«Das Endziel ist mir nichts, die Bewegung alles»
Der Revisionismusstreit in der deutsche Sozialdemokratie
Mit der Verabschiedung des Erfurter Programms1 im Jahr 1891 stellte sich die SPD als erste der sozialistischen Parteien der II. Internationale auf ein marxistisches Fundament. War die Programmatik der Sozialdemokratie in den vorangegangenen Jahrzehnten noch stark durch die Einflüsse nichtmarxistischer Strömungen geprägt, so schien sich spätestens 1891 der marxistische Flügel durchgesetzt zu haben. So heißt es ganz im Stile des Kommunistischen Manifestes im dritten Absatz des Programms:
„Immer größer wird die Zahl der Proletarier, immer massenhafter die Armee der überschüssigen Arbeiter, immer schroffer der Gegensatz zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten, immer erbitterter der Klassenkampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat, der die moderne Gesellschaft in zwei feindliche Heerlager trennt und das gemeinsame Merkmal aller Industrieländer ist.“
Doch liest man weiter, so stößt man bald auf einen Bruch: Auf die marxistischen Grundsätze folgen realpolitische Forderungen und direkte Reformvorschläge, die zunächst stark republikanischen Charakter haben und zuletzt auf die Verbesserung des Arbeitsschutzes abzielen. Wir finden eine ausformulierte Praxis zur marxistischen Theorie: revolutionäre Realpolitik. Diese Verbindung war einerseits bahnbrechend, das Programm galt als das konsequenteste und wissenschaftlich fundierteste Programm der II. Internationale und ist Vorbild zahlreicher anderer Programme gewesen, zugleich sollte aber auch im Laufe der Jahre die Spannung zwischen Revolutionstheorie und Realpolitik, Theorie und Praxis immer größer werden. Eingang in die Geschichtsbücher fand die erste große Spannungsentladung als Revisionismusstreit. Der prominenteste Kopf des Revisionismus war Eduard Bernstein. Er stellte sich in den 1890er Jahren auf die Füße des Reformismus und griff den Kopf der revolutionären Theorie an. Er konnte ihn zwar nicht sofort enthaupten, doch sein Revisionismus war theoretischer Ausdruck eines weit über seine Person hinausgehenden Bruches der sozialdemokratischen Praxis mit ihren revolutionären Köpfen. Eine Reduktion der Debatte auf den Namen Bernstein, auf sein individuelles revisionistisches „Frevlertum“ wird dem Streit daher nicht gerecht bzw. verkennt erstens die wesentlichen Fragen, die die Debatte aufwarf, wie auch zweitens ihre historischen Hintergründe. Verlässt man den Rahmen der Orthodoxie, der der Revisionismus bald als reiner Kampfbegriff diente, so wirft der Streit zentrale Fragen zum Verhältnis von revolutionärer Theorie und Praxis auf, die bis heute auf Antworten warten.
Im Zentrum der Debatte stand die Frage, ob der Sozialismus unvermeidlich ist bzw. ob sich die Gesellschaft, entgegen der Vorhersage der revolutionären Theorie, auch ohne Revolution in eine sozialistische verwandeln kann. Auf der einen Seite standen die MarxistInnen um Karl Kautsky und Rosa Luxemburg, auf der anderen Seite Eduard Bernstein und Teile der, v.a. süddeutschen, sozialdemokratischen Basis. Im Schlusskapitel seines berühmten Aufsatzes Die Voraussetzungen des Sozialismus von 1899 schreibt Bernstein über die Vorzüge sozialpolitischer Reformen:
„Die verfassungsmäßige Gesetzgebung arbeitet in dieser Hinsicht in der Regel langsamer. Ihr Weg ist gewöhnlich der des Kompromisses, nicht der Abschaffung, sondern der Abfindung erworbener Rechte. Aber sie ist da stärker als die Revolution, wo das Vorurtheil, der beschränkte Horizont der großen Massen dem sozialen Fortschritt hindernd in den Weg tritt, und sie bietet da die größeren Vorzüge, wo es sich um die Schaffung dauernd lebensfähiger ökonomischer Einrichtungen handelt, mit anderen Worten für die positive sozialpolitische Arbeit"2
Der Streit um die Frage von Kompromiss oder Abschaffung hatte eine oft unterschätzte geographische Dimension. Während das orthodoxe Zentrum aus dem preußischen Norden kam, entwickelte sich die reformistische Basis des Revisionismus in den süddeutschen Staaten, d.h. in Bayern, Baden und Württemberg. Will man den Konflikt um Reform oder Revolution verstehen, der häufig als eine rein theoretische Differenz gedeutet wird, sind die politischen wie ökonomischen Unterschiede zwischen Nord und Süd genauer zu betrachten. Erst vor diesem Hintergrund nehmen die vordergründig theoretischen Fraktionen lebendige Gestalt an.
