besatzung zu verzichten und stattdessen zum antinationalen Klassenkampf überzugehen richtig oder falsch finde. Für letzteren könnten die Bedingungen kaum schlechter sein. Neben der Unterdrückung von Palästinensern entlang ethnisch-nationaler Linien, die einen antinationalen Kampf zumindest nicht nahelegt, und dem beidseitigen nationalistischen Hass wäre zu bedenken, dass der Klassenkampf immer davon Gebrauch macht, dass das Kapital auf das Proletariat angewiesen ist. Das ist bei Millionen von Surplusproletariern in aller Welt nicht der Fall und bei den Palästinenserinnen erst recht nicht. Sie sind nicht nur für das Kapital uninteressant sind, sondern ihre bloße Existenz ist ein geopolitisches Problem für eine ganze Reihe von Staaten. Mir ist nicht klar, welche Formen von Klassenkampf da überhaupt in Frage kommen, vielleicht noch Verteilungskämpfe um internationale Hilfsgelder.

Ein Berliner Genosse

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Den IP-Text finde ich richtig gut; der Vorspann hat für mein Empfinden ein wenig Schlagseite: Während bei der palästinensischen Malaise ziemlich grundlegende, fast ins Strukturelle reichende Faktoren/Umstände genannt werden (Krieg 1948, Flüchtlingslager, Rückkehrproblematik), wirken die israelischen Verfehlungen eher politisch akzidentiell hinsichtlich der Siedler:innen oder der rechtsextremen Regierung (autoritärer Staatsumbau, Siedler:innengewalt) - die ethnonationalistische Staatsideologie, die ja auch Leute wie Rabin oder Gantz teilen oder geteilt haben und die die ganze Gesellschaftsarchitektur im Inneren und die unmittelbare Außenpolitik prägt, kommt nicht zur Sprache, und für mein Empfinden dann doch zu wenig die ungeheuerliche Desertifikation durch die Bombardierung (https://www.latimes.com/opinion/story/2023-11-19/israel-hostages-gaza-bombing-civilians-genocide-holocaust-studies), flankiert durch die Deportationsvorschläge von mittlerweile diversen Regierungsstellen, die - auch wenn es vermutlich keinen "Genozid" oder eine große Vertreibung à la Nakba geben wird - doch dazu führen wird, dass Gaza auf Jahre in Teilen kaum mehr bewohnbar ist, und das ist dann wohl schon strategisches Ziel und nicht nur Kollateralschaden.

Einer von den Freundinnen