Der orthodoxe Marxismus mit seiner ständig wachsenden proletarischen Basis und seiner Politik der Fundamentalopposition war ein Kind der preußischen Verhältnisse. Im Gebiet Preußens schienen die ökonomischen Prozesse den Theorien Kaustkys zu folgen: sie ließen das Proletariat anwachsen, das sich bald „gegen die kapitalistische Ausbeutung zur Wehr setzt, sich gewerkschaftlich, genossenschaftlich und politisch organisiert, bessere Arbeits- und Lebensbedigungen und größeren politischen Einfluss zu erringen sucht"3. Diese „Vorbereitung des Sozialismus durch die Kapitalkonzentration“4 vollzog sich in den Zentren der wachsenden großen Industrie, d.h. im Ruhrgebiet, in Mitteldeutschland, in Hamburg oder in Berlin. Hier entstand das idealtypische Proletariat, als dessen Organisation und Weltanschauung sich die Sozialdemokratie anbot. Zugleich wurde die Bauernschaft und ihre Ideologie dezimiert bzw. proletarisiert. Bereits im Jahr 1865, während der ersten Phase der deutschen Industrialisierung, beschäftigte Preußen zwei Drittel aller Industriearbeiter, betrug sein Anteil an der Kohleförderung und Eisenherstellung neun Zehntel und waren hier zwei Drittel aller Dampfmaschinen eingesetzt. Zugleich hatte der Grad der Mechanisierung der deutschen Industrie dank der preußischen industriellen Aufrüstung die französische bereits überholt. Im Jahr 1907 zählte Preußen fast 3 250 000 Industriearbeiter, während die sechs anderen Staaten lediglich auf 1 570 000 Proletarier kamen. Zugleich war Preußen bereits sehr früh die am stärksten urbanisierte Region.
Diese Industrialisierung, die der Sozialdemokratie und ihrer Weltanschauung erst eine Basis schuf, wurde durch den preußischen Obrigkeitsstaat jedoch mit eiserner Hand durchgeführt und war eingebettet in ein autoritäres politisches System, in welchem das Ancien Regime und das deutsche Kapital eine Allianz eingingen. So modernisierten z.B. in den agrarisch geprägten Ostgebieten Preußens die erzreaktionären Junker ihre ökonomische Basis und vollzogen den Übergang von herrschaftlicher zu kapitalistischer Landwirtschaft. Hierdurch wurde ein Großteil der Bauernschaft zwar proletarisiert, doch das junge preußische Landproletariat musste seine Arbeitskraft unter einer feudalen Gesindeordnung verkaufen, die u.a. Einkerkerung als Strafe für Streiks vorsah und die persönliche Freizügigkeit massiv einschränkte.5 Zugleich gehörte das preußische Dreiklassen-Wahlrecht zu den am wenigsten durchlässigsten Systemen des Deutschen Reiches und die Wahlen fanden öffentlich und nicht geheim statt. Gegen dieses extrem repressive und undurchlässige politische System konnte die Sozialdemokratie nur in Fundamentalopposition gehen, die Wilhelm Liebknecht mit der Parole „Diesem System keinen Mann und keinen Groschen!“6 zum Ausdruck brachte. Diese Opposition drückte sich v.a. in der strikten Ablehnung der Staatsbudgets aus, die bald zu Konflikten zwischen der preußischen und den süddeutschen Fraktionen führen sollte.
Die deutsche Bourgeoisie, die v.a. im Ruhrgebiet bald ein eigenständiger Machtfaktor war, unterwarf sich spätestens nach dem deutsch-französischem Krieg vollständig dem preußischen Absolutismus und seinem illiberalen Herrschaftssystem. In dieser Gleichzeitigkeit von Feudal- und Kapitalherrschaft stellte Preußen ein dem Geschichtsverlauf scheinbar widersprechendes Monstrum dar, das auch Marx in begriffliche Nöte brachte. So sei das preußische Deutschland, wie es Marx in der Kritik des Gothaer Programms formulierte „nichts anderes als ein mit parlamentarischen Formen verbrämter, mit feudalem Besitz vermischter, schon von der Bourgeoisie beeinflusster, bürokratisch gezimmerter, polizeilich gehüteter Militärdespotismus“7. Doch im Körper dieses vielköpfigen Monstrums sollte die marxistische Sozialdemokratie ihre roten Backen bekommen.
Anders sah es in den süddeutschen Staaten aus. Hier bewegte sich die Sozialdemokratie ökonomisch wie politisch auf anderem Terrain. In dem, im Vergleich zum preußischen Norden, freundlichen Klima des Südens konnte der Revisionismus gedeihen. Am bayrischen Beispiel lässt sich dies nachvollziehen. Bayern war Ende des 19. Jahrhunderts noch primär landwirtschaftlich geprägt. Zugleich war die bayrische Landwirtschaft kein modernisiertes Latifundiensystem wie das der preußischen Junker, sondern ein Land der Kleinbauern, die das Land, das sie bewirtschafteten, auch besaßen. Diesem ökonomischen Fundament entsprechend war Bayern der ärmste der fünf größten Staaten des Deutschen Reiches mit einem pro Kopf Einkommen weit unter dem nationalen Durchschnitt. Da sich Kleinbauern für gewöhnlich nicht in Städten ansiedeln, um ihre Kartoffeln anzupflanzen, drückte sich die bayrische Misere auch im geringen Grad der Urbanisierung aus, der dem Revisionismus die Landluft zum Atmen lieferte. Die bayrische Industrie, die sich v.a. an den wenigen urbanen Ballungsräumen ansiedelte, hatte zugleich eine andere Struktur als die preußische: Die Kapitalkonzentration war weniger ausgeprägt, d.h. in Bayern fanden sich wesentlich weniger Unternehmen als in Preußen, die mehr als 1000 Arbeiter beschäftigten. Neben diese ökonomische Rückschrittlichkeit trat zugleich ein politisches System, welches weniger durch die unzeitgemäße Präsenz preußischer Junker und Militärs geprägt war, sondern seinen Charakter stärker dem Einfluss der Napoleonischen Kriege verdankte. So wurde das bayrische Versammlungs- und Vereinsrecht während des Zweiten Reichs zweimal liberalisiert, es wurde das direkte Wahlrecht eingeführt und die Repräsentation wurde an das Bevölkerungswachstum angepasst. Ähnliches gilt für die Systeme in Baden und Württemberg.
Diese Konstellation führte u.a. innerhalb der bayrischen Sozialdemokratie schnell zu einem anderen Verhältnis gegenüber staatlichen Reformen. So sprach sich der bayrische Sozialdemokrat Georg von Vollmar bereits im Jahr 1891 in seinen sogenannten „Eldorado“-Reden“ für einen Frieden mit dem bestehenden System aus:
„Es [entspricht] dem Interesse der Arbeiterbewegung und des Gemeinwesens überhaupt und ist auch dem aller Utopie und Spekulationen fernen, im besten Sinne realpolitischen Wesen unserer Partei nicht zuwider, wenn wir den Weg der Verhandlung betreten und suchen, auf Grundlage der heutigen Staats- und Gesellschaftsordnung Verbesserungen wirtschaftlicher und politischer Art herbeizuführen."8
Dieser Reformismus war jedoch keine reine Kopfgeburt eines abtrünnigen, wirren Bayerns, sondern Ausdruck der beschriebenen bayrischen bzw. süddeutschen Verhältnisse, die laut Vollmar zu einer Rekonfiguration der bayrischen Sozialdemokratie führen müssen, wie er es 1894 auf dem bayrischen Parteitag der Partei einforderte:
„Die typische Sektion der Sozialdemokratie, das Proletariat der Fabriken und der Schwerindustrie, ist in Bayern in der Minderheit; mittlere und kleine Unternehmen, aber v.a. Bauern sind hier vorherrschend. Im allgemeinen sind die sozialen Extreme bzw. der Klassenkonflikt nicht derart ausgeprägt und verschärft" 9
Er schloss seine Rede mit der Forderung nach einer Volkspartei, die nicht nur das Proletariat, sondern alle Unterdrückten repräsentieren müsse. Dies bezog sich insbesondere auf die Bauernschaft, die laut Volkmar einer stärkeren programmatischen Berücksichtigung bedürfte. Diese praktischen Reformisten, zu denen man u.a. auch die Gewerkschafter rechnen muss, sind zunächst zu unterscheiden von Bernstein, dessen Revisionismus primär ein theoretischer Vorstoß innerhalb des sozialdemokratischen Zentrums war. Doch sie waren Revisionisten der Tat. So hielt der Reformist Ignaz Auer dem theoretischen Revisionismus vor: „Mein lieber Ede, das, was Du verlangst, so etwas beschließt man nicht, so etwas sagt man nicht, so etwas tut man“10
Der Revisionismus bzw. Reformismus wurde nicht nur durch die geographische Ungleichzeitigkeit des deutschen Kaiserreichs begünstigt, es sind noch zwei weitere wesentliche Faktoren zu nennen, die Zweifel am Projekt der sozialistischen Revolution beförderten: die Rolle des Bürgertums in Deutschland, sowie die unerwartete Dynamik der kapitalistischen Ökonomie zu Beginn des 20. Jahrhunderts.
Nach der Niederlage der schwachen liberal-republikanischen Bewegung im Jahr 1848 übernahm die deutsche Sozialdemokratie im Grunde auch die politischen Aufgaben des Bürgertums. Das deutsche Bürgertum verabschiedete sich von seinen politischen Aufgabe des republikanischen Kampfes und ging stattdessen das Bündnis mit dem Obrigkeitsstaat ein. Der preußische Absolutismus dankte dies seiner Bourgeoisie mit rücksichtsloser Industrialisierung und Unterdrückung der Arbeiterbewegung. So kämpfte die Sozialdemokratie ab 1871 gegen die preußische Monarchie, die in einer Allianz von Großgrundbesitzern und großem Kapital die nationale Einheit „von oben“ durchsetzte. Dieser sozialdemokratische Republikanismus drückt sich im Erfurter Programm von 1891 aus.11 Im zweiten realpolitischen Teil des Programms findet man nicht nur Forderungen das Arbeitsrecht betreffend, sondern auch klassisch republikanische Abschnitte. Es werden das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht, die Trennung von Staat und Religion, Meinungs- und Versammlungsfreiheit sowie die geschlechtliche Gleichstellung gefordert. Dieser Republikanismus hat insbesondere radikaldemokratische Intellektuelle aus dem Bürgertum in die Sozialdemokratie strömen lassen, die jedoch „ihre Klassenvorurteile keineswegs vollkommen aufgegeben hatten und in der Partei eine dementsprechende Politik verfolgten.“12
Der letzte zu nennende Faktor, der die Abwendung von einer bestimmten Theorie der Revolution begünstigte, war die unerwartete Entwicklung der kapitalistischen Ökonomie am Ende des 19. Jahrhunderts. Eine erneute Hochkonjunktur an 1895 markierte das Ende des laissez faire Kapitalismus und deutete auf neue Konfigurationen innerhalb der kapitalistischen Produktionsverhältnisse hin. Während der Großen Depression, die ab 1873 knapp 20 Jahre andauern sollte, fanden sich viele grundlegende Kategorien der Marxschen Kritik bewahrheitet: tendenzieller Fall der Profitrate als Folge der erhöhten organischen Zusammensetzung des Kapitals, Stillstand und Sättigung der Investitionsmöglichkeiten, entfesselte Konkurrenz, die einen Preissturz verursachte. Doch vor allem war die Wiederkehr der Krise stete Quelle der Hoffnung auf die baldige und unvermeidliche sozialistische Revolution. Laut Engels stellte die Krise von 1873 nur den Beginn einer „dauerhaften“ und „chronischen“ Krise des Kapitalismus dar, die die soziale Revolution unvermeidbar mache und im vierten Absatz des Erfurter Programms heißt es folgendermaßen:
„Der Abgrund zwischen Besitzenden und Besitzlosen wird noch erweitert durch die im Wesen der kapitalistischen Produktionsweise begründeten Krisen, die immer umfangreicher und verheerender werden, die allgemeine Unsicherheit zum Normalzustand der Gesellschaft erheben und den Beweis liefern, dass die Produktivkräfte der heutigen Gesellschaft über den Kopf gewachsen sind."13
Die lange Depression sollte sich jedoch als weder chronisch noch revolutionär erweisen. Stattdessen stand an ihrem Ende ein veränderter Kapitalismus mit unerwarteter Dynamik. So schrieb Kautsky im Jahr 1935 rückblickend über diese enttäuschten Erwartungen an die Krise:
„Allerdings, wir erwarteten von der damaligen Krise noch mehr. Nicht nur das Wiedererstarken der sozialistischen Bewegung in England, sondern den Zusammenbruch des Kapitalismus in der ganzen Welt. Diese Erwartung trog. Der Kapitalismus überlebte die Krise, trotz ihrer enormen zeitlichen und räumlichen Ausdehnung und ihrer unerhörten Intensität. Eine neue Ära kapitalistischer Prosperität zog auf. Doch es war ein ganz veränderter Kapitalismus, der nun kam. Der alte war dahin" 14
Diese neue Situation erkannte Bernstein vor allen anderen und zog daraus seine umstrittenen Schlüsse.
Anders als die genannten Reformisten an der sozialdemokratischen Basis gehörte Eduard Bernstein zum preußischen Kopf des marxistischen Zentrums. Laut Kautsky soll Engels ihn und Bernstein als die „zuverlässigsten Vertreter der Marxschen Theorie“15 betrachtet haben. In dieser Funktion als wichtiger Theoretiker der Partei ging es ihm darum, die Theorie der veränderten Praxis anzupassen. So schreibt er im Jahr 1899 an Viktor Adler: „Die [marxistische] Doktrin ist mir nicht realistisch genug, sie ist sozusagen hinter der praktischen Entwicklung der Bewegung zurückgeblieben“16 Um den Marxismus der Partei an die veränderte Realität anzupassen, verfasst er zwischen 1896 und 1898 die Artikelserie Probleme des Sozialismus, die eine Revision der revolutionären Theorie der Partei darstellt. Einige seiner zentralen Grundgedanken sollen im Folgenden dargestellt werden.
Die Bernsteinsche Revision der Theorie zielt in erster Linie auf die innerhalb des Marxismus der II. Internationale kanonisierte Annahme ab, die ökonomischen Gesetze des Kapitalismus würden irgendwann zwangsläufig Verhältnisse schaffen, die Revolution und Sozialismus quasi unvermeidlich machen würden. Quelle dieses historischen Optimismus sind die berühmten drei Seiten aus dem Kapital über „die geschichtliche Tendenz der kapitalistischen Akkumulation“. Obwohl der historische Prozess von Marx in der Überschrift als Tendenz bestimmt wird, kommt auch Marx nicht umhin, vom Sozialismus als von einer Naturnotwendigkeit zu sprechen: „Aber die kapitalistische Produktion erzeugt mit der Notwendigkeit eines Naturprozesses ihre eigne Negation. Es ist Negation der Negation.“17 Dieser Naturprozess, der in der proletarischen Aneignung der Produktion mündet, besteht aus zwei wesentlichen Vorgängen: 1. sorgt die kapitalistische Konkurrenz für immer weniger Einzelkapitalisten: „Je ein Kapitalist schlägt viele tot“18. Zuletzt steht daher ein zentralisiertes Kapital einer immer größeren Masse an Proletarier:innen gegenüber. Diese Zentralisierung und Proletarisierung sorgen zugleich 2. für ein massives Anwachsen der Kooperation innerhalb der großen Industrie. Da nun jedoch immer mehr Proletarier in immer größeres Elend geworfen sind, muss es bald zum großen Knall kommen: „Die Zentralisation der Produktionsmittel und die Vergesellschaftung der Arbeit erreichen einen Punkt, wo sie unverträglich werden mit ihrer kapitalistischen Hülle. Sie wird gesprengt. Die Stunde des kapitalistischen Privateigentums schlägt. Die Expropriateurs werden expropriiert.“19 Diese Tendenz wird in der Theorie des marxistischen Zentrum zum Ursprung aller revolutionärer Hoffnung. Im Erfurter Programm lässt sich nachlesen, „dass das Privateigentum an Produktionsmitteln unvereinbar geworden ist mit deren zweckentsprechender Anwendung“ und Kautsky schreibt in seinen Erläuterungen dazu:
„Wir halten den Zusammenbruch der heutigen Gesellschaft für unvermeidlich, weil wir wissen, dass die ökonomische Entwicklung mit Naturnotwendigkeit Zustände erzeugt, welche die Ausgebeuteten zwingen, gegen dies Privateigentum anzukämpfen; dass sie die Zahl und Kraft der Ausgebeuteten vermehrt und die Zahl und Kraft der Ausbeuter verringert"20
Da die Menschen jedoch einen Lebenswillen besitzen, muss das Proletariat irgendwann zu einer politischen Kraft werden, um diese Zustände zu bekämpfen und umzustoßen: „Wenn nicht der Urgrund aller ökonomischer Notwendigkeit, der Wille zu leben, in den Arbeitern aufs kraftvollste wirkte, […] dann wäre all unser Streben vergeblich.“21 Erst der Kampf zwischen proletarischen Lebenswillen und Kapital, der sich aufgrund der ökonomischen Prozesse zuspitzen muss, schaffe die Voraussetzungen für den Sozialismus.
Bernstein griff mit seiner Artikelserie dieses theoretische Fundament an bzw. unterzog die Annahmen der Orthodoxie einer Prüfung. Sowohl hinsichtlich der Kapitalkonzentration als auch des Klassenbewusstseins kommt Bernstein zu dem Schluss, dass die Voraussetzungen des Sozialismus nicht durch die kapitalistische Dynamik hergestellt wurden. So stellt sich die zentralisierte Betriebsform „selbst in den fortgeschrittensten Ländern Europas [erst als ein] partielles Faktum“22 dar. Die feststellbare Zersplitterung der Produktion stelle nun ein erhebliches Problem dar, wolle man diese als sozialistische Zentralregierung steuern. Man könne daher kaum auf die Sachkenntnis der zersplitterten Unternehmer verzichten bzw. diese auf einen Schlag enteignen. Als zweite prekäre Vorbedingung des Sozialismus macht der Revisionist die Zusammensetzung bzw. das Bewusstsein des Proletariats aus. Der Zersplitterung der Produktion folge auch die des Proletariats und selbst innerhalb der minoritären großen Industrie hat man es mit „differenzierten Arbeitern [zu tun], zwischen deren Gruppen nur ein mäßiges Solidaritätsgefühl bestehe“23 Zugleich haben die meisten an der Sozialdemokratie interessierten Arbeiter:innen weniger ein Interesse am sozialistischen Endziel der Partei, sondern v.a. an potentiellen Verbesserungen ihres Lebens, während mehr als die Hälfte der Arbeiterschaft Partei und Sozialismus sogar gleichgültig bis verständnislos gegenüberstehe.
Der Kapitalismus schaffe durch die ihm immanente krisenhafte Dynamik folglich nicht seine eigenen Totengräber, sondern sei umgekehrt vielmehr als ein System zu bestimmen, welches durchaus zur Selbstregulierung fähig sei. Kartelle, das Kreditsystem, Aktiengesellschaften, verbesserte Verkehrsbedingungen oder die Abmilderung der sozialen Widersprüche durch das Aufstreben der Arbeiterklasse sichern dem Kapitalismus die Möglichkeit des unbegrenzten Überdauerns. So sieht Bernstein in langsamen und bedachten Reformen den Schlüssel zur Verbesserung der Gesellschaft – ein Bruch mit dem revolutionären Bruch: „In einem guten Fabrikgesetz kann mehr Sozialismus stecken als in der Verstaatlichung einer ganzen Reihe von Fabriken. Ich gestehe offen, ich habe für das, was man gemeinhin unter 'Endziel des Sozialismus' versteht, außerordentlich wenig Sinn und Interesse. Dieses Ziel, was immer es sei, ist mir gar nichts, die Bewegung alles“24 In der Ausdehnung des Arbeitsrechts oder der gewerkschaftlichen Interessenvertretung sieht Bernstein diese Bewegung in Richtung eines Sozialismus, der keine Revolution mehr als seinen Ursprung braucht. In diesem „Sozialismus“ solle nun zwar die Klassenherrschaft verschwinden, nicht jedoch die Klassengegensätze.25
Rosa Luxemburg antwortet in mehreren Artikeln auf den Revisionismus Bernsteins, die in ihrer berühmten Schrift Sozialreform oder Revolution? zusammengefasst sind. Laut Luxemburg verabschiede sich der Revisionismus vom Sozialismus als einer objektiven Notwendigkeit und mache ihn zu einem bloßen Ideal. Für Luxemburg stellt die revidierte Krisentheorie das Fundament der revolutionären Sozialdemokratie dar: „[es äußert sich] die historische Notwendigkeit der sozialistischen Umwälzung vor allem in der wachsenden Anarchie des kapitalistischen Systems, die es auch in eine ausweglose Sackgasse drängt“26. Es ist dieser Gang der kapitalistischen Entwicklung, der zugleich die Vergesellschaftung der Produktion schaffe, die sich das organisierte Proletariat bald aneignen muss, will es nicht in noch tieferem Elend versinken. Um zu beweisen, dass der Sozialismus keine Utopie, d.h. kein bloßer Sprößling des Gedankens, sondern ein Kind der materiellen Entwicklung ist, greift Luxemburg die Bernsteinschen Thesen der Anpassungsfähigkeit des Kapitalismus an. Die Kredite und die Kartelle, die Bernstein als kapitalistische Stabilisatoren ausmacht, sind laut Luxemburg als Erscheinungen zu beurteilen, „die in letzter Linie die Anarchie der kapitalistischen Welt nur noch vergrößern und alle ihre inneren Widersprüche zum Ausdruck und zur Reife bringen“27 Sowenig wie das Kreditwesen den Kapitalismus in ein Stadium der Krisenfreiheit überführt, sowenig dürfe die staatliche Regulierung der Produktion mit gesellschaftlicher Kontrolle verwechselt werden. Sie sei, unter kapitalistischen Bedingungen, lediglich Klassenpolitik zum Zwecke der besseren Organisierung der Produktion.
Die Anpassungsmittel des Kapitalismus sowie das Anwachsen der Arbeiter:innenbewegung führen im Bernsteinschen Denken zu einem Sozialismus ohne Revolution. Stattdessen werde die neue Gesellschaft in einer langsamen und wohlüberlegten Bewegung zur richtigen Zeit eingeführt. Doch ohne Revolution müsse die alte Gesellschaft bis in alle Ewigkeiten fortvegetieren, so Luxemburg. Der Reformarbeit seien enge Grenzen gesetzt durch eine ihr vorangegangene revolutionäre Umwälzung und erst eine neue Revolution kann diese senil gewordenen verfassungsmäßigen Fundamente umwerfen und neue soziale Qualitäten schaffen. Ohne Revolution keine neue Ordnung: „Die gesetzliche Reformarbeit hat eben in sich keine eigene, von der Revolution unabhängige Triebkraft, sie bewegt sich in jeder Geschichtsperiode nur auf der Linie und solange, als ihr durch die letzte Umwälzung gegebene Fußtritt nachwirkt, oder, konkret gesprochen, nur im Rahmen der durch die letzte Umwälzung in die Welt gesetzte Gesellschaftsform“28 Zugleich stelle uns die kapitalistische Gesellschaft vor ein ihr eigenes politisches Problem: Das Lohnverhältnis ist keine rechtliche, sondern ökonomische Herrschaft. „Wie also die Lohnsklaverei auf gesetzlichem Wege stufenweise aufheben, wenn sie in den Gesetzen gar nicht ausgedrückt ist?“29 Die Revision des sozialistischen Endziels, der proletarischen Revolution, müsse laut Luxemburg folglich zum Bruch mit der sozialistischen Bewegung im Ganzen führen.
Im letzten Kapitel ihrer Kritik des Revisionismus schreibt Luxemburg, dass die historische Bedeutung Bernsteins darin liegt, dass nun zum ersten Mal der Versuch gewagt wurde, der opportunistischen Praxis eine theoretische Rechtfertigung zu verleihen. Dies sei zugleich jedoch auch der letzte Versuch gewesen, die reformistische Praxis zu theoretisieren, da „der Opportunismus sprach, um zu zeigen, dass er nichts zu sagen hat“30. In der Tat hatte der Opportunismus nicht viel zu sagen und der reformierte Sozialismus Bernsteins konnte einer strengen marxistischen Prüfung kaum standhalten. Doch der theoretische Sieg der Orthodoxie war nicht gleichzusetzen mit der auch praktischen Vorherrschaft des revolutionären Sozialismus. Der Opportunismus gedieh vielmehr unter der Vorherrschaft der Orthodoxie. Diese stellte als Glaubenssystem vor allem die Einheit der Organisation sicher, tangierte jedoch kaum ihre Praxis. Bereits auf dem Parteikongress der SPD 1898 kam es zu einem ersten Kräftemessen der Marxisten mit dem neuen Revisionismus. Kautsky und Bebel plädierten dafür, den Kampf gegen den Revisionismus mit ideologischen Mitteln zu führen. Der Forderung Parvus und Luxemburgs nach Ausschluss der Revisionisten, wollten sie nicht folgen. Obwohl das Erfurter Programm mit überwältigender Mehrheit bestätigt und die Strategie der Marxisten auch beim Kongress der Zweiten Internationale 1904 übernommen wird, steuern die süddeutschen Landesverbände auf Konfrontationskurs. 1910 stimmten die Badener gegen den Parteibeschluss für den Landesetat. Dieses Mal erklärten sie ihren Bruch mit der Parteidisziplin frei heraus und produzierten so eine große Parteikrise. Als Vertreter der Revisionisten berief sich Ludwig Frank dabei auf die „Bewegung“ als dem höchsten Gesetz für die Sozialisten. Bebel drängte Kautsky zu einer harschen Reaktion, die die Abweichler entweder auf Linie bringen oder ihren Rückzug aus der Partei herbei führen sollte. Beim folgenden Parteikongress 1910 in Magdeburg es jedoch nur zu einer Verurteilung nicht zum Ausschluss und die Einheit mit den praktischen Revisionisten wurde trotz deren wiederholtem Verstoß gegen die Parteidisziplin einmal mehr bestätigt.31
Der Revisionismusstreit ist daher nicht zu reduzieren auf den theoretischen Sieg Luxemburgs über den Opportunismus. Er verdeutlicht vielmehr das Spannungsverhältnis von Theorie und Praxis. Georg Lukàcs schreibt in Was ist orthodoxer Marxismus? über die revolutionäre Dialektik: „sie ist ihrem Wesen nach nichts als der gedankliche Ausdruck des revolutionären Prozesses selbst.“32 Welche Form kann und muss revolutionäre Theorie nun ohne diesen revolutionären Prozess annehmen? Welche Praxis kann sich eine revolutionäre Theorie geben bzw. wie praktisch kann die Revolution in unrevolutionären Zeiten überhaupt sein? Sollte Theorie primär Einheit oder doch Klarheit schaffen? Dies sind nur einige der Fragen, die wir uns ausgehend von der Revisionismusdebatte stellen und bearbeiten können. Die kapitalistische Entwicklung tendiert erneut in Richtung des eigenen Untergangs bzw. der Barbarei, der Sozialismus müsste sich als objektiv notwendig aufdrängen, doch uns mangelt es an Einheit und Klarheit gleichermaßen.
- 1. https://www.marxists.org/deutsch/geschichte/deutsch/spd/1891/erfurt.htm
- 2. Eduard, Bernstein: Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie, 1899.
- 3. Karl, Kautsky: Die Eroberung der politischen Macht, in: Der Weg zur Macht, 1909.
- 4. Ebd.
- 5. Vgl. Perry, Anderson: Die Entstehung des absolutistischen Staates, Frankfurt a. M. 1979, S. 346 ff..
- 6. https://sites.google.com/site/sozialistischeklassiker2punkt0/liebknecht…
- 7. https://www.marxists.org/deutsch/archiv/marx-engels/1875/kritik
- 8. Auszüge aus der Rede: https://130jahre.bayernspd.de/dokumente/eldorado-reden-georg-von-vollma…
- 9. Gary P, Steenson: „Not One Man, Not One Penny!“ German Social Democracy, 1863 – 1914, S. 183.
- 10. Helga, Grebing: Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, München 1977, S. 116.
- 11. https://communaut.org/de/die-entwicklung-der-revolutionaeren-sozialdemo…
- 12. Reinhold, Hünlich: Karl Kautsky und der Marxismus der II. Internationale, Marburg 1981, S. 37.
- 13. https://www.marxists.org/deutsch/geschichte/deutsch/spd/1891/erfurt.htm
- 14. F. Engels Briefwechsel mit Kautsky, Die Bemerkungen von Kautsky zu den Briefen sind aus dem Jahre 1935, in: Lucio, Coletti: Bernstein und der Marxismus der Zweiten Internationale, Tübingen 1971, S. 21.
- 15. Ebd.
- 16. V. Adler: Briefwechsel mit August Bebel und Karl Kautsky, Wien 1954.
- 17. MEW 23, S. 791.
- 18. Ebd.
- 19. Ebd.
- 20. Karl Kautsky: Das Erfurter Programm in seinem grundsätzlichen Teil erläutert, 1892.
- 21. Karl, Kautsky: Der Weg zur Macht, 1909.
- 22. Eduard, Bernstein: Die Voraussetzungen des Sozialismus, 1899.
- 23. Ebd.
- 24. Eduard, Bernstein: Der Kampf der Sozialdemokratie und die Revolution der Gesellschaft, 1897.
- 25. https://www.marxists.org/deutsch/referenz/bernstein/1899/voraus/kap4.ht…
- 26. Rosa, Luxemburg: Sozialreform oder Revolution?, 1899.
- 27. Ebd.
- 28. Ebd.
- 29. Ebd.
- 30. Ebd.
- 31. Steenson 1981: 159ff.
- 32. Georg, Lukacs: Was ist orthodoxer Marxismus? In: ebd.: Geschichte und Klassenbewusstsein, Berlin 1968.
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